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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vier Menschen, vier Geschichten Südsudan: "Er konnte sich nicht an seine Mutter erinnern"
Das Elend im Südsudan ist eigentlich unbeschreiblich. Vier Menschen, die in der Region leben oder arbeiten, erzählen, was ihnen trotz allem Hoffnung macht.
Als wäre ein Bürgerkrieg nicht schon genug. Seit vielen Jahren herrscht im Südsudan ein grausamer bewaffneter Konflikt, seit ein paar Wochen kommen noch schwere Unwetter und eine furchtbare Flutkatastrophe hinzu. Millionen Menschen verloren ihr Zuhause, Hunderttausende leiden an Mangelernährung – Krankheiten wie Masern und Lungenentzündungen verschlimmern das Elend der Bevölkerung weiter. Besonders für Kinder ist die Situation brutal.
Das Leid der Menschen im Südsudan ist nur schwer vorstellbar und eigentlich kaum in Worte zu fassen. t-online.de hat mit vier Menschen gesprochen, die in der Region gelebt oder gearbeitet haben. Sie erzählen ihre persönliche Sicht auf ein Land, das in den Nachrichtensendungen der Welt nur selten einen Platz findet.
Es sind Geschichten, die zeigen, wie hart das Leben der Südsudanesen ist. Es sind aber auch Geschichten, die Hoffnung geben: Denn die menschliche Hilfsbereitschaft kann auch in den schlimmsten Nöten kleine und große Wunder vollbringen.
"Mutter Khamisa weinte, Ferdos und Judi weinten – ich weinte"
"Ich denke oft darüber nach, wie es ihnen wohl gehen mag. Besonders dem kleine Chogi. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, fast sein ganzes Leben ohne eine Mutter gelebt zu haben; sie nur aus Geschichten zu kennen, die sein Bruder oder seine Schwester ihm erzählt haben – und nach fünf Jahren des Geschichtenerzählens zurück zu sein in ihrer herzlichen Umarmung.
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Aber genau das ist passiert. Mama Khamisa war auf der Suche nach Feuerholz, als die Kämpfe in der Region begannen. Sie konnte nicht zurück zu ihren Kindern, und als sie schließlich nach Hause kam, waren die drei weg. Jidu, Ferdos und Chogi waren in die Hauptstadt Juba gebracht worden, sie wussten nicht, ob ihre Mutter am Leben ist oder bereits tot.
Unicef nahm sich dem Fall an und nach Jahren der Suche war klar: Ihre Mutter ist in Malakal.
Ich hatte das Privileg, an dem Tag dabei sein zu dürfen, als die vier wieder zu einer Familie wurden. Das ganze Dorf stand Spalier, um die drei Kinder zu empfangen. Jubel brach aus, als das Unicef-Auto mit den verlorenen Familienmitgliedern angefahren kam. Mutter Khamisa weinte, Ferdos und Judi weinten.
Ich weinte.
Der kleine Chogi wusste nicht, wie ihm geschah. Er konnte sich nicht an seine Mutter erinnern, er war ja erst drei, als die beiden getrennt wurden. Doch ich weiß, wie es ihm heute damit geht, doch dazu später mehr.
Diese Geschichte ist, was wir bei Unicef Familienverfolgung und Zusammenführung nennen. Ich werde sie mein ganzes Leben lang in meinem Gedächtnis behalten. Ich arbeite nun seit eineinhalb Jahren im Südsudan und es gibt dort so viele Kinder, die Hilfe brauchen. Wir kämpfen gegen Masernausbrüche und gegen eine verheerende Flut, die eine halbe Millionen Kinder bedroht. Die Nahrungssituation im Land ist schwierig, mehr als 1,3 Millionen Menschen sind von Unterernährung bedroht. Der Zugang zur Grundversorgung ist sehr limitiert, 2,2 Millionen Kinder können nicht in die Schule gehen.
Es ist einfach, all die Dunkelheit und das Leid zu sehen und all die Dinge, die verändert werden müssten. Das Positive zu sehen, braucht dagegen ein geschultes Auge. Wenn ein Kind meine Haare anfasst, weil es denkt, es sei eine Perücke, dann ist das ein positives Signal. Es bedeutet nämlich, dass das Kind neugierig ist und es sich wie seine gesunden Altersgenossen verhält.
Ich schaue auf diese kleinen Dinge, und wenn eine Familie nach fünf Jahren wieder zusammenfindet, dann ist das etwas ganz Großes. Es erfüllt mich mit Hoffnung und Stolz. Hoffnung, weil was unmöglich schien, möglich wurde; Stolz, weil wir bei Unicef unsere Arbeit in einer der komplexesten und schwierigsten Arbeitsumgebungen auf der Welt tun.
Sechs Monate nachdem Khamisa ihre Kinder zurückbekommen hatte, arbeitete ich für ein anderes Projekt in Malakal und beschloss, bei ihnen vorbeizuschauen. Khamisa musste jemanden losschicken, um Chogi zu suchen, denn der spielte irgendwo mit seinen Freunden. Und er hat jetzt viele Freunde. Judi ist zurück in der Hauptstadt, um die Schule zu beenden und danach will er zurück nach Malakal. Ferdos ist Mutter geworden, klar, viel zu jung eigentlich, aber ihr und ihrem Baby geht es gut.
Khamisa könnte nicht glücklicher sein. Es ist nun einige Zeit her, dass ich die drei das letzte Mal gesehen habe, aber ich denke noch immer täglich an sie. Ich hoffe, es geht ihnen gut – und dass sie viele neue Erinnerungen sammeln können. Diesmal als Familie."
"Für das Baby hatten wir kaum Hoffnung"
"Entfernungen werden hier nicht in Kilometern gemessen, sondern in Stunden. Wenn die Regenzeit und mit ihr die Wassermassen kommen, kann aus einem zwei Stunden langen Weg auch mal ein Sechs-Stunden-Marsch werden, den eine Schwangere zu Fuß zurücklegen muss – denn richtige Wege oder Straßen gibt es hier nicht; noch nicht einmal Fahrzeuge, die die Patienten zu den Ärzten oder Hebammen bringen können.
So war es auch bei einer jungen Frau, die gemeinsam mit ihrer Schwester die Strapazen des Fußweges auf sich nahm und in unsere Station nach Leer, einer kleinen Stadt im Norden des Landes, kam. Sie war im siebten Monat schwanger und hatte eine starke Blutung bekommen. Ihr muss klar gewesen sein, dass da etwas nicht stimmt.
Wir arbeiteten unter Zelten, mit einem Stromgenerator und ohne fließend Wasser. Doch in einer Region, in der es fast keine Ärzte gibt, waren wir die einzige Anlaufstelle für die werdende Mütter. Normalerweise brauchen wir nicht viel, um eine Schwangere zu versorgen. Doch bei dieser Frau hätten wir in Deutschland eine Operation durchgeführt. Im ruhigen Ton bereiteten wir sie auf das Unvermeidliche vor. Wir sagten, dass wir die Geburt sofort einleiten müssen, ansonsten bestehe die Gefahr, dass sie sterben werde.
Für ihr ungeborenes Baby hatten wir allerdings kaum Hoffnung. Und so stand in ihrem Gesicht die blanke Angst geschrieben, als wir ihr sagten, dass ihr Frühchen wohl nicht überleben wird.
Wir holten das kleine Bündel auf die Welt und mussten es sofort reanimieren. Keine zwei Kilo war es da schwer. Die Frau überlebte, doch auch das Kind erholte sich schnell. Noch heute habe ich den Blick der Mutter vor Augen: Diesmal war er voller Stolz, dass sich ihr Baby gegen alle Widrigkeiten behauptet hatte. Die Nachricht sprach sich schnell herum und aus ihrem Dorf kamen Leute, um die Mutter zu beglückwünschen.
Das spiegelt die beeindruckende Mentalität in diesem Land wider: Den Menschen geht es schlecht, doch sie verlieren niemals ihren Optimismus. Sie glauben fest daran, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird. Es war ein Geschenk für mich, diese Frauen zu sehen. Und das lässt mich in tiefer Dankbarkeit zurück."
"Als ich klein war, wusste ich nicht, dass es da draußen etwas gibt, das Frieden heißt"
"Die Kriegsjahre als Kind waren hart. Auch ich habe in dieser Zeit viele Freunde und Familienmitglieder verloren. Als der Norden gegen den Süden kämpfte, haben die Rebellen Zivilisten zwangsrekrutiert. Sie gingen von Familie zu Familie und nahmen dich mit, wenn du alt und stark genug warst.
Erst als 2005 die Kämpfe allmählich aufhörten und der Südsudan 2011 schließlich die Unabhängigkeit erklärte, besserte sich die Situation. Wir hatten wieder Hoffnung – waren unabhängig und frei. Auch wenn wir nicht genau wussten, was die Politiker eigentlich wollten. Das Land war immer noch geteilt, die Politiker haben die Stämme und die Menschen gegeneinander ausgespielt. Das ist genau die Politik, die später den Bürgerkrieg ins Land brachte.
Als ich klein war, wusste ich nicht, dass es da draußen etwas gibt, das Frieden heißt. Ich dachte Krieg wäre das normale Leben: du musst als Krieger aufwachsen – als jemand, der kämpfen kann, der töten kann. Erst als ich nach Albanien ging, habe ich realisiert, dass es auch ein komplett anders Leben gibt. Ein Leben ohne Krieg.
Doch mit dem Bürgerkrieg kam auch die Verzweiflung zurück. Die Menschen waren traumatisiert und verbittert – auf beiden Seiten. Bei vielen die schon vorher im Krieg kämpfen mussten, war die Verzweiflung so groß, dass sie sich umbrachten. Sie hatten zwar das Glück, den ersten Krieg überlebt zu haben, konnten sich aber nie wirklich davon erholen. Viele waren traumatisiert und tranken zu viel. Auch mein Bruder hat sich das Leben genommen.
Viele Menschen sind in diesen Jahren nach Uganda geflohen. Auch ich habe im Sommer 2016 entschieden, das Land zu verlassen. Ich wollte nicht in dieses politische Chaos mit reingezogen werden. Es war schwer vorstellbar, in dem Land zu bleiben, wo jeden Tag Menschen auf der Straße erschossen werden. Es ist schlimm zu sehen, wie die Menschen nur Hass in sich tragen.
Meine Frau Anne und ich haben uns 2011 kennengelernt und waren zunächst Freunde. Anne ist Kinderkrankenschwester und hat damals ein halbes Jahr in einer kleinen Klinik im Südsudan als Freiwillige gearbeitet. In der Zeit danach war es schwer für uns, den Kontakt aufrechtzuerhalten – besonders während der Kriegsjahre. Erst als ich in Albanien war, konnten wir wieder miteinander kommunizieren und uns besser kennenlernen. Seit 2017 sind wir schließlich verheiratet. Heute leben wir beide in Deutschland.
All das Leid und der Hass der Südsudanesen sind durch den Konflikt entstanden. Viele haben Familienmitglieder und Freunde verloren. Diese Situation hat sich in den Köpfen der Südsudanesen verhärtet. So kann der Frieden nie wirklich ankommen. Es fehlt an Jobs, Geld und Nahrung. Familien können es sich nicht leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Dabei ist Bildung das einzige Gut, was es schaffen kann, eine Nation zu verändern. Das habe ich durch mein eigenes Leben gelernt.
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Als ich die Möglichkeit bekam, in Albanien zu studieren, habe ich richtig realisiert, wie wichtig Bildung ist. Ich wurde mir über meine eigene Mentalität und die der Südsudanesen bewusst. Mir wurde klar, dass nicht die Südsudanesen daran Schuld waren. Der jahrelange Konflikt und das politische System haben das Denken der Bevölkerung geprägt.
Wenn wir es schaffen, den jungen Menschen im Südsudan die Möglichkeit zu geben, zur Schule zu gehen und zu studieren, wird das auf lange Sicht helfen, dem Land Frieden und Entwicklung zu bringen. Und nur durch den Frieden können die Südsudanesen lernen, einander wieder zu lieben, anstatt sich zu hassen. So schaffen wir es, das Land und die Menschen wieder zu vereinen."
"114.000 Überlebende, immerhin"
"Seltsam, dass ausgerechnet Menschen, denen alle Ordnung, alles Gewohnte im Leben durch die grausame Gewalt des Krieges weggebrochen ist, im Lager der Geflüchteten in ein strenges Geviert aus schnurgeraden Pisten und eng besiedelten Rechtecken gepresst werden. Aber wie anders sollen Zuflucht, Versorgung, Schutz für so viele Menschen organisiert werden?
Es sind viele Kilometer Piste in der so genannten Protection of Civilians Site von Bentiu, dem größten Schutzlager der Vereinten Nationen im Südsudan. Und es sind unglaublich viele Menschen, die in dieser neuen Ordnung inmitten der Hitze und des Staubs und der Hoffnungslosigkeit nur eines gesucht haben: Schutz vor der Gewalt. Schutz vor Schüssen, Machetenhieben, Vergewaltigungen, brandschatzenden bewaffneten Gruppen. Seit den schweren Attacken auf Bentiu und viele Dörfer der Umgebung, ab 2014, ging es für die Familien hier nur ums Überleben.
Nachdem wir die schwer bewachte Einfahrt zum Schutzlager durchfahren haben, stehen wir also in der inzwischen zweitgrößten Stadt des Südsudan nach der Hauptstadt Juba: Gut 114.000 Männer, Frauen und Kinder leben in diesem Lager. 114.000 Überlebende, immerhin."
- Eigene Recherchen
- Unicef.de: Zum Krieg gehört der Hunger