Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Putin hat Angst vor Blumen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
in Moskau gibt es ein beeindruckendes Denkmal, die "Mauer der Trauer". Sie ist aus Bronze gefertigt, rund sechs Meter hoch und Dutzende Meter lang. Die Mauer besteht aus Hunderten Figuren, keine von ihnen hat ein Gesicht. Sie sollen die Opfer politischer Gewalt und Unterdrückung symbolisieren, sollen an ihr Leid erinnern.
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Die "Mauer der Trauer" ist im Jahr 2017 eingeweiht worden, vom russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. und vom Präsidenten Russlands, Wladimir Putin. Doch wer dort in diesen Tagen um Alexej Nawalny trauern möchte, muss damit rechnen, von Putins Polizei abgeführt und mit dem Kopf in einen Haufen Schnee gedrückt zu werden. So ist es einem Mann passiert, wie ein Video zeigt. Mehr als 400 Menschen sind wie er bislang festgenommen worden. Hunderte Blumen und Kerzen, die Menschen dort für Nawalny niedergelegt hatten, schafften die Behörden in der Nacht zum Samstag weg.
Warum darf man in Russland nicht trauern um einen Mann, der doch angeblich einfach beim Spazierengehen tot umgefallen ist? Hat Wladimir Putin, der mächtige Herrscher, Angst vor ein paar Blumen?
Autokraten und Diktatoren sind paranoid. Sie leben in ständiger Angst vor dem Kontrollverlust. Jede Blume könnte der Beginn einer Widerstandsbewegung sein, also darf es keine Blumen geben. Deshalb brauchen sie Gewalt und Unterdrückung und Strafkolonien, damit es nie zu viele werden, die Widerstand leisten.
"In Wahrheit ist Putins Russland schwach", schreibt der kluge Journalist und Autor Nils Minkmar. Putin banne unseren Blick mit einem Theater des Schreckens und lebe von unserem zögerlichen Staunen und gelähmten Grusel. Hoffnung solle so schwinden, Widerstand schrumpeln und Zynismus obsiegen. Es sei höchste Zeit, schreibt Minkmar, diesem Spuk den Stecker zu ziehen. Und dort hinzusehen, wo die Schwächen des russischen Regimes liegen – "nicht dorthin, wo sie unseren Fokus gerne hätten".
Es sind Worte gegen das Aufgeben. So sollte man sie lesen, als solche sind sie wertvoll. Als Anleitung für die nähere Zukunft taugen sie nicht.
Leider ist Putin stark genug, um zu morden, wie er Lust hat und wann er Lust hat. Alexej Nawalny ist nur sein bislang letztes Opfer in einer langen Reihe. Diesmal pünktlich zur Münchner Sicherheitskonferenz. Vor ein paar Jahren tötete Putin mitten in der deutschen Hauptstadt, im Berliner Tiergarten. Ein Auftragsmord des russischen Regimes, wie ein deutsches Gericht urteilte. Der Auftraggeber dürfte dafür nicht mehr als ein müdes Lächeln übriggehabt haben. Niedlich, aber was wollen sie tun?
Leider ist Putin stark genug, um bisher mehr als 10.000 Zivilisten und mehr als 60.000 Soldaten der Ukraine zu töten. Und obwohl der mächtige Westen immer wieder versichert, die Ukraine unterstützen zu wollen, damit Putin den Krieg nicht gewinnt, sieht es derzeit ziemlich mies aus für die Ukraine. Und für den Westen.
Wegschauen also, damit wir uns nicht gruseln lassen? Das wird nicht funktionieren. Wir ziehen Putins Spuk nicht den Stecker, indem wir uns vom Grauen abwenden. Wir müssen uns dem Grauen zuwenden, um ihm den Stecker zu ziehen. Was leicht daher geschrieben und schwer getan ist, natürlich.
Aber es ist auch nicht so, als könnten wir gar nichts tun. Wir können der Ukraine helfen, sich selbst zu retten. Wir müssen es tun, weil nichts dafür spricht, dass Putin einfach so aufhören wird. Und wenn er nicht aufhört, spricht viel dafür, dass er weitere Länder angreift.
In der Ukraine aber wird die Munition knapp, es fehlen Waffen, auch solche mit großer Reichweite. Vor den Folgen hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Welt auf der Münchner Sicherheitskonferenz einmal mehr gewarnt: "Wenn die Ukraine allein dasteht, dann werden Sie sehen, was passiert: Russland wird uns zerstören, das Baltikum zerstören, Polen zerstören – es ist dazu in der Lage."
Die Europäer müssen deshalb mehr tun, da hat Kanzler Olaf Scholz schon recht. Er hat in München darauf hingewiesen, und das ist gut so. Deutschland tut viel, auch da hat er recht. Aber wir tun eben auch noch nicht alles, was möglich wäre. Seit Mai fragt die Ukraine nach Taurus-Marschflugkörpern. Seit Mai liefert Olaf Scholz sie nicht. Warum auch immer. Er sollte es endlich tun.
Denn wenn Putin verliert, wenn er abziehen muss aus der Ukraine, dann könnte es tatsächlich vorbei sein mit dem starken, ängstlichen Herrscher. Vorbei mit seinem Theater des Schreckens. Niederlagen können Diktatoren noch weniger ertragen als Blumen.
Termine des Tages
Erinnern an Hanau: Es ist genau vier Jahre her, da erschoss der 43 Jahre alte Tobias R. in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Ihre Namen waren Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Auf dem Hauptfriedhof in Hanau findet heute eine offizielle Gedenkstunde statt. In Frankfurt gibt es am Abend eine Demonstration. In Hanau selbst hatten schon am Samstag mehrere Tausend Menschen an einem Gedenkmarsch teilgenommen.
Was folgt aus dem Rechtsterror von Hanau? Die Vizechefin der SPD, Serpil Midyatli, und die Vizechefin der Grünen, Pegah Edalatian, machen in einem Gastbeitrag für t-online einen Vorschlag für "Ein neues deutsches Wir".
Fünf weitere Jahre: Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zu Gast beim Vorstand der CDU. Er müsste sie für eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission vorschlagen. Ihre derzeitige Amtszeit endet am 31. Oktober. Alle gehen davon aus, dass sie eine weitere anstrebt. Am Mittwoch läuft die Frist aus, dann muss es Klarheit über die Kandidatenlage geben. Heute wäre also eine gute Gelegenheit, sie zu schaffen.
Neue Führung für die Linke: Die Linke im Bundestag trifft sich zur Klausur. Nach Auflösung der Fraktion müssen sich die 28 verbliebenen Parlamentarier als Gruppe neu aufstellen. Dietmar Bartsch will sich als Vorsitzender zurückziehen, es braucht eine neue Spitze.
Die Kirche tagt: In Augsburg beginnt die Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, das Führungsgremium der katholischen Kirche in Deutschland.
Das historische Bild des Tages
1945 kam es auf einer Pazifikinsel zu einer der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Mehr erfahren Sie hier.
Lesetipps
In einer neuen Trump-Regierung könnte Elbridge Colby eine wichtige Rolle spielen. Für Deutschland hat er schon jetzt klare Botschaften. Welche das sind, lesen Sie in diesem Interview unseres US-Korrespondenten Bastian Brauns.
Ein Angriff Russlands auf die EU: Davor warnt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Doch am Ende ist es ein US-Republikaner, der das Publikum schockiert, berichtet Kollege Patrick Diekmann.
Alexej Nawalnys Tod wird nicht folgenlos bleiben. Denn mit allem kommt selbst ein Autokrat nicht durch, meint unser Kolumnist Wladimir Kaminer.
Die Deutschen reisen gerne und viel. Wie schädlich ist das fürs Klima? Das erklärt der Experte Stefan Gössling im Interview mit meiner Kollegin Sandra Simonsen.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Am Dienstag schreibt Ihnen Florian Harms.
Ihr Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
Kurznachrichtendienst X: @jbebermeier
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Mit Material von dpa.
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