Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein historisches Treffen
Liebe Leserin und lieber Leser,
in Washington ist der Frühling immer sehr japanisch. Das liegt daran, dass die Stadt Tokio den Amerikanern bereits vor mehr als 100 Jahren ein besonderes Geschenk gemacht hat. Als Zeichen der Freundschaft ließen die Japaner am 27. März 1912 die ersten Kirschblütenbäume in der US-Hauptstadt pflanzen. An diese Geste erinnert heute eine Gedenktafel am "Tidal Basin" – einem großen Teich direkt am Denkmal für Thomas Jefferson, gleich neben der National Mall.
Für einige Wochen zwischen März und April tauchen die inzwischen rund 9.000 japanischen Kirschblütenbäume nicht nur diesen Teich, sondern die ganze Stadt in ein üppiges Rosa. Wie ein märchenhafter Teppich aus Zuckerwatte legen sich in dieser Zeit die Blüten über Washington. Und natürlich wird daraus auch Kapital geschlagen. Bei Starbucks kann man "Cherry Blossom Latte" kaufen. Es gibt Kissen, Mützen, Tassen – eigentlich kein Produkt ohne Kirschblüten.
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Doch kürzlich gab es hier in Washington große Aufregung um das Blütenspektakel, denn es wurde bekannt, dass aufgrund von "baulichen Maßnahmen" mehrere hundert der Kirschblütenbäume gefällt werden müssen. Nicht nur schien ein Wahrzeichen in Gefahr zu geraten, sondern auch die über hundert Jahre alte Freundschaft zu Japan. Ein hoher Regierungsbeamter des Weißen Hauses betonte gestern in einer Telefonkonferenz, dass die japanische Regierung sofort informiert wurde. In Tokio zeigte man großes Verständnis für die unausweichliche Rodung und bot sich sofort an, frische Kirschblütensaat für neue Bäume bereitzustellen. Kleine Geschenke erhalten nicht nur die Freundschaft, sondern auch die bilaterale Diplomatie.
Das Washingtoner Naturschauspiel im Frühling ist eben nicht nur wunderschön, sondern steht auch für ein kostbares, politisches Wunder. Denn bekanntermaßen waren Japaner und Amerikaner zwischenzeitlich Todfeinde. Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour starben im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Soldaten und Zivilisten. Die USA warfen schließlich zwei Atombomben ab – eine auf Hiroshima, eine auf Nagasaki. Beide Nationen verbindet eine leidvolle Geschichte.
Aber ähnlich wie bei Deutschland ist den USA mit Japan eines gelungen: aus einst schlimmsten Feinden engste Freunde zu machen. Die meisten US-Soldaten weltweit sind bis heute in Japan und in Deutschland stationiert – und das längst nicht mehr als Besatzer, sondern als Beschützer. Beide Länder-Beziehungen sind außen- und sicherheitspolitische Erfolgsgeschichten der Amerikaner, die allzu oft vergessen werden angesichts der begangenen Fehler in Vietnam und Korea, im Irak oder in Afghanistan.
Es sind langfristige, geostrategische Meisterstücke: Über Jahrzehnte haben die USA mit ihrer Präsenz Deutschland und die anderen Nato-Verbündeten in Europa gestärkt und verteidigen mit dem transatlantischen Bündnis den Kontinent bis heute gegen Russland. Aber auch auf indopazifischer Seite bauen die Amerikaner seit Jahrzehnten an einem Bollwerk gegen die aufstrebende Diktatur China. Die Freundschaft mit Japan ist dabei ein Stützpfeiler, der in diesen Tagen immer wichtiger wird.
Pünktlich zum Ende der Kirschblütenzeit empfängt US-Präsident Joe Biden darum den japanischen Premierminister Kishida Fumio und dessen Frau Kishida Yuko. Schon beim letzten Besuch pflanzten die beiden First Ladies Jill Biden und Kishida Yuko im Garten des Weißen Hauses einen Kirschblütenbaum. Auch dieses Mal gibt es viel Symbolik, unter anderem ein üppiges Bankett mit allerlei Pomp.
Seit Tagen schmücken japanische Flaggen die Straßen von Washington. Der japanische Staatsbesuch hat eine extrem hohe Bedeutung, zumal am Donnerstag mit dem philippinischen Präsidenten Ferdinand R. Marcos Jr. ein weiterer wichtiger Verbündeter im Indopazifik zu einem Dreier-Gipfel erwartet wird.
Beide Länder und vor allem Japan, so der Wunsch Washingtons, sollen nämlich künftig eine noch größere Rolle bei der Eindämmung Chinas spielen. Japan soll sogar Teil werden von Aukus, jenem noch relativ jungen militärischen Zusammenschluss von Australien, Großbritannien und den USA im Indopazifik. Aus Aukus könnte also in Zukunft Jaukus werden. Es wäre ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung einer Indopazifik-Nato. Der Weg dorthin ist noch weit. Aber die Offiziellen im Weißen Haus sprechen schon jetzt von einem der wichtigsten globalen Bündnisse.
Was am Mittwoch aber in jedem Fall verkündet wird: Die japanisch-amerikanische Zusammenarbeit soll nicht nur militärisch, sondern auch technologisch und wirtschaftlich so eng verzahnt werden wie noch nie in der Geschichte der beiden Länder. Nach Jahrzehnten des demonstrativen Pazifismus verstärkt die japanische Regierung jetzt, ähnlich wie Deutschland, ihre Militärausgaben. Es ist eine weitere, eine japanische "Zeitenwende". Zur Freude der Amerikaner. Das "Wall Street Journal" schrieb in diesen Tagen deshalb sogar schon von einer neuen Ära der Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Die Regierung in Tokio hatte schon vorab ihre Pläne verkündet: bis zum Jahr 2025 ein sogenanntes "Joint Operations Command" einzurichten, von dem aus alle japanischen Militäroperationen geleitet werden sollen. Es ist ein Schritt, auf den die USA schon lange gewartet haben. Im Gegenzug wünscht sich Japan, dass die Amerikaner ein eigenes Einsatzkommando in Japan aufbauen. Japan wird damit immer mehr zu einer Art Nato-Alliiertem. Und etwas Historisches ist in Planung: Ein japanischer Astronaut soll künftig als erster Nicht-Amerikaner bei einer Nasa-Mission zum Mond dabei sein.
Im Atlantik und im Indopazifik bietet sich ein durchaus ähnliches Bild: Mit Russland und China bedrohen zwei große und militärisch gefährliche Rivalen die Vormachtstellung der USA, aber eben auch die Existenz kleinerer verbündeter Staaten. Es ist eine enorme Leistung, dass sich Joe Biden wie kein Regierungschef vor ihm daran gemacht hat, die USA auf diese geostrategischen Herausforderungen vorzubereiten. Im täglichen, innenpolitischen Streit um die weitere Unterstützung der Ukraine geht das manchmal unter.
Aber die Nato ist unter Biden, mit den neuen Mitgliedsländern Schweden und Finnland und steigenden Militärausgaben, auch Deutschlands, so stark wie nie zuvor. Und im Pazifik gelingt es der Biden-Regierung, mit Japan, Taiwan, den Philippinen, Südkorea oder Vietnam immer mehr Länder an den eigenen Tisch zu holen. Und auch mit Indien arbeitet man immer enger zusammen.
Die Demokratien auf dieser Welt stehen unter Beschuss – ohne Frage. Aber sie handeln, und ganz vorneweg die USA. Sorgsam spinnen sie als Führungsmacht ein Netz aus Bündnissen. Dafür erwarten sie zu Recht mehr Engagement von ihren Partnern – ob von Deutschland oder von Japan.
Damit dieses Vorhaben gelingt, wird noch viel zu leisten sein, auch von der deutschen Bundesregierung. So fluffig und rosarot die Kirschblütenbäume in Washington auch aussehen mögen. Beim ersten starken Wind oder bei einem plötzlich wiederkehrenden Aprilfrost ist es mit der Blütenpracht auch schnell vorbei. Solche Bäume sind wie Bündnisse – damit sie mehr als 100 Jahre überdauern, benötigen sie viel Pflege und Geduld.
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Zufällig passt zu diesem Tagesanbruch der in meinem Geburtsjahr veröffentlichte Song der deutschen Band Alphaville. 1984 landete die Gruppe um den Sänger Marian Gold (alias Hartwig Schierbaum) mit "Big in Japan" einen Nummer-Eins-Hit, der es auch in die US-Billboard-Charts schaffte. Hier können Sie den Song anhören.
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa.
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