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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russlands Vorstoß Experte: "Das sieht für die Ukraine nicht gut aus"
Der eisige Winter in der Ukraine spielt Russland in die Karten. Die Ukrainer kämpfen dagegen mit mehreren Herausforderungen, wie Militärexperte Ralph Thiele aufzeigt.
Das ukrainische Militär hat deutliche Geländegewinne der russischen Bodenoffensive bestätigt, die seit zwei Monaten im Südosten der Ukraine stattfindet. Die hohen Verluste auf russischer Seite hindern die Truppen nicht daran, weiter vorzurücken.
Sogar der Winter verschafft Russland deutliche Vorteile, wie Militärexperte Ralph Thiele im Interview mit t-online erklärt.
Bei der Suche der Ukraine nach zusätzlichen Soldaten will der neue Verteidigungsminister Rustem Umjerow kommendes Jahr auch im Ausland lebende Männer zum Wehrdienst heranziehen. Das ukrainische Militär möchte 450.000 bis 500.000 weitere Soldaten mobilisieren. Die finanziellen und politischen Rahmenbedingungen sind jedoch noch nicht geklärt.
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Es ist ein Kampf ums Überleben in Eis und Schnee.
Minusgrade erschweren den Ukrainern die Gefechte, Drohnen und Fahrzeuge sind eingefroren. Hinzu kommt der Mangel an Soldaten.
All das spiele derzeit den Russen in die Hände, erklärt Militärexperte Ralph Thiele im t-online-Interview.
“Die Russen haben viel mehr Personal und können das dann eben auch immer wieder generieren. Sie haben eine florierende Kriegswirtschaft, die Ukrainer gar nichts und ihre Partner stocken in der Lieferung. Von daher ist das schon mal recht schwierig. Dann war die Ukraine auf Gegenoffensive getrimmt, das heißt, sie wollte angreifen, hat aber keine Verteidigungsstellung. Wenn man angreift, buddelt man sich ja nicht ein, sondern wieder nach vorne. Während die Russen eine sehr gut ausgetüftelte Verteidigungstiefe haben, mit allen möglichen Stellungen und Schwierigkeiten, sodass das im Prinzip nicht wirklich gut aussieht für die Ukraine.”
Derweil plant Russland, seine Streitkräfte auf 1,5 Millionen Mann aufzustocken.
Auch russische Soldaten berichten von prekären Zuständen an der Front.
Es gebe keine ausreichende Versorgung, Gehälter sollen nicht ankommen und Medikamente müssen angeblich aus eigener Tasche bezahlt werden.
Trotzdem schaffe es Russland, Fortschritte zu machen.
“Man erhöht den Druck und die Menschen folgen. Das ist überall so, auch in Gefängnissen. Ist überall so, von daher klappt das schon. Sie werden dennoch relativ gut bezahlt. Das heißt, die Familien haben etwas davon. Auch das klappt. Zum dritten sind das ja auch lernende und denkende Wesen. Das heißt, nach so langer Kriegszeit haben auch dort viele dazugelernt. Und dann ist es tatsächlich so, es gibt ja auch unterschiedliche Klassen. Es gibt ja durchaus Leute, die als Verbrauchsmaterial eingesetzt werden. Aber es gibt auch andere, die hochspezialisiert und klug auch mit modernen Waffensystemen unterstützt dort handeln.”
In der Ukraine meldeten sich zu Kriegsbeginn Zehntausende von Freiwilligen, um die russische Invasion abzuwehren. Nun mangelt es an Soldaten.
Zusätzliche 500.000 Personen möchte das ukrainische Militär mobilisieren. Doch viele Menschen in der Ukraine sind skeptisch:
“Es hat keinen Sinn, große Mengen von Menschen zu mobilisieren und sie dann ohne Ausrüstung zurückzulassen.”
“Es ist nicht nur der Mangel an Menschen, das Hauptproblem ist der Mangel an Waffen. Wenn wir alles bekämen, was uns versprochen wurde, sähen die Ergebnisse ganz anders aus”
Kiew ist auf westliche Militärhilfe angewiesen, um die russischen Truppen an der Front zu bekämpfen. Doch der Nachschub stockt. Von den USA wird es in diesem Jahr etwa keine neuen Militärhilfen für die Ukraine geben. Das beschloss der US-Kongress.
Thiele macht daher auch die westlichen Verbündeten für die Lage der Ukrainer verantwortlich:
“Man kann das bei den Panzerzusagen sehen, bei denen ja Deutschland als Bremsklotz international dargestellt wurde. Aber de facto all die anderen, die uns gedrängt haben, dann auch nicht oder gar nicht geliefert haben. Wir können es bei der Munition sehen, wo wir die 1 Million Schuss für die Artillerie versprechen, jetzt inzwischen etwa 400.000 geliefert haben. Man muss dabei wissen: Die Ukraine verbraucht im Monat etwa 200.000. Das heißt, wir haben nach fast einem Jahr für zwei Monate die Artilleriemunition geliefert in einem Artilleriekrieg, bei dem sie ja nicht einfach aufhören können zu schießen, dann sind sie ja nur noch Opfer.”
Vor allem die baltischen Staaten sowie die russischen Anrainerstaaten wie Finnland befürchten, dass Putin seine Invasion ausweiten könnte.
Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius warnte jüngst vor einer militärischen Bedrohung. Der SPD-Politiker erklärte gegenüber der “Welt am Sonntag”, dass der Kreml seine Rüstungsproduktion erheblich steigere. Deutschland und die NATO hätten da Nachholbedarf.
Thiele sieht das anders:
“Wir hätten ja schon vor zwei Jahren vorbereitet sein müssen. Tatsächlich verlieren wir ja Ausrüstung und Munition, weil wir die abgeben seit zwei Jahren. Das heißt, wir stehen jetzt nach zwei Jahren Vorbereitung schlechter da als vor zwei Jahren, und dies noch fünf bis acht Jahre weiterzumachen, ist, wie gesagt, ein schräges Unterfangen. Ich glaube, was er wirklich macht, ist, er versucht alle wachzurütteln: Hier muss was getan werden. Das ist in Ordnung und ist auch wichtig. Der Gedanke, dass Russland dann gleich weitermacht, erschließt sich mir auch nicht. Ich weiß, dass es da viele gibt, die immer damit drohen. Das macht sich im Grunde öffentlich ganz gut, weil man sagt, deswegen müssen Ressourcen her, weil wir müssen jetzt im Grunde befürchten. Die Wirklichkeit ist ja eher die, Russland geht es darum, in seinem Vorfeld wieder den Westen rauszuhaben. Das heißt, der ist ja jetzt schon umkämpft, und alles, was wir jetzt im Augenblick machen, durch unsere schwache Unterstützung der Ukraine, ist ja diesen Wunsch, Russlands zu unterstützen.”
Putin hatte die Gegenoffensive der Ukraine wiederholt für gescheitert erklärt. Zwar zeigte sich der russische Präsident zu Gesprächen bereit, betonte aber, nicht von seinen bisherigen Zielen abrücken zu wollen.
Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist daher weiter nicht in Sicht.
Wieso Ralph Thiele auch den Westen für die prekäre Lage der Ukrainer verantwortlich macht, welche Vorteile Russland im Winter für sich nutzt und wie der Experte die Lage für die Ukraine einschätzt, erfahren Sie im Videobeitrag hier oder oben.
- Eigenes Interview mir Oberst a.D. Ralph Thiele
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters
- Nachrichtenagentur dpa