Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Donnerstags kein Fernsehen mehr
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Blicken Sie noch durch? Genug zu gucken gibt es jedenfalls. Im Ersten läuft heute Abend die Liveübertragung des DFB-Pokals. Im ZDF eine Dokumentation über McDonalds. Bei RTL, Sat.1, 3sat und ungefähr 95 anderen Sendern flimmern Krimis über die Mattscheibe. Später am Abend dann auch bei ARD und ZDF die ewig gleiche Leier: Krimis, Thriller, Actionthriller und Actionkrimithriller. Tote hier, Leichen da, zwischendrin Blabla.
Wer sich durchs deutsche Fernsehprogramm zappt, bekommt ein ziemlich düsteres Bild der Welt: Hinter jeder Fernsteuerungstaste lauern Mord und Totschlag, Verbrechen und Gewalt. Schon einmal habe ich mich über die Programmgestaltung der Öffentlich-Rechtlichen gewundert, selten hat ein Tagesanbruch so viel Zustimmung gefunden. Aber darum soll es heute nicht gehen, Wiederholungen überlassen wir getrost den Experten in den Funkhäusern.
Heute geht es nicht um das Was, sondern um das Wie. Genauer gesagt: das Wieviel. Fast 150 Fernsehsender haben Menschen, die für so was bezahlt werden, hierzulande gezählt. Da sind zum einen ARD, ZDF und ihre Regional- und Spartenkanäle, zu denen so illustre Angebote wie ARD-alpha und ZDFneo gehören. Zum anderen das Potpourri der Privaten, wobei die Streamingdienste noch gar nicht mitgezählt sind.
Das mannigfaltige Angebot steht in auffallendem Kontrast zu den Einschaltquoten. Ginge es allein nach den Vorlieben der Zuschauer, könnte man bis auf die neun beliebtesten alle anderen Sender ausknipsen: Ihre Einschaltquoten sind homöopathisch.
Das ist nicht weiter schlimm, wenn sich ein Sender aus Werbeeinnahmen finanziert. Fragen darf man jedoch an die gebührengepäppelten Öffentlich-Rechtlichen richten: Arte und 3sat mögen tolle Sendungen für Kulturliebhaber anbieten, aber braucht es wirklich all die dritten Programme inklusive ihrer Regionalfenster? Zusammengenommen landen WDR, SWR, HR, BR, NDR, MDR, RBB, SR und Radio Bremen auf Platz zwei der Einschaltquoten – einzeln betrachtet dümpeln sie im Quotenniemandsland umher. Ließen sich da nicht einige zusammenlegen und so Geld sparen?
Und was ist mit den byzantinischen Postenstrukturen in den Sendern? Braucht es wirklich alle Intendanten, stellvertretenden Intendanten, Chefredakteure, Programmdirektoren, Verwaltungsdirektoren und Produktionsdirektoren – oder verbirgt sich darunter womöglich auch der eine oder andere Frühstücksdirektor? Wer soll all den Content anschauen, der rund um die Uhr produziert, moderiert und ausgestrahlt wird? Hat noch irgendjemand in den Direktionsbüros einen Überblick über den tatsächlichen Bedarf – oder gibt man einfach immer noch mehr Sendungen in Auftrag, weil das Geld dafür halt da ist? Nach dem RBB-Skandal sind die Öffentlichen wachsendem Reformdruck ausgesetzt, aber sie bewegen sich allenfalls in Millimeterschrittchen.
Eine schlechte Bildung wird oft auf mangelndes Angebot zurückgeführt. Ich habe den Eindruck, in einem hoch entwickelten Land wie unserem ist das Gegenteil der Fall: Auch Überfluss führt zur Verblödung. Man zappt sich durch austauschbare Channels, bis die Augen viereckig sind und das Hirn die Konsistenz von Kartoffelbrei annimmt. Ein Buch zu lesen oder gar ein Gespräch zu führen, ist in diesem Zustand bei vielen Zeitgenossen gar nicht mehr drin. Und nicht nur die schrillen Privatsender, auch die Gebührenfinanzierten rühren kräftig im Brei.
Deshalb mache ich heute Morgen einen unkonventionellen Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir uns ein Vorbild an den Isländern nähmen? Die Insel blieb bis 1987 donnerstags fernsehfrei. Nicht an einem, sondern an allen Donnerstagen. Per Gesetz, von der Regierung beschlossen. Statt sich vor die Flimmerkiste zu hocken, sollten die Bürger wenigstens einmal in der Woche ausgehen, um miteinander zu reden. Ich weiß, das würde heute nicht mehr funktionieren, das Internet ist nun einmal omnipräsent. Charmant ist der Gedanke trotzdem. Und freiwillig auf den Aus-Knopf drücken, das kann jeder. Auch ohne Gesetz. Vielleicht würde dieses Signal sogar in den Direktorenbüros verstanden.
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Ohrenschmaus
Warum ist Fernsehen eine Droge? Weil da immer die Sonne scheint!
Ein Jahr danach
Hat man Ihnen schon mal vorgeworfen, abgehoben zu sein? Dann kam die Bemerkung bestimmt von einem bodenständigen Zeitgenossen – jemandem, der mit beiden Beinen auf der Erde steht oder es wenigstens glaubt. Wir schätzen solche Erdverbundenheit, nicht nur bei Menschen. Jeder Plan und jedes Haus braucht ein solides Fundament. Höhenflüge sind gefährlich. Am Ende ist selbst der größte Luftikus froh, wieder sicher auf der Erde gelandet zu sein. Auf dem Boden der Tatsachen eben.
Wenn man den Ausdrücken und Bildern unserer Sprache glaubt, ist der Boden unter unseren Füßen so solide wie nichts sonst auf der Welt. Obendrauf trägt die Menschheit ihre Dramen aus, macht sich das Leben manchmal zur Hölle, blickt einer Gefahr nach der nächsten ins Auge. Doch von unten, von der Erde, droht uns nichts. So sehr ist uns diese Gewissheit in jede Faser gedrungen, dass sie mit den Worten wieder hinaussickert.
Deshalb erschüttert es Menschen bis ins Mark, wenn sich dieses Grundvertrauen als Illusion erweist. So wie heute vor einem Jahr: Von einer Sekunde auf die nächste war die Erde unter den Füßen nicht mehr sicher, sondern in Bewegung. Wenn sie bebt, fühlt es sich an wie auf einem Rüttelsieb. Der Boden schwankt und kippt, als sei man auf See. Nachts um 4:17 Uhr, zu einer Zeit also, zu der man meist tief und fest schläft, begann das Inferno ohne Vorwarnung. Decken krachten herunter, Böden gaben nach, Lichter gingen aus. Ganze Stadtviertel sackten in sich zusammen. Mehr als 40.000 Häuser kollabierten, binnen Sekunden, allein in der Türkei.
Dort und im benachbarten Nordsyrien, wo sich Flüchtlinge vor Assads Mörderbanden in einen schmalen Korridor gerettet hatten, löschte die bebende Erde 60.000 Menschenleben aus. Nicht alle starben sofort. Viele lagen unter den Trümmern und hofften auf Rettung, die nicht kam. Selbst in den Krankenhäusern, die von der Welle der Geborgenen und von mehr als 100.000 Verletzten überrollt wurden, ging das Sterben weiter.
Ein Jahr ist es her, dass das Beben den Südosten der Türkei und Teile Syriens verwüstet hat. Der Jahrestag erinnert uns nicht nur an den Schrecken, sondern auch daran, wie schnell man vergisst. Hand aufs Herz: Hätten Sie, ohne nachzudenken, sofort gewusst, dass ein Jahr seitdem vergangen ist und nicht etwa zwei oder sogar drei? Da war mal so ein Erdbeben, so viel ist den meisten im Gedächtnis geblieben. Doch obwohl es sich um eine Katastrophe von so ungeheuerlichen Ausmaßen handelt, verblassen schon längst die Details.
Das ist auch kein Wunder, denn das Leben geht weiter – und hält uns auf Trab. Die Ereignisse prasseln in einem solchen Tempo auf uns ein, dass selbst das, was erst kurz zurückliegt, Teil einer fernen Vergangenheit zu sein scheint. Vor einem Jahr war in Deutschland erbittert über die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine diskutiert worden und die Entscheidung gerade erst gefallen. Vor zwei Jahren gab es noch gar keinen Krieg. Stattdessen gab es Omikron. Zwei Drittel der Deutschen befürworteten eine Impfpflicht, damit die Covid-Pandemie – Sie erinnern sich? – endlich ein Ende hat. Man trug Maske. Und vor drei Jahren … nun, das war schon fast eine andere Welt.
Während wir mit immer neuen Krisenlagen konfrontiert werden und eine Menge Menschen sich mittlerweile erschöpft vom Dauerstress der Nachrichten abwenden, nimmt man kaum wahr, wie segensreich das Stakkato der Neuigkeiten eigentlich ist. Es stimmt schon: Ständig muss man sich mit neuen Problemen auseinandersetzen. Das heißt aber auch: Die alten Probleme lassen uns los, wenn wir nicht persönlich betroffen sind. Oder sie haben wenigstens nicht genug Kraft, um uns zu überwältigen und die eigene Welt zum Stillstand zu bringen.
Wenn man Menschen in der Südosttürkei zuhört, erfährt man jedoch: Das kann auch anders sein. Ein Schreckensereignis kann bleiben. Schauen Sie sich in Ihrem Zuhause um: die vertraute Umgebung, das Sofa im Wohnzimmer, vielleicht stehen Fotoalben mit Erinnerungen im Regal. Schließen Sie für einen Moment die Augen. Wenn Sie sie wieder öffnen, ist das alles – alles! – weg. So erging es den Menschen im Erdbebengebiet. Und falls nicht noch mehr passiert ist, hat man sogar Glück gehabt. Sollten jedoch die eigenen Kinder nicht mehr am Leben sein oder die Eltern, Geschwister, enge Freunde und Verwandte es nicht aus den Trümmern geschafft haben, dann bleibt die Zeit stehen. Der Strom der Krisen und der dramatischen Ereignisse anderswo hört auf. Es bleibt kein Raum mehr dafür.
Das geht nicht nur den Menschen im Erdbebengebiet so. Auch die Kämpfe in der Ukraine schaffen es nicht mehr oft in unser Bewusstsein. Die Karawane zieht weiter, der Krieg aber nicht. Wer nahe der Front bei Sirenengeheul in den Keller rennt, für den bleibt dieses Ereignis immer auf Platz eins. Genauso geht es jenen, die sich in Gaza mit einer Schüssel durch das Gedränge vorarbeiten und von einer Hilfsorganisation wenigstens einen Happen Essen für ihre Familie ergattern wollen. Wer im Jemen Medikamente auftreiben oder im Sudan vor Milizen die Flucht ergreifen muss, ist nicht von der Flut der Nachrichten überfordert. Das dürfen nur wir Glücklichen beklagen, die nicht Teil solcher Nachrichten sind.
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Zum Schluss
Wie sieht das Büro von morgen aus? Nach diesem Video bin ich baff.
Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Christine Holthoff, am Donnerstag lesen Sie wieder von mir (dann ohne Fernsehthema, versprochen).
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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