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"AfD deutlich gefährlicher": Soziologe Mau zu Ost-West-Unterschieden


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Soziologe Steffen Mau
"Besser, wenn es nicht dazu kommt"


17.06.2024Lesedauer: 10 Min.
Demonstration 2022 in Berlin: Die AfD ist in Teilen Ostdeutschlands auf dem Weg zur Volkspartei, sagt Steffen Mau.Vergrößern des Bildes
Demonstration 2022 in Berlin: Die AfD ist in Teilen Ostdeutschlands auf dem Weg zur Volkspartei, sagt Steffen Mau. (Quelle: CHRISTIAN MANG/reuters)
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Deutschland ist vereint, aber Ost und West unterscheiden sich erheblich. Das zeigt auch der Erfolg der AfD bei der Europawahl. Woran liegt das und wie gespalten ist das Land? Der Soziologe Steffen Mau beantwortet diese Fragen.

Seit Jahrzehnten gibt es ein geeintes Deutschland, doch ähnlicher sind sich Ost und West nicht unbedingt geworden. Die AfD ist in Ostdeutschland stark, bei der Europawahl avancierte sie gar zu stärksten Kraft. Der Osten ist anders, betont Steffen Mau, einer der führenden Soziologen Deutschlands, der gerade mit "Ungleich vereint" ein neues Buch zu dem Thema veröffentlicht hat.

t-online hat Mau in Berlin zum Gespräch getroffen. Wie erklärt er sich die Besonderheit Ostdeutschlands, warum hat der Populismus dort mehr Erfolg? Und worin könnte eine Lösung bestehen, um die AfD im Osten effektiv einzudämmen?

t-online: Professor Mau, im Osten ist die AfD nahezu flächendeckend stärkste Kraft bei der Europawahl, im Westen nirgends. Wie gespalten ist unser Land?

Steffen Mau: Deutschland ist nicht gespalten. Es ist auch nicht geteilt in zwei Gesellschaften, aber West- und Ostdeutschland sind eben sehr verschiedene Landesteile. Gerade in Ostdeutschland erfüllt die AfD eine bestimmte Funktion – sie ist eine Sammelstelle für Zorn. Letzten Endes profitiert sie zudem von der Schwäche der anderen Parteien.

Das allein erklärt aber doch nicht ihren Erfolg?

Die AfD versucht immer wieder, bei bestimmten Themen für Unzufriedenheit, Aufregung oder Ressentiments zu sorgen. Diese Emotionen sammelt sie ein und wird damit gewissermaßen zur ersten Adresse für alle Unzufriedenen. Begonnen hat die AfD als Anti-Euro-Partei, dann ist ihnen die Migrationskrise sozusagen in den Schoß gefallen, nun will sie als drittes Thema die Klimapolitik ins Zentrum stellen. Im Wissen, dass es zahlreiche Vorbehalte gegen die sozialen Folgen der ökologischen Transformation in der Gesellschaft gibt.

Warum aber ist der Zorn im Osten so groß, dass die AfD gerade dort so viel Zulauf bekommt?

Zunächst erscheint die starke Wut im Osten paradox: Die Lebenszufriedenheit ist nach einer längeren Durststrecke fast auf Westniveau, die Arbeitslosigkeit extrem gesunken, die Renten sind nunmehr angeglichen. Und trotzdem hat sich dort aufgrund echter oder imaginierter mangelnder Anerkennung wie der Erfahrung oder Wahrnehmung von Ungleichbehandlung etwas festgesetzt. Diese Frustration wird stark wiedergekäut, man wird sie einfach nicht los – und so blicken viele Leute, obwohl es ihnen eigentlich ganz gut geht, doch mit einem bestimmten Ingrimm auf die Zustände der Gegenwart.

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Und auch auf die jüngere Vergangenheit seit der Wiedervereinigung?

Bei der Wiedervereinigung kam es zu handfesten politischen Fehlern, die sich heute rächen. Viele Menschen im Osten eint das Gefühl der Ohnmacht. Nachdem sie die friedliche Revolution vielerorts selbst herbeigeführt hatten, ist die anschließende Vereinigung samt der neuen Strukturen dann doch mehr oder weniger über sie gekommen. Es wurden Chancen vertan.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Wir hätten die Einheit anders gestalten können. Eine schnelle Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes – also der Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes – war politisch sicher sinnvoll, aber dabei blieb es dann. Wir hätten stattdessen ein paar Jahre später eine verfassungsgebende gesamtdeutsche Versammlung nach Artikel 146 des Grundgesetzes durchführen können. Gerade die Bindung der Ostdeutschen an die Verfassung wäre heute sicherlich eine andere, wenn sie das Gefühl der Einbeziehung hätten.

Die Unzufriedenheit basiert also nicht auf materieller, sondern auf emotionaler Ebene?

Die Politik hat sich lange Zeit am Ziel der Angleichung orientiert, ein Ziel, das die Tatsache außer Acht lässt, dass der Osten eben anders ist. In den Neunzigerjahren gab es große Wahlerfolge der klassischen Volksparteien in Ostdeutschland, etwa der CDU in Sachsen und Thüringen und der SPD in Brandenburg. Dies täuschte über die Tatsache hinweg, dass sie im Osten nicht mehr als Scheinriesen waren. De facto fehlte und fehlt es den Parteien an Unterbau, Strukturen und vor allem an einem starken Mitgliederstamm. In Brandenburg hat die SPD mittlerweile gerade so viele Mitglieder, um die zu verteilenden Posten überhaupt besetzen zu können. Jetzt setzen sich andere Kräfte im Osten durch.

Zur Person

Steffen Mau, Jahrgang 1968, lehrt Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mau gehört zu den angesehensten Soziologen Deutschlands, 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Gerade erschien mit "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt" Maus aktuelles Buch.

Kann man die AfD in den neuen Bundesländern bereits als Volkspartei bezeichnen?

Sie ist dort auf dem Weg zur Volkspartei, ja. Bezogen auf die Bevölkerung ist die Zahl der AfD-Parteimitglieder im Osten doppelt so groß wie im Westen, in manchen Landkreisen zeichnen sich gar Formen einer kulturellen und politischen Hegemonie seitens der AfD ab. Die AfD schließt viele Milieus ein und ist trotz radikalisierter und rechtsextremer Tendenzen für viele relativ "normale" Leute offensichtlich wählbar.

Der Aufstieg der AfD in den neuen Bundesländern kam nicht aus sprichwörtlich heiterem Himmel, wie Sie in Ihrem aktuellen Buch "Ungleich vereint" schreiben. Worin bestehen die Ursprünge und Ursachen neben der Schwäche der anderen Parteien?

Der AfD-Erfolg ist tatsächlich kein Phänomen, das über Nacht entstanden ist. Ihr Erfolg gründet auch nicht in der Flüchtlingskrise 2015, sondern hat eine lange Vorgeschichte, die zum Teil bis in die DDR zurückreicht. Der politische und der vorpolitische Raum waren damals nahezu vollständig durch die SED, ihre Massenorganisationen und die Betriebe besetzt. Das alles wurde dann pulverisiert, mehr oder weniger über Nacht, als 1989 die Mauer fiel und die DDR ein Jahr später endete.

Womit ein gesellschaftliches und politisches Vakuum in Ostdeutschland entstand?

Ja. In diesen offenen Raum stießen rechte und rechtspopulistische Akteure vor, häufig aus dem Westen, weil es im Osten Entfaltungsmöglichkeiten gab, die sie in den alten Bundesländern niemals bekommen hätten. Aus dem einfachen Grund, weil die Zivilgesellschaft dort schneller zu einer Art von Gegenwehr mobilisiert hätte. So konnten sich die Rechten im Osten etablieren und sukzessive auch die zivilgesellschaftlichen Strukturen infiltrieren.

Eine provokante Frage: Trifft Populismus im Osten aufgrund der von Ihnen beschriebenen Vorgeschichte auf fruchtbareren Boden als im Westen?

Die Geschichte von DDR und Nachwende macht sich bis heute bemerkbar, viele Menschen in Ostdeutschland haben tatsächlich ein anderes Verhältnis zum politischen System insgesamt. Und ja, sie sind auch anfälliger für populistische Ansprache.

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Braucht es in dieser Situation nicht die so oft beschworene "Brandmauer" der Demokraten gegen die Radikalen?

Im Westen sind "Brandmauern" leichter zu errichten, weil es sich quantitativ um weniger Leute vom rechten Rand handelt und diese auch von ihrer gesamten Milieustruktur etwas weiter von der Normalbevölkerung entfernt sind, als das im Osten der Fall ist.

Im Osten ist die AfD nicht am rechten Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft?

Zum Teil, ja. Gerade mit der hohen Zahl von Wählerinnen und Wählern der AfD dort kann eine "Brandmauer" nicht besonders gut funktionieren: Wenn die Menschen in Ostdeutschland tagtäglich sozialen Kontakt mit Anhängern und Mitgliedern der AfD haben, Leuten, die sie teils lange und intensiv kennen, wird eine Dämonisierung und Distanzierung kaum Aussicht auf Erfolg haben. Deswegen bröckeln die "Brandmauern" im Osten auch viel eher.

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Sie haben die Schwäche der demokratischen Parteien im Osten als einen Grund für die Stärke der AfD im Osten genannt. Was geschähe, wenn sich etwa die CDU als Siegerin der Europawahl viel mehr dem Osten zuwenden würde?

Der Erfolg wäre zunächst ungewiss, der Aufwand groß. Anders als im Westen sind eingewurzelte Parteistrukturen, die Stabilität erzeugen, im Osten viel seltener. Klar, auch in den westlichen Bundesländern gibt es Wählerwanderungen, aber nicht solche gravierenden Verschiebungen. In Ostdeutschland gelingt es weit besser, Menschen durch populistische Ansprache – Emotionalisierung, Stimmungsmache oder auch bestimmte einzelne Persönlichkeiten – in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Denn Parteien spielen dort für die politische Willensbildung eine weit geringere Rolle. Dadurch herrscht deutlich mehr Beweglichkeit in der Wählerschaft. Es erinnert ein wenig an Wanderdünen, die es mal hierhin, mal dorthin trägt.

Das klingt fast, als ließen sich die Ostdeutschen geschickt manipulieren.

Die Leute werden ein Stück weit zur Manövriermasse. Besonders charismatische Persönlichkeiten, die stark mobilisieren können und möglicherweise auch über die finanziellen Mittel verfügen, können von derartigen Verhältnissen profitieren. Sie brauchen nicht einmal einen festen, großen Mitgliederstamm. Man sieht es aktuell am Bündnis Sahra Wagenknecht, das im Prinzip gar nicht alle Eintrittswilligen aufnehmen will, sondern versucht, sie zu sortieren.

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Mobilisieren kann die AfD gut, charismatische Persönlichkeiten sind bei ihr aber eher Mangelware.

Im Augenblick hat die AfD ein extrem farbloses und wenig charismatisches Spitzenpersonal, das wissen wir aus Umfragen in Thüringen. Wer soll nach der Landtagswahl in Thüringen Ministerpräsident werden? Der AfD-Landeschef Björn Höcke erhält laut Studien etwa wenig Zustimmung von den Bürgerinnen und Bürgern in dieser Frage, selbst von den Wählern dieser Partei.

Wir haben nun viel über die Besonderheit des Ostens gesprochen: Wie gespalten aber ist ganz Deutschland?

Deutschland ist gar nicht so sehr polarisiert, wie es scheint. Warum? Weil wir bei gesellschaftspolitischen Einstellungen und Werteorientierungen doch durchaus einen Konsens finden. Aber wir erleben eine Radikalisierung der Ränder, vor allem des rechten Randes.

Weil die Gesellschaft sich von allerlei Themen herausfordern lässt, "triggern" lässt, wie Sie in Ihrem Buch "Triggerpunkte"schreiben?

Ja, in der Tat. Das ist eine Art von Ersatzpolitik. Ein Großteil der Parteien – die AfD ist ein großer Ausnahmefall – ist in zahlreichen politischen Fragen zusammengerückt, ob es jetzt die Anerkennung sexueller Diversität ist oder Fragen der Migrationspolitik oder der Klimapolitik sind. Ja, es gibt Unterschiede, aber die sind nicht riesig. Ihre Wählerschaften sind nicht so stark voneinander abgesetzt. Das heißt, die Parteien müssen die Leute irgendwie wieder mobilisieren.

Indem sie die Menschen mit Reizthemen triggern …

Genau. Sie tun das über emotionale Trigger. Die breite Masse der Menschen ist entideologisiert und relativ leidenschaftslos, wo sie ihr Kreuz macht. Da polarisiert dann eben ein Friedrich Merz von der CDU mit Zahnersatz für Geflüchtete, ein Christian Lindner kritisiert mit deutscher Entwicklungshilfe gebaute Radwege in Peru. Beides sind marginale Themen, die mit großen politischen Themen wenig zu tun haben, aber eine unglaubliche Bedeutung in der öffentlichen Debatte bekommen. Die Medien arbeiten übrigens ebenso mithilfe emotionaler Trigger.

Bestehen bei dieser Vorgehensweise aber nicht die Gefahren von Überreizung und Entleerung?

Das ist ein Überbietungswettbewerb. Olaf Scholz versucht, sich als Bundeskanzler da herauszuhalten und keine emotionalisierte Politik zu machen. Aber ob das auf Dauer erfolgreich sein kann, wenn alle anderen das tun? Wer weiß. Tatsächlich haben aber auch die Menschen offensichtlich ein großes Bedürfnis, über emotionalisierte Botschaften eine Verbindung zur Politik herzustellen. Und die Parteien nutzen das sehr stark, ich spreche in diesem Zusammenhang von Polarisierungsunternehmen. Besonders gut funktioniert so etwas, wenn man ganz klare Gruppenunterschiede markieren kann: "Vernünftige" gegen "Abgehobene", Konservative gegen "Linksgrünversiffte", das wäre ein Beispiel.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht plakatierte im Europawahlkampf "Krieg oder Frieden".

Das grenzt an intellektuelle Unterforderung des Publikums. Aber es scheint zu zünden.

Haben Sie Hoffnung, dass unsere Gesellschaft und Politik dieses Spiel mit "Triggerpunkten" irgendwann überwinden wird?

Ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass irgendwann irgendjemand in der einer Talkshow sagt: "Das ist doch nichts anderes als ein Triggerpunkt, lasst uns doch mal zum Eigentlichen kommen." Wenn man kluge Politik macht, kann man durchaus bestimmte Triggerpunkte antizipieren. Politik kann deutlich intelligenter sein, sie kann auch bestimmte Sachen besser machen, wenn man etwas über Triggerpunkte weiß. Beim Zahnersatz für Geflüchtete geht es doch im Kern über das Verhältnis von Migration zu unserem Gesundheitssystem. Darüber muss gesprochen werden.

Unsere Gesellschaft verändert sich rasant, Krisen mehren sich. Werden wir in Zukunft möglicherweise noch öfter getriggert?

Dass wir so viele Triggerpunkte haben, hat etwas mit den enormen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu tun. Die Menschen spüren ganz klar eine Veränderungserschöpfung. Wenn sich die Anforderungen an Politik permanent verändern, dann stoßen sie immer an die Grenzen eines oft stillschweigend vorausgesetzten impliziten Gesellschaftsvertrages, wie Dinge laufen sollen. Das schafft natürlich Reibung. Triggerpunkte können sich aber auch positiv auswirken, sonst hätten wir bis heute kein Frauenwahlrecht.

Können Triggerpunkte eventuell auch irgendwann dabei helfen, Ost- und Westdeutschland einander näherzubringen?

Das wird sich zeigen. Ich möchte nochmal betonen, dass Deutschland kein gespaltenes Land ist. Auch in Italien gibt es zwischen dem Norden und Süden Ungleichheit und Unterschiede in den politischen Kulturen.

Wie lange kann ein Land solche Unterschiede aushalten?

In Italien klappt das trotz aller Spannungen bereits seit der Gründung des Nationalstaats 1861. Problematisch wird es, wenn die Demokratie ins Wanken gerät. Also, wenn andere Mentalitäten, andere Selbstverständnisse dafür sorgen, dass populistische Parteien enormen Zulauf bekommen und sie versuchen, mit ihrer Macht die staatlichen Institutionen zu untergraben.

Über den Aufstieg der AfD im Osten haben wir bereits gesprochen, bei den kommenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen könnte die Partei große Erfolge verbuchen. Was dann?

Dann wird es extrem kompliziert – vor allem für die CDU, die sich fragen muss: Will sie mit dem BSW kooperieren, wenn sie eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt? Ich will keine politischen Ratschläge erteilen, aber grundsätzlich feststellen, dass es zwischen AfD und BSW erhebliche Unterschiede gibt. Das BSW lässt sich wegen seiner Affinität zu Wladimir Putin kritisieren, aber die Wagenknecht-Leute würden – anders als die AfD – wohl kaum die demokratischen Spielregeln infrage stellen. Die AfD ist da deutlich gefährlicher.


Quotation Mark

Der Osten ist anders – und er wird es auch bleiben.


Steffen Mau


Was ist Ihre Befürchtung?

Die AfD würde Teile Ostdeutschlands wohl am liebsten zur "national befreiten Zone" erklären: Regionen ohne migrantische Communitys, Regionen, in der der "verweichlichte Westen" keinen Einfluss hat. Das wäre der Weg zu einer echten innerdeutschen Spaltung. Besser, wenn es nicht dazu kommt.

Deswegen plädieren Sie in Ihrem Buch für neue Formen der Demokratie, zum Beispiel Bürgerräte, deren Mitglieder ausgelost werden. Was soll das bewirken?

Bürgerräte sind relativ immun gegen den Vorwurf, dass "da oben" irgendwelche Eliten Dinge miteinander verhandeln würden, die "die hier unten" dann ausbaden müssten. Meine Hoffnung ist, dass dadurch der demokratische Willensbildungsprozess wieder gestärkt wird – was gerade im Osten sehr nötig ist. Denn im Moment beobachten wir ja eher eine Form der politischen Beteiligung, die man "Anforderungsdemokratie" nennen könnte.

Was meinen Sie damit?

Die Leute gehen auf die Straße und hoffen, dass die Regierenden Zugeständnisse machen. Dadurch ist eine Art Parallelpolitik entstanden, eine Form der Marktplatzpolitik, der politischen Einflussnahme, quasi als Ersatz für Parteien und Parlamente. Dem ließe sich mit Bürgerräten begegnen. Die Bürgerräte könnten Freude an der echten Politik vermitteln, bestenfalls würden wir damit auch politische Talente entdecken.

Ihr Buch endet mit den hoffnungsfrohen Worten, dass es viele Möglichkeiten gäbe, die Demokratie zu verteidigen. Wie aber soll das gelingen mit einer Politik, die ihren Vorteil im Triggern sucht?

Die ganze Meckerei müsste die Menschen irgendwann erschöpfen. Darauf hoffe ich. Ab einem bestimmten Punkt wollen die Leute nicht mehr, dass die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird, sondern sie verlangen eine ordentliche Politik. Optimistisch stimmen mich die Millionen Menschen, die Anfang des Jahres gegen den Rechtsradikalismus auf die Straße gegangen sind. Damals zeigte sich, dass die Mitte der Gesellschaft die meiste Zeit zwar leiser als die radikalen Ränder ist, aber doch die Stimme erhebt, wenn es drauf ankommt. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen lehnt das Radikale ab.

Werden sich West- und Ostdeutschland zukünftig einander wieder annähern?

Der Osten ist anders – und er wird es auch bleiben. Daran ist grundsätzlich auch nichts Schlimmes.

Professor Mau, vielen Dank für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Steffen Mau in Berlin
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