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Friedrich Merz (CDU) übersieht sie: Deutschland hat längst eine Leitkultur


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MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.12.2023Lesedauer: 5 Min.
CDU-Chef Friedrich Merz sucht seinen kulturellen Kompass.Vergrößern des Bildes
CDU-Chef Friedrich Merz sucht seinen kulturellen Kompass. (Quelle: Jörg Carstensen/dpa)
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In unsicheren Zeiten braucht es Autoritäten, die Orientierung vermitteln. Weil der Bundeskanzler rhetorisch leider ausfällt, vom Bundespräsidenten seit Längerem nichts Wegweisendes mehr zu hören ist und der Bundestrainer auch nicht mit Geistesblitzen glänzt, müssen andere ran. Eine tolle Chance für den Oppositionsführer! Friedrich Merz wäre nicht Friedrich Merz, ließe er diese Gelegenheit zur Profilierung links liegen, nee, auf den Mann ist Verlass. Pünktlich zum Fest hat der CDU-Chef den Kauf eines Weihnachtsbaums mit höchsten Weihen geadelt: "Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen", stellte er in einem Interview klar. Meinem Kollegen Philipp Michaelis sind fast die Kugeln von der Tanne gefallen, als er das gehört hat.

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Dabei ist dieser Satz ein genialer Schachzug und zugleich eine Einladung an die gesamte Bevölkerung: Weil die CDU-Spitzen zwar die Forderung nach einer "Leitkultur" in ihr neues Grundsatzprogramm hineingeschrieben haben, aber selbst Tage später immer noch nicht erklären können, was sie damit eigentlich meinen, denkt sich der Chef nun höchstpersönlich etwas aus und setzt damit kreative Maßstäbe. Ob dabei ganze deutsche Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen werden – Atheisten, Muslime, Juden, Weihnachtsmuffel zum Beispiel –, spielt keine Rolle. In schwierigen Zeiten ist klare Kante gefragt, sonst wird das nichts mit der nationalen Selbstbesinnung.

Zugleich lässt die Merz'sche Kulturdefinition so viel Spielraum, dass jeder Berufene sie durch eigene Einfälle ergänzen kann. Wie aus der CDU-Zentrale zu hören sein soll, plant man dort, auch den Rauschgoldengel, den Kartoffelsalat und das Lied "Stille Nacht" (aber langsam intoniert!) in den Stand der Leitkultur zu erheben. Wer derlei nicht mag, ist künftig raus. Angeblich arbeiten findige Geister bereits an Leitanträgen, wie Kulturverächter wahlweise mit höheren Steuern, einer Zwangsmitgliedschaft in der CDU oder der Dauerbeschallung mit Friedrich-Merz-Reden bestraft werden können. Der Kreativität sind auch hier keine Grenzen gesetzt.

Kulturfragen sind Schicksalsfragen, da darf man keine kleinen Brötchen backen. Der emsige CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wird deshalb sicherlich zum neuen Jahr eine weitere Grundsatzkommission einberufen, die Vorschläge für gesetzlich zu verankernde Leitkulturregeln erarbeitet. Die kann die Union dann bundesweit einführen, sobald sie wieder an die Macht kommt. Ganz vorn in diesem Regelwerk – so viel ist klar – werden die unantastbare Würde des Menschen, der Rechtsstaat, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichheit von Männern und Frauen stehen. Glaubens-, Meinungs-, Kunst-, Wissenschafts- und Demonstrationsfreiheit kommen hinzu.

Über all diese wichtigen Prinzipien wird man in der CDU lang und breit diskutieren. Man wird Für und Wider abwägen und am Ende zu dem Schluss kommen, dass es all das unbedingt braucht, um den Wesenskern des deutschen Staates zu erhalten. Vielleicht wird dann irgendein Referent von Herrn Merz auf den Gedanken kommen, mal das Grundgesetz aufzuschlagen, wo all das und noch viel mehr seit 74 Jahren exakt so drinsteht. Und dann wird man den Kokolores mit der Leitkultur hoffentlich ad acta legen.


Hilfe dringend gefordert

Während hierzulande allmählich Feiertagsstimmung aufkommt, herrscht andernorts bittere Not. Über die Kriege gegen die Ukraine und im Gazastreifen wird täglich berichtet, über andere Elendsorte nicht. Vor einem Jahr reiste ich nach Ost-Kenia, um über die Folgen der verheerenden Dürre zu berichten. Meine Erlebnisse schilderte ich in mehreren Tagesanbrüchen, Leserinnen und Leser spendeten mehr als 100.000 Euro für hungernde Kinder. Die Unterstützung durch Hilfsorganisationen sichert vielen Familien das Überleben.

Doch ein Jahr später ist die Lage vor Ort immer noch schlimm. Diesmal ist es nicht Trockenheit, sondern Wasser, das den Menschen ihre Lebensgrundlage raubt: Begünstigt vom Klimawandel und dem Wetterphänomen El Niño hat es in der Region wochenlang geregnet. Der ausgedorrte Boden kann die Wassermassen nicht aufnehmen, ganze Landstriche sind überflutet. Ernten wurden vernichtet, Hütten zerstört, Tiere sind ertrunken. Nahrung fehlt, Seuchen brechen aus, fast eine Million geschwächte Kinder kämpft ums Überleben.

"Garissa erlebt die schlimmsten Fluten seit 15 Jahren", berichtet Unicef-Mitarbeiter Tom Amolo, den ich vor einem Jahr in dem Ort in Ost-Kenia traf. Nun schlägt er abermals Alarm: "Straßen sind zerstört, viele Menschen sind von medizinischer Versorgung und Ernährungshilfe abgeschnitten. Zusätzlich sind die Preise für Lebensmittel gestiegen, was die Situation für viele Familien verschlimmert. Wir liefern therapeutische Spezialnahrung an alle Gesundheitsstationen rund um Garissa, um die schwer mangelernährten Kinder zu versorgen."

Wenn Sie etwas Gutes tun möchten, können Sie die Helfer vor Ort unterstützen. Schauen Sie mal hier oder hier oder hier.


Prag unter Schock

Die Bürger der tschechischen Hauptstadt sind fassungslos: An der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität, nur wenige hundert Meter von der berühmten Karlsbrücke entfernt, sind gestern 15 Menschen bei einem Schusswaffenangriff gestorben. Dutzende wurden verletzt, neun von ihnen schwer. Auch der mutmaßliche Schütze – offenbar ein Student der Hochschule, der kurz zuvor seinen Vater ermordet hatte – ist der Polizei zufolge tot. Ein Zusammenhang zum internationalen Terrorismus bestehe nicht, teilte der Innenminister mit.


Feuerpause in Nahost?

Auch im Gazastreifen herrscht keine vorweihnachtliche Ruhe, ganz im Gegenteil: Ungeachtet der amerikanischen Mahnungen an Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, seinen Kurs zu mäßigen, wurde gestern eines der stärksten israelischen Bombardements seit Kriegsbeginn gemeldet. Vor allem im Norden waren Explosionen und Rauch zu sehen. Die Terrororganisation Hamas antwortete mit Raketenbeschuss auf Tel Aviv.

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Dennoch gibt es die Chance für eine neue Feuerpause: Hamas-Chef Ismail Haniyya hält sich seit Mittwoch zu Gesprächen mit amerikanischen, israelischen und katarischen Vertretern in Kairo auf. Während Israel nur eine vorübergehende Unterbrechung der Kämpfe will, um israelische Geiseln gegen palästinensische Gefangene auszutauschen, strebt die Hamas einen dauerhaften Waffenstillstand an. So wichtig es ist, die Terrorbande zu zerschlagen, so sehr wünscht man den Menschen beidseits der Front endlich etwas Frieden!


Ukrainische Mobilmachung

Immer besorgniserregender klingen die Nachrichten aus der Ukraine: Während das von Russland angegriffene Land Geländegewinne des Aggressors bestätigen muss und die Unterstützung der USA bröckelt, gehen der vom Stellungskrieg ausgezehrten ukrainischen Armee nun auch noch die Kämpfer aus. Die Militärspitze fordert von Präsident Selenskyj 450.000 bis 500.000 weitere Soldaten. Verteidigungsminister Rustem Umerow will daher im kommenden Jahr auch in Deutschland lebende Ukrainer zum Kriegsdienst verpflichten. Zwar spricht er von einer "Einladung" – kündigt zugleich aber Sanktionen für Verweigerer an. Was gäbe man für einen Meteoriten, der den Terroristen im Kreml trifft!


Bild des Jahres

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat das Foto des Jahres gekürt. Es zeigt eine Szene aus dem Alltag von Kindern in der Ukraine: Ein Mädchen lernt Fahrradfahren, während im Hintergrund ein Öllager brennt. Weitere ausgezeichnete Fotos sehen Sie hier.


Ohrenschmaus


Lesetipps

Fast neun Millionen Deutsche liegen kurz vor Weihnachten mit einer Infektion der Atemwege flach. Wird Corona wieder zur Gefahr? Meine Kollegin Melanie Rannow klärt Sie auf.


In der Türkei wächst die Wut über Erdoğans konfuse Politik. Der Präsident startet deshalb seinen nächsten Erpressungsversuch, berichtet mein Kollege Patrick Diekmann.


Wie gelingt ein stressfreies Weihnachtsfest? Die Kollegen des NDR geben Tipps.


Zum Schluss

Heißt es nicht immer, Motorradfahrer seien rücksichtslos? Quatsch mit Soße!

Ich wünsche Ihnen einen gemütlichen Wochenausklang mit Vorweihnachtsklängen. Zwar soll es vielerorts stürmen – aber ab heute werden die Tage wieder länger! Morgen erscheint der letzte Tagesanbruch des Jahres, anschließend pausieren wir bis zum 7. Januar.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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