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Deutschlands Gas-Deal mit Katar: Habeck muss umkehren


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Tagesanbruch
Regierung verliert das wichtigste Ziel aus den Augen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.11.2022Lesedauer: 6 Min.
Robert Habeck setzt auf Gas und Kohle.Vergrößern des Bildes
Robert Habeck setzt auf Gas und Kohle. (Quelle: Markus Schreiber/AP/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Anspruch und Realität klaffen mitunter auseinander. In Krisenzeiten auch mal meilenweit. Seit Putins Angriff am 24. Februar herrscht eine Dauerkrise in Europa, für die Regierenden gibt es seither nur noch eine höchste Priorität: Sie wollen Deutschlands 83 Millionen Menschen um jeden Preis mit bezahlbarer Energie versorgen, damit diese weiterhin ihre Wohnungen heizen, alle Fabriken betreiben und in ihren Autos herumfahren können. Alle anderen Herausforderungen ordnen die Ampelkoalitionäre diesem Ziel unter. Sie beteuern, dies geschehe aus Verantwortungsbewusstsein, aber natürlich spielt auch die Angst vor Gelbwestenprotesten wie in Frankreich eine Rolle. Annalena Baerbock sprach im Sommer das hässliche Wort aus, das man auch im Kanzleramt fürchtet: "Volksaufstände". Später relativierte sie die Formulierung, was jedoch nichts an der Stimmungslage im Regierungsviertel ändert.

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Die klare Prioritätensetzung hat einschneidende Folgen für die künftige Entwicklung des Landes: Die langfristige Stabilität wird der kurzfristigen Krisenbekämpfung geopfert. Die Regierung agiert nicht, sie reagiert. Sie ignoriert Churchills berühmten Leitsatz "Never waste a good crisis", "Verschwende niemals die Chancen einer Krise". Sie erkennt nicht, dass sie die gegenwärtige Multikrise – erst Corona, dann Krieg, Inflation, Energiekosten, über allem die Erderhitzung – nutzen könnte, um die Weichen grundsätzlich neu zu stellen und die Mechanismen der Konsum- und Überflussgesellschaft infrage zu stellen. Stattdessen füttert sie das überkommene System, indem sie für horrende Summen in Arabien, Afrika und Amerika fossile Rohstoffe zusammenkratzt, und verliert darüber den Klimaschutz aus den Augen.

Wie gravierend der Widerspruch zwischen Worten und Taten ist, verdeutlicht der jüngste Erdgas-Deal mit Katar. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP steht klipp und klar: "Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität. Klimaschutz sichert Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand. Es gilt, die soziale Marktwirtschaft als eine sozialökologische Marktwirtschaft neu zu begründen. Wir schaffen ein Regelwerk, das den Weg frei macht für Innovationen und Maßnahmen, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen."

In Wahrheit läuft die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: Deutschland senkt seinen CO2-Ausstoß nicht, sondern steigert ihn weiter und entfernt sich immer weiter vom 1,5-Grad-Ziel. Das gestern verkündete Gasabkommen zementiert diesen Trend: Der Großkonzern Qatar Energy wird Flüssiggas an das amerikanische Unternehmen Conoco Phillips verkaufen, das es wiederum nach Brunsbüttel verschifft. Die erste Lieferung soll aber erst 2026 kommen, wenn das feste Terminal fertig ist und das in Windeseile errichtete Schwimmterminal ersetzen kann. "Die vereinbarten Liefermengen sind eher ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Energiesicherheit in Deutschland", schreiben meine Kollegen Daniel Mützel und David Schafbuch.

In der gegenwärtigen Energiekrise nutzt das Gas aus Katar nichts. Trotzdem soll es später 15 Jahre lang fließen. "15 Jahre ist super", sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck, der sich eigentlich auch Klimaminister nennt. Spätestens ab 2040 solle der Gasverbrauch nämlich "runtergehen", dann würden "andere Energieformen dominant".

2040. In 18 Jahren. Das ist mal eine Ansage. Statt über das 1,5-Grad-Ziel werden wir dann wohl eher über 3,5 Grad Erderhitzung reden.


Das Leserzitat

Warum kommt Deutschland beim Klimaschutz nicht voran? Der Tagesanbruch mit dem Titel "Die Schuld der Alten" zieht immer noch Kreise. Unter den vielen Zuschriften greife ich die E-Mail eines Lesers aus Baden-Württemberg heraus:

"Sehr geehrter Herr Harms,
ich bin seit mehreren Jahren regelmäßiger Leser des Tagesanbruchs und schätze die Berichte Ihres Teams sehr. Mit Ihrer heutigen Meinung stimme ich völlig überein, obwohl ich bereits zu den Älteren gehöre. Ich bin 57 Jahre alt, selbstständiger Logistiker und habe eigentlich große Begeisterung für Autos und einen funktionierenden Verkehr.

Die Begeisterung weicht in den letzten Jahren mehr und mehr der Erkenntnis, dass dieses System am Ende ist. Ich nutze, wenn möglich, Fahrrad, Pedelec und ÖPNV. Es fehlt mir in nahezu sämtlichen Berichterstattungen bezüglich des Klimawandels und der von Ihnen heute eindeutig erläuterten Themen eine klare Ansage der Politik, dass wir alle verzichten müssen. Der Wohlstand hängt mittlerweile weltweit sehr stark von der Autoproduktion ab, was die Umweltsituation weiter verschlechtert. Dies gilt auch für einen eventuellen Umstieg auf E-Mobilität.

Nach meiner Meinung müsste von der Politik ein Gesinnungswandel eingeleitet werden bezüglich der anzustrebenden Ziele in den einzelnen Gesellschaften. Es darf nicht mehr sein, dass über Generationen davon geträumt wird, endlich ein hochpreisiges Luxusauto zu fahren, eine Jacht zu besitzen oder einen Privatjet. In den gleichen Bereich fallen Fernreisen und der Wunsch nach überdimensionierten Immobilien.

Vielmehr sollte von der Politik die Aussicht auf eine lebenswerte Umwelt als ein Lebensziel propagiert werden. Dies wird nur funktionieren, wenn durch das automatische Wegfallen von Industriearbeitsplätzen notwendiger Verzicht auf Wohlstand von der breiten Gesellschaft akzeptiert wird und die Politik Alternativen aufzeigt. Dies ist die ureigene Aufgabe der führenden Politiker und kann von niemand anderem angestoßen werden."


Eckpunkte für die Einwanderung

Erinnern Sie sich noch an die "Kinder statt Inder"-Kampagne? Mit dem unsäglichen Slogan versuchte ein gewisser Jürgen Rüttgers vor mehr als 22 Jahren, Stimmung gegen die Anwerbung ausländischer IT-Experten zu machen und für die CDU bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu punkten (was misslang).

Heute ist man klüger und hat eingesehen, dass der deutsche Arbeitsmarkt dringend Zuwanderung braucht. Das Problem: Deutschland ist wegen der überbordenden Bürokratie für viele ausländische Fachkräfte gar nicht attraktiv. Auch deshalb hat Innenministerin Nancy Faeser von der SPD einen Entwurf zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts vorgelegt, demzufolge Einbürgerungen beschleunigt werden sollen, um die Integration von Migranten zu erleichtern und den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Hört man sich das Gezeter an, das seither in den Unionsparteien ausgebrochen ist, könnte man meinen, bei CDU und CSU sei die Zeit stehen geblieben. Dabei liegt es auf der Hand, dass die aus demografischen Gründen benötigten 400.000 zusätzlichen Arbeitskräfte pro Jahr kaum anders angelockt werden können. Von Wertschätzung und Zugehörigkeit mal ganz zu schweigen.

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Nun wäre die Ampel aber nicht die Ampel, wenn das Vorhaben nicht auch koalitionsintern umstritten wäre: Teilen der FDP geht die sogar im Koalitionsvertrag festgeschriebene Reform jetzt doch zu schnell. Umso spannender also, ob es dem Kabinett von Olaf Scholz heute gelingt, zumindest die Eckpunkte zur Fachkräftezuwanderung zu beschließen.


Grauen als Mahnung

Heute will der Bundestag auf gemeinsamen Antrag von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU hin das Verbrechen als Völkermord anerkennen. Eine Einstufung, für die Kiew seit Jahren wirbt – und in der aktuellen Lage ein Zeichen der Solidarität. "Mehr denn je treten wir in diesen Tagen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, der gleichzeitig einen Angriff auf unsere europäische Friedens- und Werteordnung darstellt, dafür ein, dass für Großmachtstreben und Unterdrückung in Europa kein Platz mehr sein darf", heißt es in der Resolution. Richtig so.


Urteil zu Polizistenmorden

Die Tat sorgte Ende Januar bundesweit für Entsetzen: Um seine Jagdwilderei zu vertuschen, soll ein 39-jähriger Deutscher bei einer nächtlichen Fahrzeugkontrolle in der Nähe der rheinland-pfälzischen Kreisstadt Kusel eine 24-jährige Polizistin und ihren 29 Jahre alten Kollegen erschossen haben. Seit Juni läuft der Prozess am Landgericht Kaiserslautern, heute Vormittag wird das Urteil erwartet. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft wegen Mordes in zwei Fällen und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Folgt das Gericht dem Antrag, käme der Hauptangeklagte auch nach 15 Jahren Gefängnis nicht frei.


Was lesen?

Russlands Armee scheitert am Widerstand der Ukraine – was bedeutet das für Putins Macht? Der Kremlchef zeige "deutliche Anzeichen eines Kontrollverlusts", sagt Timothy Snyder. Im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir erklärt der bekannteste amerikanische Historiker, wie es in Russland weitergehen könnte.


Der Erdgas-Deal zwischen Deutschland und Katar hat eine Vorgeschichte. Sie ist nicht nur für Robert Habeck unangenehm, schreibt unser Reporter Johannes Bebermeier.


Mit dem Bürgergeld befreit sich die SPD vom Hartz-IV-Fluch. Das wird ihr aber nichts bringen, meint unser Kolumnist Christoph Schwennicke.


Das Rätsel um die Lecks in der Nord-Stream-Pipeline ist immer noch ungelöst: Was geschah wirklich am Grund der Ostsee? Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe berichtet über brisante Entdeckungen.


Was amüsiert mich?

Deutschlands wertebasierte Außenpolitik ist bestechend!

Ich wünsche Ihnen einen stabilen Tag. Morgen schreibt Annika Leister den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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