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Tagesanbruch – Das ist verblüffend dreist


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Tagesanbruch
Das ist verblüffend dreist

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 22.05.2023Lesedauer: 6 Min.
Olaf Scholz (l.) und Hendrik Wüst beim Flüchtlingsgipfel: Zahlenwirrwarr ganz in ihrem Sinne.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz (l.) und Hendrik Wüst beim Flüchtlingsgipfel: Zahlenwirrwarr ganz in ihrem Sinne. (Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es gibt Dinge in der Politik, die sind Rituale wie die Ausstrahlung von "Dinner for One" am Silvesterabend oder das Amen in der Kirche. Nach schweren Straftaten, die von Flüchtlingen begangen wurden, gehört es in Deutschland dazu, dass die Emotionen hochkochen, die Boulevardpresse aufdreht – und Politiker mehr Abschiebungen fordern, insbesondere von Straftätern.

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Ob es sich um einen Messerangriff oder eine Vergewaltigung handelt, ob die Tat in Brokstedt, Illerkirchberg oder Freiburg geschieht: Meistens dauert es nicht lange, bis die erste entsprechende Forderung laut wird. Und aus einer Stimme wird schnell ein Chor.

Denn die Forderung ist populär. Wer hier nur zu Gast ist und sich so eklatant nicht an die Regeln hält, wer der Solidarität sogar die Gefährdung oder die Beendigung des Lebens entgegensetzt, der hat hier nichts zu suchen. Der muss gehen. Und zwar sofort.

Auch deshalb machte die Ampelregierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) die konsequente Abschiebung von Flüchtlingen, die Straftäter oder Gefährder sind, zu einem zentralen Versprechen in ihrem Koalitionsvertrag. "Null Toleranz für Straftäter und Gefährder" versprach Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in Nordrhein-Westfalen schon 2021. Und vor dem Flüchtlingsgipfel vor rund zehn Tagen betonte Hessens Regierungschef Boris Rhein (CDU): Straftäter und Gefährder müssten Deutschland verlassen. "Wer unsere Hilfe derart missbraucht, kann in Deutschland keine Zukunft haben."

Dass Populäres oft nicht leicht umzusetzen ist, wissen Politiker natürlich. Besonders kompliziert ist es allerdings bei den Straftätern unter den Flüchtlingen. Es gibt juristische Gründe dafür, warum selbst Intensivtäter nicht immer abgeschoben werden können. Etwa, weil sie aus einem Land kommen, in dem Krieg herrscht oder es keine Regierung gibt, mit der man über ihre Rückführung verhandeln könnte. Andere Staaten wiederum sperren sich gegen die Rücknahme ihrer Landsleute oder kooperieren nicht bei der Beschaffung neuer Ausweisdokumente.

Es ist eine komplizierte Realität, auf die Politiker im Alltag allerdings oft nur wenig Rücksicht nehmen. So leicht man mehr Abschiebungen auch fordern mag, so schwer sind sie tatsächlich umzusetzen. Viel reden, wenig erreichen – das ist allzu oft die Devise bei diesem Thema.

Dass es sich dabei allerdings um eine politische Posse handelt, verblüfft dann doch. Denn trotz der vielen Versprechen kümmert sich die Politik nicht darum, die Zahlen von Straftätern einheitlich zu erheben, die ausreisepflichtig sind oder in den vergangenen Jahren aus der Haft heraus abgeschoben wurden. Dabei sollte gerade Letzteres ein einfaches Unterfangen sein. Schließlich haben die Behörden über jemanden nie mehr Kontrolle als dann, wenn er in Haft ist.

Doch Fehlanzeige. Wer – wie t-online es hier getan hat – die Länder dazu abfragt, erhält einen absurd anmutenden Zahlenwust. Während manche Länder einige Zahlen liefern, können Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nicht einmal sagen, wie viele Straftäter sie im vergangenen Jahr direkt aus der Haft abgeschoben haben. Und auch das Bundesinnenministerium führt dazu keine Statistik.

Dabei gibt es diese Statistiken vermutlich in jedem Bundesland. Nur eben nicht in den Ministerien, sondern in den untergeordneten Behörden. Dass sich offenbar niemand die Mühe macht, diese Zahlen vernünftig aufzubereiten, spricht Bände. Und sagt auch etwas darüber aus, wie ernst das Thema im Bürokratiealltag genommen wird.

Ein bundesweiter Überblick gar, womöglich auch noch über die Entwicklung über mehrere Jahre hinweg? Keine Chance. Stattdessen treibt der Föderalismus seine grotesken Blüten.

Die Vielversprecher und Ständigforderer dürfte die unzureichende Zahlenbasis wenig stören. So immerhin kommt ihnen beim nächsten Empörungsritual auch niemand mit dem Verweis auf lästige Details.


Kampfjets für Selenskyj

Der G7-Gipfel in Hiroshima, Japan, war für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein Erfolg: US-Präsident Joe Biden machte am Rande des Treffens vorsichtig den Weg für die Lieferung von F-16-Kampfjets frei. Ein Schritt, auf den die Ukraine bereits seit Monaten pocht. Auch Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark und Portugal beteiligen sich, indem sie, wie die USA, zunächst ukrainische Piloten an den westlichen Maschinen ausbilden.

Auch Deutschland könnte diesen Weg gehen. Denn wie Frankreich und Großbritannien besitzt es selbst keine F-16, könnte aber bei der Ausbildung helfen. Doch der Bundeskanzler hält sich zurück. Statt neuen Waffensystemen will Olaf Scholz lieber einen Nachschub an Waffen schicken, an denen ukrainische Soldaten bereits trainiert werden.

Derweil ermittelt das Landeskriminalamt Berlin offenbar wegen der möglichen Vergiftung zweier Exil-Russinnen in der deutschen Hauptstadt. Die Journalistinnen hatten Ende April eine Konferenz des Kremlkritikers Michail Chordorkowski besucht und klagten kurz zuvor beziehungsweise danach über gesundheitliche Probleme.


Die Wahl zu gewinnen, ist vielleicht nicht genug

Griechenland hat am Sonntag ein neues Parlament gewählt, rund zehn Millionen Bürger waren zur Wahl aufgerufen. Ersten Hochrechnungen zufolge konnte der konservative Amtsinhaber Kyriakos Mitsotakis mit seiner Partei Neo Dimokratia (ND) rund 41 Prozent der Stimmen erringen. Mit rund 20 Prozent lag die linksgerichtete Partei Syriza von Alexis Tsipras abgeschlagen auf Platz zwei. Auf dem dritten Platz landete die sozialdemokratische Pasok mit 12,5 Prozent.

Mitsotakis' Pech: Für einen Alleingang seiner Partei dürfte es trotzdem nicht reichen – und Koalitionen sind bisher keine in Sicht. Für die Griechen könnte das bedeuten, dass sie schon im Juli erneut wählen müssen. Welche Rolle dabei ein neues Wahlrecht, gestiegene Lebensmittelpreise und eine Abhöraffäre spielen, hat meine Kollegin Camilla Kohrs vorab hier erklärt.

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Alarmstufe Rot in Italien

Die Bilder erinnern an die Jahrhundertflut im Ahrtal 2021: Norditalien steht unter Wasser, Tausende müssen evakuiert werden, viele Häuser sind von der Umgebung abgeschnitten. Mindestens 14 Personen sind gestorben – und weder in der Region Emilia-Romagna noch auf der Mittelmeerinsel Sizilien gibt es bisher Entwarnung. Geologen warnen nun vor Erdrutschen. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni brach wegen der Notlage am Sonntag frühzeitig vom G7-Gipfel in Japan auf. "Mein Gewissen verlangt von mir, zurückzukehren", sagte sie. Nach der Landung in Rimini hielt es die Politikerin wie vor zwei Jahren die wahlkämpfende Annalena Baerbock: keine Presse, kein großer Medienrummel, im Fokus sollten Gespräche mit den Betroffenen stehen. Überliefert sind dennoch Fotos von Meloni im Gespräch mit Anwohnern – wie sollte es anders sein.


Was steht an?

Der Montag steht in Berlin ganz im Zeichen der Sicherheit: Am Morgen tagt ein Symposium des Bundesamts für Verfassungsschutz zum Thema "Wertvoll und wehrhaft – Die Demokratie im Wettstreit mit dem Autoritarismus", bei dem auch Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang eine Rede halten wird. Am Abend dann wird der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, an einer Diskussion zu Russlands Angriffskrieg, Chinas Machtstreben und den Gefahren für Deutschland teilnehmen.

Die EU-Außenminister treffen sich in Brüssel. Auch hier spielt Russlands Krieg gegen die Ukraine eine zentrale Rolle. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba soll am Vormittag per Video zu den Beratungen zugeschaltet werden.

Der britische Prinz Edward besucht Deutschland: Gemeinsam mit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und der Berliner Senatorin für Bildung, Katharina Günther-Wünsch, besucht er eine Schule in Berlin-Wedding.


Lesetipps

Wer hat die Nord-Stream-Pipelines gesprengt? Nach den Recherchen von t-online, die publik machten, dass russische Boote am Tatort waren, liefert ein Recherchekollektiv von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" neue Spuren, die in die Ukraine führen sollen. Falls Sie inzwischen den Überblick verloren haben: Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hat die drei wichtigsten Theorien zur Sabotage hier zusammengefasst.

Fast so spannend ist es derzeit in der Bundesliga, wo Borussia Dortmund und Bayern München sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Nach einem 3:0 beim FC Augsburg steht der BVB nun an der Spitze der Tabelle. Ein Sieg gegen Mainz würde die Dortmunder zum Meister machen. Und die Borussen glauben an sich. "Männer, wir werden es", schallte es bereits durch den Augsburger Kabinengang, wie meine Kollegen Julian Buhl und Benjamin Zurmühl berichten. Die Meisterschaft im Blick hat auch Mats Hummels, auch wenn er aus Augsburg ein Veilchen am linken Auge mitgebracht hat. Am kommenden Samstag um 17:20 Uhr wissen wir mehr.

Wärmepumpen, Fotovoltaik, Biomasse? Hauseigentümer stehen angesichts des geplanten Heizungsgesetzes vor vielen Fragen. Der Experte Michael Geißler erklärt im Interview mit Gerhard Spörl, worauf es jetzt wirklich ankommt.

Aktivisten der "Letzten Generation" greifen zu immer ausgeklügelteren Maßnahmen. Neuestes Blockade-Utensil: ein Kupferrohr. Wie der Trick funktioniert, erklärt meine Kollegin Christine Holthoff hier.


Ohrenschmaus

Wem ein wenig Antrieb fehlt für den Start in die Woche, dem sei der Song "Cloudy Shoes" von Damien Jurado empfohlen. Er lässt Sie sanft in den Montag schweben. Und wenn was schiefgeht? Auch okay! Hier können Sie ihn hören.


Zum Schluss

Die G7 diskutierten nicht nur über Russland, sondern auch über China. Mit Folgen?

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Morgen begleitet Sie Florian Harms wieder in den Tag.

Herzlichst,

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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