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Polizeigewalt in Deutschland: Das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet


Tagesanbruch
Das kann nicht wahr sein

MeinungVon Tim Kummert

Aktualisiert am 17.05.2023Lesedauer: 6 Min.
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Festnahme eines Demonstranten am 1. Mai: "Uns trennt nur das Recht vom Chaos."Vergrößern des Bildes
Festnahme eines Demonstranten am 1. Mai: "Uns trennt nur noch das Recht vom Chaos." (Quelle: IMAGO/Andreas Friedrichs)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

in einer Verfilmung der Fälle des Rechtsanwalts Ferdinand von Schirach heißt es am Ende: "Uns trennt nur noch das Recht vom Chaos: Eine dünne Schicht aus Eis. Darunter ist es kalt und man stirbt schnell."

Das klingt theatralisch. Doch diese Sätze sind wahr.

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Ob das Grundgesetz, das Strafgesetzbuch oder die Straßenverkehrsordnung – es handelt sich dabei nicht um technische Gedankengebäude für ein paar Juristen. Hier finden sich die Regeln, nach denen unsere Gesellschaft zusammenlebt. Damit nicht einfach derjenige seinen Willen bekommt, der härter mit der Faust zuschlagen kann. Damit nicht das vollständige Chaos ausbricht.

Problematisch wird es dann, wenn sich diejenigen, die diese Regeln im Alltag durchsetzen sollen, selbst nicht mehr daran halten. Dann droht, wie es in der Schirach-Verfilmung heißt, der Einbruch ins Eis.

Warum schreibe ich Ihnen das an diesem Mittwochmorgen? Weil Deutschland offenbar ein Problem hat. Am Dienstag wurde eine Studie zur Polizeigewalt vorgestellt. Ein Team um den Forscher Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt hat seit 2018 ausgewertet, wann es zu Übergriffen durch Polizeibeamte kam.

"Gewalt im Amt" lautet der Titel der Studie. Singelnstein und sein Team haben mit 3.300 Menschen gesprochen, die angeben, Opfer von Polizeigewalt geworden zu sein. Sie haben zudem mehr als 60 Interviews mit Polizisten, Staatsanwälten und Richtern geführt, mit Opferberatungsstellen und Anwälten geredet.

Das Ergebnis: Rechtswidrige polizeiliche Gewalt wird fast nie angezeigt – und wenn doch, werden die Fälle in mehr als 90 Prozent von den Staatsanwaltschaften eingestellt. Es geht um eine hohe Dunkelziffer, nicht jeder einzelne Fall lässt sich rekonstruieren, repräsentativ sind die Ergebnisse nicht. Doch die Forscher zeigen: Die deutsche Polizei muss besser kontrolliert werden. Dass diese Studie die erste ihrer Art ist, spricht Bände.

Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Wenn Polizisten angegriffen werden, müssen sie sich wehren können. Und ebenso müssen sie das geltende Recht durchsetzen, bei einer Wohnungsräumung genauso wie bei einer Demonstration. Dazu braucht es manchmal auch Gewalt.

Doch die Polizisten gelten im Moment ihres Handelns für viele als das menschgewordene Gesetz. Als das personifizierte Recht. Es ist deshalb nicht egal, wenn ein Polizist kurzerhand etwas mehr Pfefferspray benutzt als nötig. Oder wenn ein anderer mit dem Wasserwerfer länger und härter in die Menge zielt, als es angemessen gewesen wäre. Oder eben mal kurz etwas härter zudrückt, damit das Gezappel der Festgenommenen aufhört. Genau dort verläuft die Grenze zwischen Recht und Unrecht. Und zur Gewalt.

Durch die Medien gehen immer wieder verschiedene Fälle. Es geht um die sogenannten Schmerzgriffe, die Polizisten bei der "Letzten Generation" anwenden. Oder um den Fall von Sarah N., über den "Zeit Online" ausführlich berichtete. Sie hatte mit den Demonstrationen anlässlich des G20-Treffens vor einigen Jahren in Hamburg nichts zu tun, trotzdem wurde sie vom Fahrrad gerissen, getreten und zu einer Kreuzung geschleift – von Polizisten. So erzählt sie es heute. Oder um den 16-jährigen Geflüchteten, der im August des vergangenen Jahres von einem Polizisten erschossen wurde, weil er ein Messer in der Hand hielt. Mittlerweile ist der Polizist wegen Totschlags angeklagt.

Insgesamt, in der Gesamtstatistik, erheben Staatsanwaltschaften in etwa 20 Prozent der Ermittlungsverfahren eine Anklage. Anders sieht es bei den Beamten aus. Wenn gegen Polizisten ein Verfahren wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet wird, kommt es laut der Statistik der Staatsanwaltschaften nur in zwei Prozent der Fälle dazu.

Im Jahr 2021 wurden insgesamt 80 Polizisten angeklagt. Gemäß der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts wurden 27 von ihnen verurteilt. 25 wurden freigesprochen, und bei 28 Angeklagten wurde das Verfahren durch das Gericht eingestellt. Die Verurteilungsquote lag damit bei 34 Prozent. Auch das ist deutlich niedriger als im Durchschnitt aller Strafverfahren. Dort liegt sie bei 81 Prozent.

Das Team um den Forscher Singelnstein räumt ein: "Die Grenzen zwischen angemessener und übermäßiger polizeilicher Gewalt sind fließend und nicht immer leicht zu ziehen". In den meisten Fällen (81 Prozent) waren andere Polizisten dabei, wenn ein Kollege, meistens sind es Männer, zuschlug.

Die Gründe dafür sind laut den Untersuchungen verschieden: Beamte sagen selten gegeneinander aus, es herrscht offenbar ein Korpsgeist. Die Staatsanwaltschaften wiederum glauben häufiger der Polizei, schließlich arbeitet man im Alltag eng zusammen.

Ein Fünftel der Betroffenen von Polizeigewalt in der Studie erklären, dass die Nichtbefolgung von Anweisungen zur Eskalation geführt habe. Zudem seien für viele die Polizeimaßnahmen nicht nachvollziehbar gewesen, bevor es dann zur Gewalt kam. Die Beamten wiederum erklärten, Personalknappheit und Zeitdruck würden dazu führen, dass sie und Kollegen unverhältnismäßig Gewalt anwendeten.

Die deutsche Polizei tut also auch schon mal einem Bürger weh, weil es eben mal schnell gehen muss? Das will man eigentlich gar nicht glauben. Und ja, es mögen Einzelfälle sein, weil der Großteil der Beamten seinen Job ordentlich macht. Die Studie zeigt dann aber doch, dass die Polizei transparenter arbeiten muss.

In etlichen Bundesländern gibt es bereits einen Beauftragten für Polizeigewalt. Dieser Posten muss in allen Ländern Standard werden. Und ja, auch mehr Bodycams, also kleine Kameras, die an den Oberkörpern der Beamten angebracht werden und ihr Handeln aufzeichnen, sind eine Option. Wer das Recht durchsetzt, für den gelten besondere Maßstäbe.

Singelnstein spricht sich zudem für eine unabhängige Ermittlungsstelle aus, um Schwierigkeiten in der Strafverfolgung zu reduzieren. Der Forscher selbst sagt laut "Süddeutscher Zeitung" übrigens: "Bei aller Beschäftigung mit dem Thema: Es hat mich doch überrascht, wie gering die Beschwerdemacht der Betroffenen ist und wie groß im Gegensatz die Definitionsmacht der Polizei."

Wenn diese Analyse zutrifft, dann gilt: Das darf nicht so bleiben. Sonst schwindet das Vertrauen in den Rechtsstaat. Und das Eis zerbricht.


Heute beginnt in Koblenz der Prozess gegen fünf mutmaßliche Mitglieder einer Terrorgruppe, die einen Umsturz in Deutschland geplant haben soll. Es handelt sich um vier Männer, zwischen 44 und 56 Jahre alt, und eine 75-jährige Frau. Der Vorwurf: Die Planung der Gründung einer terroristischen Vereinigung. Die fünf Angeklagten sollen auch geplant haben, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen.

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Nun könnte man denken: Naja, ein paar Verrückte. Die Wahrheit ist: Die Verrückten sind unter uns. Sie wohnen in schmucklosen Reihenhäusern, sie treffen sich in harmlosen Vereinsheimen. Und mancher schmiedet dort Pläne für einen Staat der anderen Art. Sie sagen, sie wollten mehr Demokratie. In Wahrheit wollen sie ihre Version einer Diktatur. Das eigentlich Gefährliche ist, wie lange diese Gruppe unentdeckt blieb. Die Ermittler sprechen davon, dass sie "bürgerkriegsähnliche Zustände" auslösen wollten. Da träumte also mancher von einem anderen Staat. Ohne den Bundestag und diese lästige Demokratie.


Was steht an?

Heute fällt die Entscheidung im Bestechungsprozess gegen den französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy. Dieser war gegen ein Urteil vom März 2021 in Berufung gegangen. Damals wurde er wegen Bestechung und unerlaubter Einflussnahme zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Auch Sarkozys langjähriger Anwalt Thierry Herzog und der Jurist Gilbert Azibert erhielten damals Haftstrafen. Der Vorwurf: Sarkozy soll 2014 versucht haben, über Herzog von Azibert Ermittlungsgeheimnisse in einer anderen Affäre zu erhalten.

Der deutsche Verteidigungsminister empfängt am Mittag seinen britischen Kollegen Ben Wallace in Berlin. Die beiden haben einiges zu besprechen. Die Gesprächsthemen umfassen die Abstimmungen der militärischen Unterstützung für die Ukraine, Vorbereitungen auf dem Weg zum Nato-Gipfel in Vilnius und die bilaterale Kooperation; geplant ist auch ein Austausch über das zukünftige Engagement in Afrika. Anschließend wird es ein gemeinsames Statement der beiden Verteidigungspolitiker geben.

Heute treffen Missbrauchsbetroffene aus dem Erzbistum München und Freising Papst Franziskus. Das Oberhaupt der katholischen Kirche hält eine Generalaudienz ab – die Betroffenen sind im Rahmen einer Fahrrad-Pilgerfahrt von München nach Rom geradelt.


Ohrenschmaus

Sind Sie aktuell gestresst? Vielleicht sogar davon, dass es besonders gut und schön werden soll, wenn Sie in den Urlaub fahren oder einen freien Tag vor sich haben? Halten Sie es doch mal mit Max Raabe: "Der perfekte Moment wird heut verpennt". Manchmal ist das nicht das schlechteste Rezept fürs Glück.


Lesetipps

Die "Letzte Generation" versucht mit neuen Methoden den Straßenverkehr zu behindern. Wie läuft das ab? Mein Kollege Nils Heidemann hat die Details. Und mein Kollege Jonas Mueller-Töwe geht der Frage nach, ob die Klimaaktivsten eine kriminelle Vereinigung sind. Seinen Text finden Sie hier.

Die Preise steigen – und viele Vermieter erhöhen die Miete. Kann man dem einfach nicht zustimmen? Meine Kollegin Christine Holthoff ordnet die Frage ein.

Was ändert sich nach den Vorwürfen gegen Til Schweiger? Die Schauspielerin Pheline Roggan hat mit meinen Kollegen Maria Bode und Sebastian Berning über Missstände in der Filmbranche gesprochen.


Zum Schluss

Mancher hegt eine ganz eigene Vorstellung davon, wie lange Produkte haltbar sind.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in diesen Mittwoch. Am Donnerstag erscheint wegen des Feiertags kein Tagesanbruch, am Freitag lesen Sie dann von meinem Kollegen David Digili aus unserer Sportredaktion.

Herzlichst,

Ihr Tim Kummert
Politischer Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @TKummert

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Mit Material von dpa.

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