Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Den beiden droht neuer Ärger
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Robert Habeck trinkt erst mal einen Schnaps. Es ist der Donnerstag vergangener Woche, die Europawahl mit dem miserablen grünen Ergebnis ist erst wenige Tage her. Das will verdaut werden. Der Schnaps hier auf dem "Innovationstag Mittelstand" in Berlin scheint da gerade recht zu kommen. Er ist sogar nachhaltig, aus übrig gebliebenem Brot gebrannt. Habeck sagt: "Würde ich kaufen."
Dann muss er weiter. Er hat sowieso nur genippt. Mehr kann sich der Vizekanzler gerade nicht leisten. In den höchst komplizierten Haushaltsverhandlungen wird es rund drei Wochen vor der Deadline am 3. Juli ernst. Und dann ist da noch diese Diskussion, die ihn nun wieder überallhin verfolgt: die verflixte grüne K-Frage.
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Wird Robert Habeck der Kanzlerkandidat der Grünen für die Bundestagswahl 2025? Oder will es Annalena Baerbock doch noch mal versuchen? Stellen sie überhaupt jemanden auf fürs Kanzleramt? Und wann sollten sie sich festlegen? Diese Fragen werden bei den Grünen jetzt wieder munter diskutiert. Nur ist es nach den 11,9 Prozent bei der Europawahl noch einmal komplizierter geworden, sie zu beantworten. Es sind folgende Argumente und Positionen, die Grüne jetzt intern hin und her wenden.
1. Sollten sie überhaupt?
Schon am Wahltag zweifelte Anton Hofreiter eine Kanzlerkandidatur mit dem ihm eigenen Gespür für die knallige Schlagzeile an. Man solle nur einen Kanzlerkandidaten aufstellen, wenn eine "realistische Chance auf einen Wahlsieg" bestehe, sagte er. Dahinter steckt die Befürchtung, eine Zwölf-Prozent-Partei könne sich lächerlich machen, wenn sie diesen Anspruch formuliert. Bei den Grünen beschäftigt das nicht nur Anton Hofreiter. Wirklich entschieden in der Frage zeigt sich gerade kaum jemand.
Dabei gibt es gute Argumente für einen Kanzlerwahlkampf, die auch manche Grüne nun wieder betonen. Ein profanes, aber wichtiges: Ohne Kanzlerkandidaten werden die Grünen wohl nicht zu den TV-Triellen eingeladen. (Die dieses Mal mit einem AfD-Kandidaten zum Vierkampf werden könnten.) Wahlkampfstrategen halten diese Formate noch immer für sehr relevant, für manche Wähler gar für den einzigen ausführlicheren Kontakt mit Kandidaten und Programmen.
Was zum strategischen Argument führt: Wer keinen Kanzlerkandidaten aufstellt, gibt damit auch den Anspruch auf, Kanzlermehrheiten zu gewinnen. Oder, wie die Grünen das nennen: Auszugreifen in die Mitte des politischen Spektrums, das man in Deutschland für Kanzlermehrheiten braucht. Und damit die eigene Nische zu verlassen. Die meisten Grünen haben dieses Ziel nach wie vor.
Die schwierige Frage lautet deshalb, mit Anton Hofreiter gesprochen: Wann ist die Chance auf einen Wahlsieg realistisch? Das Problem: Eindeutig lässt sich das nicht beantworten. Als die SPD im August 2020 Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten machte, lag seine Partei mit rund 15 Prozent mehr als 20 Prozentpunkte hinter der Union und sogar knapp hinter den Grünen. Realismus wurde ihr damals nicht gerade vorgeworfen. Es war Spott, den sie abbekam. Bis zum Wahlabend.
2. Wann sollten sie?
Es erscheint zunächst unlogisch. Doch nach dem schlechten Ergebnis der Europawahl überlegen manche Grüne, früher Klarheit zu schaffen bei der K-Frage. Und nicht erst im nächsten Frühjahr. Es sind vor allem Habeck-Unterstützer, die darüber halblaut nachdenken. Dahinter steckt die Analyse, dass die Grünen zwar eigentlich pragmatisch regierten. Es aber niemand mitbekomme, weil die oft von Habeck ausgehandelten Kompromisse von anderen Grünen in Partei und Fraktion mit Detailkritik wieder zerredet würden.
Habecks Leute verbinden das deshalb mit dem Anliegen, die Grünen schlanker aufzustellen. Zumindest für den Wahlkampf mit einem kleineren Kernteam um den Vizekanzler herum. Klarer in den Entscheidungen und der Kommunikation. Mit weniger Widerspruch. Und mehr Beinfreiheit für Habeck.
Es ist nicht überraschend, dass Habeck-Skeptiker das für keine gute Idee halten. Die frühere Anti-Parteien-Partei pflegt ihre Doppelspitzen und Quoten. Beinfreiheit? Die müsse man sich erst mal verdienen, heißt es vor allem aus dem linken Parteiflügel – mit vertrauensvoller Zusammenarbeit. Und habe das Heizungsgesetz nicht gezeigt, dass es besser sein könne, wenn ein paar mehr Leute auf wichtige Vorhaben draufschauten?
Doch es wird noch komplizierter. Parteien warten eigentlich gerne so lange wie möglich, bevor sie sich auf einen Kandidaten festlegen. Denn einmal nominiert, wird er von der Öffentlichkeit neu vermessen. So zumindest das Argument. Jeder Fehler wird zum Fehler eines Politikers, der Kanzler werden will. Und auch alle Wahlen, die stattfinden, werden ihm zugeschrieben. Im Fall der Grünen und der Ostwahlen im Herbst heißt das: vermutlich weitere katastrophale Ergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Eine Entscheidung davor ist also weiterhin wenig wahrscheinlich.
3. Wer sollte?
Nur, wenn es jemand wird – wird es dann Robert Habeck oder doch Annalena Baerbock? Für Habecks Leute war die Sache eigentlich schon vor Monaten klar. Baerbock habe ihre Chance gehabt und sei gescheitert. Habeck sei der bessere Wahlkämpfer, er spreche wie niemand anderes eben jene Mitte an, die die Grünen erreichen wollen. Und als Vizekanzler führe er die Grünen in der Regierung ohnehin schon. Das hat ihm das restliche Führungspersonal tatsächlich mehrfach bestätigt, auch Baerbock selbst.
Vor einigen Wochen aber kam noch mal Bewegung in die Frage. Baerbocks Leute haben offensichtlich streuen lassen, dass die Sache für sie noch nicht ganz so klar sei. Sie selbst antwortete nun in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" auf die Frage, ob eine Kanzlerkandidatin Baerbock möglich sei: "Als Außenministerin habe ich gelernt, dass alles möglich ist."
Aber will sie wirklich erneut antreten? Oder nur nicht schon jetzt abgeschrieben werden? Habecks Unterstützer glaubten bisher Letzteres, sie interpretierten die Episode als Wetterleuchten. Ohne echte Gefahr für Habecks Ambitionen.
Gefahr lauert trotzdem. Nicht nur im linken Parteiflügel werfen sie Habeck vor, zu wenig dafür getan zu haben, sich die Unterstützung der Bundestagsfraktion zu sichern. Dass er Fehler gemacht hat, sehen ebenfalls die meisten so. Kommunikative Fehler, aber auch handwerkliche. Als sein früherer Staatssekretär Patrick Graichen unter Druck geriet zum Beispiel. Und natürlich beim Heizungsgesetz. Dem Projekt, das viele Menschen wie nichts anderes mit ihm verbinden.
All das wird bei der Entscheidung eine Rolle spielen. Am Ende sollen sich Baerbock und Habeck einigen, wer es macht. Das hoffen zumindest viele grüne Spitzenleute. Die Parteiführung hat zwar eine Urabstimmung der Parteimitglieder in Aussicht gestellt. Allerdings nur, falls es zwei Interessenten gibt. Es ist also eher ein Druckmittel, sich vorher zu einigen. Einen konfliktreichen parteiinternen Wahlkampf will nun wirklich niemand. Ärger haben die Grünen genug.
Gewalt und Hass machen keine EM-Pause
Es ist Fußball-EM in Deutschland, Fans aus vielen Ländern feiern, tolle Bilder. Straßen voller tanzender Niederländer und dudelsackspielender Schotten. Doch in die bisher weitgehend friedlichen Feiern mischen sich am ersten Wochenende auch hässliche Nachrichten. Schlimme Nachrichten.
In Hamburg kam es am Sonntag zu einer bedrohlichen Situation. Ein 39 Jahre alter Deutscher ging auf der Reeperbahn mit einem Schieferhammer und einem Brandsatz auf Menschen los. Die Polizei musste ihm ins Bein schießen. Außer dem Mann wurde wohl niemand verletzt. Ein Glück, denn kurz zuvor waren niederländische Fans durch die Stadt gezogen.
Am Freitag ging es in Sachsen-Anhalt nicht so glimpflich aus. Ein 27 Jahre alter Afghane tötete zunächst einen 23-jährigen Landsmann, zog dann weiter auf eine private EM-Feier und verletzte dort drei Menschen zum Teil schwer mit einem Messer. Kurz nach Anpfiff des Eröffnungsspiels Deutschland gegen Schottland. Furchtbar.
Und auch das passiert in Deutschland während der EM: In Bremen zeigte ein 29-Jähriger laut Polizei auf einer Fanmeile beim Eröffnungsspiel den Hitlergruß, skandierte "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" und ließ sich dabei filmen. In Warnemünde beobachteten Polizisten eine 15-Jährige beim Skandieren rassistischer Sprüche, als die Beamten eingriffen, wurden sie angegriffen. Im Saarland löste rechtsextremes Gegröle gleich zwei Polizeieinsätze aus.
Weitere rassistische Vorfälle gab es in Mecklenburg-Vorpommern: In Grevesmühlen sollen Jugendliche am Freitagabend zwei Mädchen aus Ghana im Alter von acht und zehn Jahren sowie ihre Eltern angegriffen haben. In Penkun sollen mehrere Personen in der Nacht zum Samstag auf einer Festwiese rassistische Parolen gegrölt und einen 24-Jährigen im Gesicht verletzt haben. Und in Schwerin ließen sich laut Polizei am Samstagnachmittag 20 Männer auf der Schlossbrücke dabei filmen, wie sie den Hitlergruß zeigten.
Termine des Tages
Macht es Ursula von der Leyen noch einmal? Die Staats- und Regierungschefs der EU treffen sich in Brüssel zu einem Sondergipfel, um über das Spitzenpersonal zu beraten. Die bisherige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hofft auf Unterstützung für eine zweite Amtszeit. Als möglicher Vorsitzender des Europäischen Rates wird der frühere portugiesische Regierungschef António Costa gehandelt. Als neue EU-Außenbeauftragte ist die estnische Regierungschefin Kaja Kallas im Gespräch.
So steht es um unser Bildungssystem: In Berlin wird der Nationale Bildungsbericht vorgestellt. Das umfangreiche Werk gibt zum Beispiel Antworten auf Fragen nach der Personallage an den Schulen, der Entwicklung der Kitas und der Zahl der Schulabbrecher.
Gedenken an den Volksaufstand: Die Bundesregierung und das Land Berlin erinnern an den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953. Zur Gedenkveranstaltung wird neben dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) erwartet.
Heute bei der Fußball-EM: In der Gruppe E spielt um 15 Uhr Rumänien gegen die Ukraine, um 18 Uhr Belgien gegen die Slowakei. Um 21 Uhr trifft in der Gruppe D Österreich auf Frankreich. Alle Infos zur EM finden Sie auf unserer Sonderseite.
Historisches Bild
1967 heiratete Elvis Presley. Das Ereignis begründete einen Trend in Las Vegas. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Deutschland ist ein geeintes Land, doch der Osten unterscheidet sich erheblich vom Westen. Wie gespalten ist die Nation und woran liegt das? Darüber haben meine Kollegen Marc von Lüpke und Florian Schmidt mit dem Soziologen Steffen Mau gesprochen.
Das politische Klima in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wird vor den Landtagswahlen hitzig. Die CDU ringt um Antworten. Die Stärke der AfD zwingt sie zu neuen Strategien – und womöglich auch Bündnissen, schreibt Chefreporterin Sara Sievert.
Das DFB-Team erlebte gegen Schottland einen Auftakt nach Maß. Mit gelungenen Kniffen hat sich der Bundestrainer einen Vertrauensvorschuss erarbeitet, kommentiert Kollege Noah Platschko.
Russland ist reich an Folklore, besonders an Märchen und Sagen. Um das Land zu verstehen, sollte man sich genau diese Märchen näher anschauen, meint unser Kolumnist Wladimir Kaminer.
Zum Schluss
Am Dienstag schreibt Ihnen wieder Chefredakteur Florian Harms. Bis dahin wünsche ich Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr Johannes Bebermeier
Leitender Reporter Politik
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Mit Material von dpa.
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