Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der Frontalangriff kommt aus der Hosentasche
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Kleines Quiz gefällig? Bitte sehr: Aus welchem Jahrzehnt stammen die folgenden Schlagzeilen amerikanischer Zeitungen? "Polizei in New York verhaftet Antikriegs-Protestierende" – "Studenten in Kalifornien gehen auf die Barrikaden" – "Proteste an den Universitäten greifen um sich" Was meinen Sie, wann ist das gewesen und um welchen Krieg geht es da?
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Falls Sie auf den Vietnamkrieg getippt haben, liegen Sie falsch. Wir befinden uns im Hier und Jetzt. Die Lage in Gaza sorgt für Tumult – übrigens nicht nur in Amerika, auch an europäischen Universitäten. Unterstützer der Palästinenser sind in Aufruhr, pro-israelische Gruppen auch. In den Szenen der Gegenwart kann man den Zoff der siebziger Jahre durchaus wiedererkennen. Man könnte sogar auf die Idee kommen, wir würden Zeuge einer Neuauflage studentischer Proteste, wie sie von Generation zu Generation eben immer wieder aufflammen. Aber der Eindruck der Wiederholung täuscht. Es verändert sich etwas in der Welt der jungen Leute, erstmals und auf noch nie dagewesene Weise. Die kompromisslose Härte, mit der die Kontrahenten an den Unis verbal aufeinander eindreschen, ist das Anzeichen einer epochalen Veränderung.
Sicher, der Konflikt im Nahen Osten hat schon immer polarisiert. Doch unter jungen Menschen tun sich nun noch andere Gräben auf, die man bisher nicht kannte. Während Junge und Alte seit eh und je unterschiedliche Ansichten hegen, lagen die Sichtweisen von Männern und Frauen derselben Altersgruppe bislang dichter beieinander, im Durchschnitt jedenfalls. Genau das ändert sich jetzt nachweislich – und zwar rund um den Globus. Ob in Deutschland, den USA, Südkorea oder Polen: Die Vorstellungen junger Frauen einerseits und junger Männer andererseits entfernen sich voneinander. Frauen ordnen sich häufiger links, liberal und progressiv ein als ihre maskulinen Altersgenossen. Diese tendieren stärker zu konservativen, rechten, auch anti-feministischen Haltungen. Diese Kluft ist neu, und sie wächst.
Ein Zufall ist das nicht. Und weil man diesen Trend in China genauso nachweisen kann wie in Tunesien, muss man nach weltweiten Ursachen suchen. Der Verdacht fällt deshalb sofort auf das flache, leuchtende Rechteck, das wir alle immer mit uns herumtragen: das Handy und alles, womit es uns bombardiert. Soziale Medien lassen jeden Menschen in seine eigene Welt eintauchen, oder nennen wir es lieber: Blase. Bei Männern sind die Muskelmachos im Durchschnitt präsenter als Gleichberechtigung und "Me too".
Apropos Präsenz: Schauen wir doch einmal nach, welche politischen Parteien in Deutschland bei ihrer Social-Media-Strategie alles richtig gemacht haben. Auf Tiktok zum Beispiel, wo die Teenies ihr zweites Zuhause haben, ist die AfD schwer vertreten und ... und ... tja, das hier kommt dabei heraus.
Natürlich haben auch Politiker anderer Parteien auf Tiktok ihre Nutzerkonten, aber bemerken tut man davon herzlich wenig. Wie sich die Schlagseite bei der Reichweite wohl auswirkt? Werfen wir dafür einen Blick in die Studie "Jugend in Deutschland", die seit 2020 regelmäßig die Stimmungslage bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen abcheckt und nun mit neuen Zahlen aufwartet. Schön sind sie nicht. Tristesse hat sich breitgemacht, Pessimismus ist so ausgeprägt wie noch nie.
Wer will es den Jungen verdenken? Sie machen sich Sorgen über steigende Preise, teuren Wohnraum, Krieg, Klima, Altersarmut, zu viele Flüchtlinge, den Zusammenbruch des Rentensystems und noch einiges mehr. Sowas würde man wohl auch lesen, wenn die Ampelkoalitionäre bei ihren Beratungen einen Kummerkasten aufhängen würden.
Vor dem Politiker-Kummerkasten dürften sich bald Schlangen bilden. Denn unter den jungen Leuten im Alter von 14 bis 29 Jahren, also der Zukunft Deutschlands, heißt die beliebteste Partei: AfD. Grund dafür kann aber kaum allein die trübe Stimmung sein. Sicher, wer überall Krisen sieht und sich überfordert fühlt, sehnt sich nach Erlösung. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ausgerechnet die AfD diese Nachfrage bedienen müsste. Nur sind die Rechtsextremisten eben auf Social Media so aktiv wie keine andere Partei. Die Algorithmen belohnen Schreihälse, Wut und Hass. So funktioniert das Kerngeschäft von Firmen, die von der Aufmerksamkeit der Nutzer leben. Wer sich aufregt, der klickt – und bleibt. Das Geschäftsmodell von Meta bis Tiktok kommt den Hetzern und Giftspritzern entgegen.
In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich die Veränderungen unserer Lebenswelt überschlagen. Wir haben an einer Revolution teilgenommen, die noch immer im Gange ist. Erst wurden wir schlagartig weltweit vernetzt: Das Internet zog in die Häuser ein. Dann zog es weiter in die Hosentaschen. Das Handy sorgt für die permanente Präsenz des Netzes in unserem Leben. Die globalen Marktplätze für Krakeeler und Streithähne sind seitdem nie weiter als einen Handgriff entfernt.
Neu ist dieser problematische Mix schon länger nicht mehr – aber klar kommen wir damit offenkundig immer noch nicht. Gegen die Polarisierungstendenzen, die rund um den Globus zu beobachten sind, scheint kein Kraut gewachsen. Die nächste radikale Veränderung, die Künstliche Intelligenz, steht nicht mehr vor der Tür, sondern tritt bereits ein – dabei haben wir die letzte Revolution noch gar nicht verdaut. Wir Alten brüllen uns bei X oder auf dem Opa-Netzwerk Facebook an. Die Tiktok-Teenies kommen leider auch nicht besser klar, das haben wir nun schriftlich.
Was also tun? Jung und Alt könnten sich eigentlich solidarisch um den Hals fallen – und gemeinsam durchsetzen, dass die Social-Media-Dreckschleudern ihre Mechanismen endlich umbauen. Und zwar schleunigst, bevor es zu spät ist!
Blaue Landesverräter
"Unser Land zuerst!" plakatiert die AfD im Europawahlkampf. Eine glatte Lüge, wie die jüngsten Enthüllungen zeigen: Offenkundig arbeiten führende Aktivisten der Partei nicht für deutsche Interessen – sondern für ausländische Diktaturen. Schon vor Monaten hatten unsere Rechercheure Jonas Mueller-Töwe, Annika Leister und Lars Wienand über das dubiose Umfeld von Maximilian Krah berichtet, dem AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl. Gestern hat der Generalbundesanwalt Krahs persönlichen Assistenten verhaften lassen – er soll für den chinesischen Geheimdienst spioniert haben.
Die Nummer zwei auf der AfD-Europaliste, Petr Bystron, steht ebenfalls im Zwielicht: Er wurde mutmaßlich aus russischen Quellen dafür bezahlt, Propaganda für Putins Terrorregime zu verbreiten. "Die AfD ist längst ein ernstzunehmendes Sicherheitsproblem für unser Land", sagt Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz unserer Redaktion. "Täglich neue Meldungen zeugen davon, dass Politiker der AfD immer dort anzutreffen sind, wo die Despoten dieser Welt gefügige Helfer suchen, um deutsche Unternehmen auszuspähen und unserer Demokratie gezielt zu schaden."
Und Thüringens AfD-Chef Björn Höcke? Versucht sich vor Gericht mit Ahnungslosigkeit herauszureden: Er habe nicht gewusst, dass eine von ihm skandierte Parole von Hitlers Mördertruppe SA stammt und in Deutschland verboten ist. Unser Reporter Lars Wienand berichtet von bemerkenswerten Szenen im Prozess.
Es heißt ja oft, man dürfe nicht alle Wähler der AfD in die rechte Ecke stellen. Das ist wohl richtig. Aber spätestens jetzt – anderthalb Monate vor der Europawahl und vier Monate vor drei ostdeutschen Landtagswahlen – sollte jeder Bürger wissen: Wer ernsthaft mit dem Gedanken spielt, dieser Partei seine Stimme zu geben, unterstützt kriminelle Landesverräter.
Später Antrittsbesuch
Schon 18 Monate ist der britische Premierminister Rishi Sunak im Amt. Für einen Besuch in Berlin aber hatte er bisher noch keine Zeit – was angesichts etlicher Terminvorschläge im Kanzleramt für Verwunderung sorgte. Immerhin hat Olaf Scholz den Insulaner bei mehreren G7- und G20-Gipfeln sowie auf der Münchner Sicherheitskonferenz getroffen. Der Kanzler dürfte froh sein, es nicht mehr mit dem Hallodri Boris Johnson oder dessen verpeilter Kurzzeit-Nachfolgerin Liz Truss zu tun zu haben, und er erkennt auch an, dass der Kollege innenpolitisch mächtig unter Druck steht: Sunaks Tories schneiden in Umfragen ähnlich desaströs ab wie hierzulande die SPD, müssen sich aber noch in diesem Jahr den Wählern stellen.
Wenn der adrette Mister Sunak heute zum verspäteten Antrittsbesuch in Berlin hereinschneit, kann er zumindest auf einen, nun ja, Erfolg an der Heimatfront verweisen: Schließlich hat er soeben ein höchst umstrittenes Gesetz durchs Parlament gebracht, das Abschiebungen von Asylbewerbern nach Ruanda ermöglichen soll. Beim Gespräch im Kanzleramt soll es neben der Migrationspolitik vor allem um Militärhilfe für die Ukraine und Israels rücksichtslosen Kriegszug im Gazastreifen gehen.
Schwieriger Gastgeber
Frank-Walter Steinmeier hat schon einen mitgebrachten Dönerspieß bearbeitet, den Istanbuler Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu getroffen sowie die Erdbebenregion an der syrischen Grenze besucht. Heute aber steht für den Bundespräsidenten der wichtigste Termin seiner dreitägigen Türkei-Reise an: das Treffen mit Sultan Recep Tayyip Erdoğan. Die Begegnung mit dem Alleinherrscher ist angesichts diverser Differenzen zwischen den Nato-Partnern ohnehin heikel, dürfte sich diesmal jedoch besonders schwierig gestalten: Schließlich hat Erdoğan gerade erst Ismail Hanija empfangen, den Politbürochef der Terrorbande Hamas, und obendrein der israelischen Regierung vorgeworfen, mit dem Krieg in Gaza "Hitler übertroffen" zu haben. Man darf gespannt sein, wie viel Klartext der ehemalige Chefdiplomat Steinmeier seinem Gastgeber zumutet. Er sollte kein Blatt vor den Mund nehmen.
Ohrenschmaus
Vor vielen Jahren wohnte ich in Ankara. Damals war Erdoğan noch ein Hoffnungsträger und aus jedem Fenster dröhnte dieser mitreißende Song.
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Zum Schluss
Mario weiß, wie wir wirklich sind:
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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