Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Nationalspieler haben neue Botschaft für Deutschland
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es geht also doch! Mit einem mitreißenden Spiel hat sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Spanien ins Turnier zurückgekämpft. Selten war ein Unentschieden so glänzend, selten so wichtig. Nach der Niederlage gegen Japan zum Auftakt brauchten die Jungs von Bundestrainer Hansi Flick im zweiten Spiel unbedingt einen Erfolg. Sie erkämpften ihn mit Bravour und belegten damit einmal mehr die alte Fußballerweisheit: Als Turniermannschaft kann sich das DFB-Team von einem Spiel zum nächsten steigern.
Gegen eine Weltklasse-Elf wie Spanien muss man das erst mal schaffen. Da wird jeder klitzekleine Fehler bestraft – was Rechtsverteidiger Thilo Kehrer gestern Abend im Al-Bayt-Stadion öfter erfahren musste, als ihm lieb war. Da werden aber auch Einsatzbereitschaft, Spielwitz und Teamgeist doppelt belohnt – erst recht, wenn der Trainer beim Einwechseln das richtige Händchen hat. Dann passt alles zusammen. Dann sind der Frust nach dem Japan-Rückschlag, die viel gescholtene Mund-zu-Aktion und das Kuschen vor der Fifa schlagartig vergessen. Dann kommt vielleicht doch noch ein bisschen heiße WM-Stimmung im Winter auf.
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Der Abwehrrecke Niklas Süle, der Mittelfeldkämpfer Leon Goretzka sowie der wikingergleiche Niclas Füllkrug und der Zauberer Jamal Musiala im Sturm – das sind die Eckpfeiler der neuen Nationalelf, die gestern Abend einen Beweis erbracht habt: Stimmt die Moral, dann kommt auch der Erfolg. Und wenn Kimmich seine Flanken vor dem dritten Gruppenspiel noch ein paar Mal übt und David Raum wieder links verteidigen darf, kann gegen Costa Rica eigentlich nichts schiefgehen. Dann klappt es mit dem Achtelfinale vielleicht doch noch.
Und die Moral von der Geschicht'? Fußball kann viel mehr sein als nur ein Spiel, bei dem 22 Millionäre einem Ball hinterherrennen. Haltung entscheidet sich nicht nur an der Frage, ob man eine Regenbogenbinde am Arm trägt. Sie zeigt sich auch während 90 Spielminuten auf dem Platz. Wenn eine Nationalmannschaft alles gibt, trotz Rückstand nicht aufsteckt, schier unerreichbare Bälle weggrätscht, mit letzter Kraft fünf Gegenspieler umdribbelt, im entscheidenden Moment die Pille in den Kasten haut – dann ist das mehr als nur ein schnödes 1:1.
Dann kann so ein Spiel ein Zeichen ans ganze Land sein, erst recht in Krisenzeiten wie diesen: Wir lassen uns nicht hängen, also lasst euch auch nicht hängen, Leute! Selbst wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass Hansis Kicker sich tiefschürfende Gedanken gemacht haben, welches Signal sie mit ihrem Spiel in das krisengeschüttelte Deutschland senden wollen – sie haben intuitiv alles richtig gemacht und ein Zeichen gesetzt, dessen Wert kaum zu überschätzen ist: Leistung lohnt sich, Zusammenhalt führt zum Erfolg, in jeder Krise liegt der Keim für ihre Überwindung. Man muss ihn nur finden. Das gelingt, wenn man nach vorne schaut, statt den Kopf hängen zu lassen.
Nicht auszudenken, welche Stimmung sich im Land verbreitet hätte, wäre das DFB-Team gestern mit einem Sack voll Gegentoren in die Wüste geschickt worden: Erst der Corona-Blues, dann der Kriegsschock, die üblen Energiepreise und die noch üblere Inflation, dazu Dunkelheit, Kälte und der Ärger über die korrupte Fifa – da hätte das wahrscheinliche WM-Aus noch dem letzten Optimisten das Gemüt verdunkelt.
So aber können wir zuversichtlich bleiben. Auch jene, denen das WM-Spektakel in Katar am Allerwertesten vorbeigeht. Man muss kein Fußballfan sein, um sich von sportlicher Euphorie anstecken zu lassen. Man darf sich mitreißen lassen und in den Chor einstimmen: geht doch! Dann fühlt sich so ein Krisenwinter nämlich plötzlich gar nicht mehr so düster an.
Aufruhr in China
Ja, Karl Lauterbach betätigt sich noch als einsamer Mahner, warnt vor schnellen Lockerungen aller Corona-Regeln und einer möglichen Winterwelle. Insgesamt aber kann man feststellen, dass die Pandemie hierzulande ihren größten Schrecken verloren hat. Zum Glück!
Nicht so in China: Die Behörden der Volksrepublik melden einen Infektionsrekord nach dem anderen. Und weil die kommunistische Führung im Kampf gegen die Seuche weiterhin auf Ausgangssperren und Massentests setzt, kommen zu den Infektionsmeldungen immer mehr Nachrichten über Proteste gegen die Null-Covid-Politik. Seit am vergangenen Donnerstag bei einem Hochhausbrand in der nordwestchinesischen Millionenstadt Ürümqi mindestens zehn Menschen starben und die Corona-Sperren offenbar die Rettungsarbeiten erschwerten, eskaliert die Lage vielerorts: In Shanghai versammelten sich gestern Tausende Demonstranten und skandierten Parolen gegen die Kommunistische Partei und Staatschef Xi Jinping – was in Chinas totalitärer Diktatur äußerst selten ist. Einige Demonstranten hielten in Anspielung auf die Demokratiebewegung in Hongkong weiße Blätter in die Höhe. Beobachter sprechen von der größten Protestwelle seit 1989. Die Polizei greift hart durch – auch ein britischer Journalist der BBC wurde in Shanghai festgenommen und nach eigenen Angaben von den Beamten misshandelt. Das Regime steht unter Druck: Die wirtschaftlichen Schäden der Lockdown-Politik, etwa beim Apple-Zulieferer Foxconn, sind bekannt. Nun kommen politische Schwierigkeiten hinzu, mit denen selbst der allmächtige Xi nicht gerechnet hat.
Recht geht vor
"Wir werden einen langen Atem haben", verspricht Justizminister Marco Buschmann. Den wird es zweifellos brauchen, um all die Kriegsverbrechen in der Ukraine zu verfolgen. Heute hat der FDP-Ressortchef seine Amtskollegen aus den G7-Ländern nach Berlin eingeladen, um zu beraten, wie sich die Ermittlungen gegen die Täter effizient organisieren lassen.
Die Herausforderung: Zahlreiche Institutionen sind in die Strafverfolgung involviert – darunter der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, Polizisten und Staatsanwälte aus der Ukraine, Deutschland und weiteren Staaten. Umso penibler müssen die Regeln sein, nach denen Beweismittel ausgetauscht, Akten geteilt und Zeugenaussagen koordiniert werden. Eine Mammutaufgabe. Aber jeden Einsatz wert.
Preiswürdig
Einer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Kriegsalltag in seinem Land zu protokollieren, ist Andrej Kurkow. In seinem "Tagebuch einer Invasion" schildert der ukrainische Schriftsteller seine Erlebnisse und ordnet sie in historische Zusammenhänge ein. Für diese literarische Leistung und für sein "moralisches Verantwortungsbewusstsein" erhält er heute Abend in München den mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis.
Was lesen?
Was war denn das? Während der Partie Deutschland gegen Spanien spielten sich auf den Zuschauerrängen seltsame Szenen ab. Mein Kollege Steven Sowa hat genau hingeschaut.
Viele Menschen erwarten bange ihre Heizkostenrechnung. Meine Kollegen Arno Wölk und Philip Friedrichs zeigen Ihnen, wer am stärksten betroffen ist – und wie Sie viel sparen können.
Die russischen Kommandeure schicken ihre Soldaten rücksichtslos in die Schlachten im Donbass. Mein Kollege Martin Küper berichtet von schockierenden Szenen.
Trotz drohender Gewalt rebellieren Zehntausende Iranerinnen gegen das Regime. Fünf von ihnen haben uns erzählt, was sie antreibt.
Was amüsiert mich?
Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Wochenstart.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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