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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ihnen drohen Haft, Folter und der Tod – trotzdem lehnen sich Zehntausende Iranerinnen und Iraner gegen das Regime auf. Warum, erzählen hier fünf von ihnen.
Sie fordern Freiheit, Frauenrechte und Demokratie – und riskieren dafür ihr Leben. Seit zwei Monaten gehen die Menschen im Iran auf die Straßen des Landes.
Das islamische Mullah-Regime antwortet mit brutaler Gewalt. Mindestens 445 Menschen sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen seit Beginn der Proteste getötet worden, darunter 57 Einsatzkräfte und 63 Kinder. Sechs Menschen wurden zum Tode verurteilt und 18.000 verhaftet. Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen der dramatischen Situation im Iran.
Doch die Demonstrierenden schreckt das nicht ab. Anlass für die größte Protestwelle, die das Land bisher gesehen hat, war der Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini. Sie starb, nachdem die Sittenpolizei sie festgenommen hatte, weil sie ihr Kopftuch nicht korrekt getragen haben soll.
Fünf Iranerinnen und Iraner haben t-online erzählt, warum sie auf die Straße gehen und wie sich durch die Proteste ihr Leben verändert hat. Um sie zu schützen, lief die Kommunikation über extra eingerichtete E-Mail-Adressen und Fake-Accounts in den sozialen Medien. Ihre Namen wurden anonymisiert.
"Meine Freundin wurde auf einem Boulevard verprügelt"
Nazanin, Mitte 20, aus der Region Teheran: "Ich habe Angst, aber trotzdem versuche ich, kein Kopftuch zu tragen. Einer der Regierungsbeamten zerbrach meinen Autospiegel, als ich ohne Kopftuch unterwegs war. Eine meiner Freundinnen wurde auf einem Boulevard verprügelt. Frauen werden verhaftet oder getötet, weil sie kein Kopftuch tragen, oder sie sterben, weil sie es anzünden. So etwa Nika Shakrami, die erst 16 Jahre alt war. Sie verlor ihr Leben, weil sie ihr Kopftuch verbrannte.
Die Proteste sind im Moment das wichtigste Thema im Iran. Viele Menschen haben Angst, auf die Straße zu gehen. Vor allem Mütter und Väter von kleinen Kindern, die sich Sorgen machen, dass sie bei den Demonstrationen getötet werden und ihre Kinder dann ohne einen Vormund dastehen.
Trotzdem protestieren Menschen aus allen Bevölkerungsschichten: Bus- und Lkw-Fahrer, Studierende, Lehrer, Gewerkschafter und Bauern haben gestreikt oder waren auf der Straße. Viele wurden verhaftet.
Die Regierung tötet die Menschen brutal.
Nazanin aus der Region Teheran
Die Regierung tötet die Menschen brutal oder foltert sie in den Gefängnissen, die voll sind von Demonstranten. Wir fürchten, dass sie nach der Niederschlagung der Straßenproteste eine große Zahl von Gefangenen hinrichten werden. Das haben sie schon viele Male getan.
Das Regime hat das iranische Volk verarmen lassen, und die Machthaber rauben den Reichtum. Ihre Kinder führen ein luxuriöses Leben. Armut, Tod, Gefängnis, Diskriminierung und Ungleichheit sind das Ergebnis von vier Jahrzehnten religiöser Tyrannei.
Wir haben nichts zu verlieren und wünschen uns ein normales Leben! Wenn es ein Referendum in sicherer Umgebung gäbe, würden 90 Prozent der iranischen Bevölkerung gegen das Regime stimmen. Wir wollen eine säkulare und demokratische Regierung.
Wir fordern, dass die Botschafter Europas den Iran verlassen und die Botschafter der Islamischen Republik aus Europa mit ihren Kindern ausgewiesen werden. Ihre Vermögen sollten eingefroren werden."
"Sie durchsuchen jetzt unsere Taschen"
Leila, 17, aus der Region Teheran: "An meiner Schule wurden die Regeln seit den Protesten verschärft. Sie durchsuchen jetzt unsere Taschen und kontrollieren streng, ob wir das Kopftuch richtig tragen. Aber auf der Straße trage ich es überhaupt nicht mehr. Ich fühle mich seitdem viel besser.
Angst habe ich vor allem um diejenigen, die ins Gefängnis gesteckt wurden. Ich hoffe, sie kommen alle bald frei. Wir haben bis zu diesem Punkt durchgehalten, und wir müssen es auch weiterhin tun. Wenn wir aufhören, werden die Mullahs viele junge Menschen hinrichten.
Schaffen wir es nicht, ihr Regime zu stürzen, wird alles noch schlimmer werden. Wir wollen einen freien Iran mit einer fortschrittlichen Wirtschaft und Sicherheit. Von den westlichen Ländern erwarte ich, dass sie die Sanktionen verschärfen und den Verkauf von Waffen an die islamische Regierung stoppen. Aber es kommt mir so vor, als wären sie Komplizen des Regimes."
"Der Widerstand wächst"
Dila, 31, aus der Region Teheran: "Ich habe oft Angst, das Haus ohne Kopftuch zu verlassen, aber ich zwinge mich, sie zu überwinden. Und dann mischt sich diese Angst mit Mut – vor allem, wenn mich Menschen auf der Straße im Vorbeigehen mit ihren Blicken ermutigen. Frauen lächeln sich gegenseitig an, und jede versteht die Bedeutung dieses Lächelns. Das hilft, weiterzumachen. Es hilft auch zu wissen, dass ich mit meiner Angst nicht allein bin. Der Widerstand wächst.
Mehr Angst als um mich habe ich aber um meine Familie. Jeden Tag wird die Liste der Verhafteten, der Gefangenen und der Ermordeten oder Hingerichteten länger. Aber kann das gestoppt werden, wenn wir Angst haben? Nein. Kann das gestoppt werden, wenn wir uns zurückziehen und nichts tun? Nein.
Meine Freunde und ich verfolgen die ganze Zeit die Nachrichten – von morgens früh bis wir abends am Handy einschlafen. Jeden Moment erwarten wir einen unbekannten Anruf oder ein Klingeln an der Tür. Aber wir versuchen, uns gegenseitig Mut zu machen."
"Europa sollte die Konten iranischer Regierungsmitglieder sperren"
Erfan, 25, aus der Region Teheran: "Freiheit oder die Vision von Freiheit ist, was mich antreibt – nicht erst seit den Protesten, sondern seit ich 15 oder 16 Jahre alt war. Damals spürte ich zum ersten Mal, dass es in meinem Leben keine Freiheit gibt. Angst ist im Iran ein ständiger Begleiter. Dabei sollte die Regierung Angst vor ihren Bürgern haben, nicht umgekehrt.
Trotzdem haben vor allem wir, die junge Generation, noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Sturz des Regimes muss vom iranischen Volk ausgehen. Aber wir erwarten auch von Amerika, Europa und anderen Ländern, dass sie Druck ausüben und die versteckten Beziehungen und Kooperationen mit dem islamischen Regime beenden.
Sie sollten die Konten iranischer Regierungsmitglieder in den Banken der Schweiz und anderer Länder sperren und deren Geld nutzen, damit es der Revolution und der Freiheit des Irans hilft."
"Mit dem islamischen Regime haben wir kein Leben"
Arian, 30, aus der Region Isfahan: "Viele meiner Freunde gehen auf die Straße – und ich gehe mit, um sie zu unterstützen. Mein Leben und mein Alltag haben sich seitdem völlig verändert. Ich konzentriere mich tagtäglich nur noch darauf, mich für den nächsten Tag vorzubereiten.
Das ist eine Revolution, und das Motto 'Woman_life_freedom' erklärt perfekt, wofür wir kämpfen. Wir kämpfen für die Rechte der Frauen, weil sie durch die islamischen Regeln derart unterdrückt werden – viel mehr als die Männer.
Ich sage laut, dass ich nicht auf die Straße gehe, um zu sterben, sondern um zu leben. Denn mit dem islamischen Regime haben wir kein Leben. Wir kämpfen für Meinungsfreiheit und Freiheit in jedem Aspekt des Lebens für alle Menschen.
Ich bin optimistisch, dass diese Revolution erfolgreich sein wird und wir gemeinsam die Zukunft des Irans entscheiden werden. Wir sind uns alle einig, dass es einen friedlichen Nahen Osten, eine friedliche Welt und einen moderneren Iran nur dann geben kann, wenn die islamische Regierung besiegt wird."
Hintergrund zum Beitrag
Die schriftlichen Interviews mit den Iranerinnen und Iranern wurden auf Englisch bzw. Persisch geführt und ins Deutsche übersetzt. Der Austausch fand zwischen dem 19. Oktober und 17. November 2022 statt. Um die Personen zu schützen, wurden die Namen aller Personen verändert.
- Schriftliche Interviews mit den Iranerinnen und Iranern