Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Selenskyjs gefährliches Spiel gegen die Zeit
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
seit neun Monaten tobt eine brutale Schlacht um Bachmut in der Ostukraine. Es ist aktuell der wohl tödlichste Ort der Welt. Schätzungen zufolge sind bereits Zehntausende gestorben. Wir wissen das nicht genau, weil weder die Ukraine noch Russland ihre Verluste preisgeben.
Ich muss in diesen Tagen häufiger an eine ukrainische Kämpferin denken, die ich im vergangenen November in einem Dorf im Gebiet Charkiw getroffen habe, keine fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
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Die junge Frau, nennen wir sie Kataryna, hatte gerade erfahren, dass ihre Einheit nach Bachmut verlegt werden sollte. Eine befreundete Kompanie war zuvor bei einem russischen Sturmangriff quasi ausgelöscht worden: 76 Ukrainer starben an diesem Novembertag in Bachmut. Kataryna und ihre Kameraden mussten nachrücken.
Der Befehl, nach Bachmut zu gehen, war für die Soldatin keine gute Nachricht. Ihre Kameraden schienen sich zu freuen ("Endlich Action!", rief einer), Kataryna jedoch blieb still. Bachmut sollte ihr bisher gefährlichster Einsatz werden. Kämpfen wolle sie, ihr Land verteidigen, aber mit dem Heldentod verbinde sie nichts, sagte sie mir in einer ruhigen Minute: "Das Problem ist, dass ich wirklich nicht sterben will."
Mich hat das damals sehr berührt. Wir hören, zu Recht, viel über den Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer, von Mechanikern, Unternehmerinnen und Professoren, die über Nacht zu Freiheitskämpfern wurden. Kataryna aber war innerlich zerrissen zwischen dem Überlebenskampf ihres Landes und ihrem eigenen Lebenswillen.
Die Lage in der Stadt hat sich seitdem geändert: Die russische Armee steht mittlerweile im Norden, Osten und Süden Bachmuts, den verbliebenen ukrainischen Verbänden droht die Einkreisung.
Kataryna hat Bachmut überlebt, bisher. Sie schrieb mir vor Kurzem, sie habe mit Bedauern erfahren, dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Stadt weiter verteidigen will. Mittlerweile gibt es vermehrt solche Geschichten, die aus der ukrainischen Armee nach außen dringen: Soldaten beschweren sich über mangelnden Nachschub oder fühlen sich von Kiew im Stich gelassen. In der "Washington Post" beklagte sich ein Offizier über junge Rekruten, die nicht mal eine Granate werfen könnten.
Doch Selenskyj will Bachmut um jeden Preis halten. Die Stadt ist zum Symbol geworden – für den standhaften ukrainischen Widerstand, dafür, dass Russland seit vergangenem Sommer keine größere Stadt mehr erobern konnte.
Das weiß auch die pannengeplagte russische Armee, die unbedingt einen Erfolg braucht und deshalb umso verbissener um die Stadt kämpft. Russische Nationalisten vergleichen den Kampf um Bachmut schon mit der Schlacht von Stalingrad, was historisch gesehen Unsinn ist, aber zeigt, wie der Kampf um diesen strategisch im Grunde unwichtigen Ort mythisch verklärt wird.
Und so wird jeden Tag mehr Material, werden mehr Menschen in dieses Höllenloch geworfen. "Man braucht ständig weiteres Frischfleisch", sagte mir ein ukrainischer Drohnenpilot am Telefon.
Doch die Zweifel wachsen, ob der Plan Selenskyjs aufgeht. Denn je mehr gut ausgebildete Kämpfer die Ukraine in Bachmut verliert, desto weniger stünden ihr für eigene Offensivoperationen zur Verfügung, warnen Beobachter.
Denn die eigentliche Schlacht soll erst in ein paar Wochen beginnen. Vermutlich im April oder Mai will die ukrainische Armee zum Angriff übergehen. Die Frühjahrsoffensive soll alles Bisherige in den Schatten stellen und so viele ukrainische Gebiete wie noch nie von den russischen Besatzern befreien.
Die Führung in Kiew plant seit Monaten dafür, der Westen hat die entsprechenden Werkzeuge geliefert. Kampf- und Schützenpanzer, Kampfjets, GPS-gelenkte Raketen, die Schützengräben ausräuchern können: Noch nie wurde der Ukraine so schweres Kriegsgerät zur Verfügung gestellt. Umso höher sind die Erwartungen im Westen, dass der ukrainische Gegenangriff erfolgreich wird.
Noch ist die Erinnerung an die Gegenoffensive in Charkiw lebendig, die als Geniestreich galt: Anfang September rückten die Ukrainer blitzartig vor und überraschten die Kremltruppen, die ihre Stellungen fluchtartig verließen und eine Menge Ausrüstung zurückließen.
In der Folge entstand eine Art Heldenmythos um gerissene ukrainische Generale, die die schwerfällige Russen-Armee überrumpelten. Dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, widmete das amerikanische "Time"-Magazin sogar eine Titelgeschichte ("The General").
Doch je länger diese Erfolge zurückliegen, desto mehr machen sich Zweifel breit: Können sie es noch? Seit vier Monaten haben die Ukrainer keine größeren Angriffsoperationen mehr durchgeführt. Stattdessen nagt der Abnutzungskrieg im Donbass gefährlich an den eigenen Kräften.
Selenskyj hat hoch gepokert. 2023 werde das Jahr der Entscheidung und das Jahr des Sieges, hat er den Ukrainern versprochen. Von der Befreiung der Krim soll nicht mehr nur geträumt werden, sie wird geplant. Umso höher ist der Druck auf ihn, auch zu liefern. Die Frühjahrsoffensive wird Selenskyjs Schicksalsschlacht: Sie entscheidet über das Leben und die Freiheit von Millionen von Ukrainern, über die Existenz des ukrainischen Staates und womöglich auch über seine eigene politische Zukunft.
Denn sollte die Offensive scheitern, werden sich auch einige Nato-Staaten fragen, ob sie ihre Armeen für die Ukraine weiter ausweiden wollen, wenn das Gerät am Ende nur in Rauch aufgeht. Auch wenn die westlichen Verbündeten immer wieder betonen, die Unterstützung der Ukraine gelte "for as long as it takes" (Kanzler Scholz), solange es nötig ist, sind daran durchaus Zweifel angebracht.
In Demokratien gibt es keine Ewigkeitsgarantien, gesellschaftliche Stimmungen und politische Mehrheiten ändern sich. Viel spricht dafür, dass nach der ukrainischen Offensive die Karten neu gemischt werden.
Ende Februar gab es ein Leak. Quellen in der deutschen, britischen und französischen Regierung erzählten dem "Wall Street Journal", dass Europa die Ukraine zu Verhandlungen dränge. Bei Selenskyjs Paris-Besuch am 8. Februar sollen der französische Präsident Macron und Kanzler Scholz dem ukrainischen Staatschef klargemacht haben, dass er noch in diesem Jahr mit Russland verhandeln müsse.
Man kann davon ausgehen, dass die vertraulichen Informationen bewusst durchgestochen wurden, um den öffentlichen Druck zu erhöhen. Selenskyjs Zeitfenster verengt sich.
Überhaupt: Der Wind im Westen scheint sich zu drehen, vorsichtig. Der US-Generalstabschef Mark Milley zweifelte vor Wochen am Erfolg einer ukrainischen Krim-Offensive. Diplomaten wie der langjährige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, drängen darauf, schon jetzt Verhandlungen vorzubereiten. Und auch der Sicherheitsforscher Carlo Masala sagte mir kürzlich im Interview, dass nach der Offensive verhandelt werden müsse – "egal, wie die ausgeht".
Hinzukommt die Unberechenbarkeit Amerikas, dem Zugpferd im westlichen Lager. 2024 wird dort der Präsidentschaftswahlkampf die politische Debatte dominieren.
Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten der Republikaner – Donald Trump und Ron DeSantis (bisher inoffiziell) – haben angekündigt, die Ukraine-Hilfe der USA auf den Prüfstand zu stellen. Aber auch die Demokraten werden zurückhaltender agieren.
Es hätte dramatische Folgen für die westliche Unterstützung der Ukraine. Ohne den militärischen Nachschub aus den USA, die den Großteil der Waffenlieferungen stemmen, würde sie vermutlich kollabieren.
Der Ukraine bleibt also nicht viel Zeit. Die Uhr tickt. Für Selenskyj geht es ums Ganze.
Lauterbach gegen die Länder
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Deutsch-französische Ego-Spielchen
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Was amüsiert mich?
Die ukrainische Twitter-Community jedenfalls ist zuversichtlich, dass die westlichen Kampfpanzer die russischen Sowjetlauben schlagen werden.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag. Morgen schreibt an dieser Stelle die t-online-Chefreporterin Miriam Hollstein.
Herzliche Grüße
Ihr Daniel Mützel
Stellvertretender Ressortleiter Politik
Twitter: @DanielMuetzel
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Mit Material von dpa.
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