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Mord, Terror, Suizid: Ein Notfallseelsorger über die schlimmsten Fälle


Terror, Morde, alltägliches Sterben
Jeder vierte Deutsche stirbt plötzlich und unerwartet

  • Matti Hartmann
InterviewVon Matti Hartmann

Aktualisiert am 04.09.2024Lesedauer: 7 Min.
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Bestatter holen nach einem Verbrechen eine Kinderleiche ab: Die Helfer vom Kriseninterventionsteam sind regelmäßig mit Gewalttaten konfrontiert.Vergrößern des Bildes
Bestatter holen nach einem Verbrechen eine Kinderleiche ab: Die Helfer vom Kriseninterventionsteam sind regelmäßig mit Gewalttaten konfrontiert. (Quelle: Christoph Reichwein/imago-images-bilder)

Sie kommen, wenn die Verzweiflung so groß ist, dass der Verstand aussetzt. Was sind die schlimmsten Fälle für die Helfer vom Kriseninterventionsteam – und was können sie dann tun?

Wenn in Deutschland ein besonders schlimmer Unfall geschieht, ein Terrorist einen Anschlag verübt oder ein Amokläufer viele Menschen mit in den Tod reißt, dann liest man hinterher oft, es seien Notfallseelsorger und ein Kriseninterventionsteam vor Ort gewesen. Während das Blaulicht flackert, die Rettungskräfte vielleicht noch um das Leben der Verletzten kämpfen, dann kümmern sich die psychologisch ausgebildeten Helfer um diejenigen, die fassungslos danebenstehen.

Sie betreuen die Überlebenden und die Angehörigen und sind auch noch da, wenn der Bestatter mit dem Zinksarg die Leichen abholt.

Kriseninterventionsteams gibt es heute in der gesamten Bundesrepublik, sie scheinen eine Selbstverständlichkeit zu sein. Was viele nicht wissen: Das erste Team wurde erst 1994 in München gegründet. Es war eine bahnbrechende Innovation. So etwas gab es zuvor auf der ganzen Welt noch nicht.

t-online sprach mit Stephan Jansen, dem aktuellen Leiter des KIT-München, über seine schlimmsten Einsätze, die Besonderheiten von Terrorlagen, die Tatsache, dass jeder vierte Deutsche ganz plötzlich und unerwartet stirbt – und die Frage, wie man es schafft, den Tod nicht als eine Zumutung zu betrachten.

t-online: Herr Jansen, das KIT München ist das weltweit erste Kriseninterventionsteam, das eingerichtet wurde ...

Stephan Jansen: Die Gründung stand unter dem Eindruck eines Ereignisses: Ein Kind war von einer Straßenbahn überrollt worden, und wie immer in so einem Fall kam ein großes Aufgebot an Rettungskräften, um zu versuchen, den Jungen zu reanimieren. Alle kümmerten sich um den sterbenden Sechsjährigen. Bis irgendwann ein junger Rettungsassistent bemerkte, dass direkt daneben eine Frau mit Plastiktüten stand und ganz allein war. Das war die Mutter.

Und dieser junge Rettungsassistent ist dann zu der Frau gegangen?

Ja, das war unser Gründer, Dr. Andreas Müller-Cyran. Er hat gemerkt, wie wichtig es ist, dass sich jemand um diejenigen kümmert, die am Rand stehen und nicht kapieren können, was gerade vor sich geht, dass es jemanden braucht, der sich diesen Menschen mit Empathie und Zeit widmet und dass dafür auch eine Ausbildung nötig ist. Heute haben wir 1.000 Einsätze im Jahr, also durchschnittlich drei am Tag.

Von den meisten hört man in der Öffentlichkeit nie etwas.

In der Hälfte der Fälle ist es der normale, plötzliche internistische Tod, zu dem wir gerufen werden: wenn jemand auf der Straße, am Arbeitsplatz, beim Joggen oder auch zu Hause auf einmal umkippt und die Angehörigen völlig unvorbereitet darauf sind.

30 Prozent sind Suizide. Und knapp unter 20 Prozent sind Arbeitsunfälle, also wenn jemand vom Gerüst fällt oder in einer großen Metzgerei vom Fleischwolf in die Maschine gezogen wird. Und dann gibt es noch einige Fälle, da geht es um Mord und Gewalt. Aber das sind tatsächlich im Verhältnis nur sehr wenige.

Was sind Ihre schlimmsten Fälle?

Wenn sich Kinder und Jugendliche suizidieren. Da sitzt zum Beispiel ein 18-Jähriger mit seinen Freunden beim Stammtisch und sagt, er müsse mal eben zur Toilette – aber stattdessen geht er zur S-Bahn und schmeißt sich vor den Zug.

In solchen Fällen gibt es sehr viele Betroffene, die Hilfe brauchen: Erst suchen seine Freunde den 18-Jährigen und kommen zum Einsatzort. Außerdem ist da ja noch der S-Bahn-Fahrer in seiner S-Bahn. Dann muss man die Todesnachricht den Eltern überbringen. Und am nächsten Tag fahren wir in die Schule, informieren die Lehrkräfte und gehen mit ihnen in die Klassen, in denen der 18-Jährige war.

Verdacht auf eine Depression? Hier finden Sie Hilfe

Bei Verdacht auf eine Depression ist professionelle Hilfe wichtig. Nicht nur die Betroffenen, auch die Angehörigen brauchen Unterstützung:
◾ Deutsche Depressionsliga e. V.
Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Irrsinnig Menschlich e. V.
Info-Telefon Depression: 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
Das Servicetelefon der Krankenkasse kann ebenfalls eine erste Anlaufstelle sein, um sich über mögliche Hilfsangebote zu informieren. Auch der Hausarzt ist ein wichtiger Kontakt. Verbände und Gesellschaften bieten ebenfalls Hilfe an.

Bringen sich viele Kinder- und Jugendliche um?

Ja. Wir hatten sogar eine Neunjährige, die einen Suizidversuch unternommen hat.

Warum?

Es gibt sicherlich viele Ursachen. Oft hören wir hinterher, jemand wurde in der Schule gemobbt oder es gab Hasskommentare auf Social Media. Wenn sich ein 12- oder 13-Jähriger umbringt, dann ist das in der Regel eine Affekttat. Bei Älteren steckt meistens ein Prozess dahinter, eine depressive Erkrankung. Oft handelt es sich um lange Leidenswege. Es ist erschreckend, wie schwer es ist, einen Therapieplatz zu bekommen.

Oft ist nach Großeinsätzen zu lesen, Kriseninterventionsteams seien vor Ort gewesen. Etwa nach einem Terroranschlag.

Wenn ein Kind vom Laster überrollt wird, ist das schon schwer zu verarbeiten. Dann fragt man sich, warum ausgerechnet mein Kind? Aber man weiß, dass so etwas passieren kann.

Terror ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Wenn jemand plötzlich ein Messer zückt und auf Umstehende einsticht, dann reißt es den Angehörigen das Weltbild weg. In diesen Fällen haben Betroffene ein überdurchschnittlich hohes Risiko, hinterher krank zu werden und eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln: Sie können das Ereignis so schlecht verarbeiten, dass sie in eine Erkrankung hineinrutschen, zum Beispiel nach einem Jahr depressiv werden, nicht mehr arbeitsfähig und im schlimmsten Falle auch nicht mehr lebensfähig sind.

Welche Rolle spielt bei Terrortaten Wut auf den Attentäter?

Der eine weint, der andere wird wütend. Menschen sind unterschiedlich, aber egal, wie jemand reagiert: Das ist normal. Auch bei Suiziden erleben die Angehörigen oft Wutgefühle: Wieso tut der mir das an?

Manchmal bekommen auch wir die Wut ab. Das sind Gefühle, die müssen raus. Wir werten nicht.

In Ihrem Alltag erleben Sie ständig plötzliche Todesfälle. Wie gehen Sie damit um, dass das Leben so schnell vorbei sein kann?

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Da gibt es einen Unterschied, ob ich als Privatmann durch die Stadt fahre oder als Einsatzkraft.

Inwiefern?

Wenn ich als Einsatzkraft zu einem Anschlag gerufen werde, dann gibt es die Gefahr eines Second Strike. Das heißt, dass nach einem kleineren Attentat erst dann die eigentliche Bombe platzt, wenn es am Einsatzort von Rettungskräften und Polizei wimmelt. Rettungskräfte behandeln bei Anschlägen die Opfer deshalb nie lange vor Ort. Sonst werden Verletzte immer erst im Rettungswagen stabilisiert, Terroropfer werden hingegen schnell in den Wagen geladen und sofort weggebracht.

Natürlich sind wir für solche Fälle geschult und machen routiniert unseren Job. Aber trotzdem bleibt da ein mulmiges Gefühl, wenn man an vorderster Front steht.

Stephan Jansen: Leiter KIT-München.
Stephan Jansen: Leiter KIT-München. (Quelle: ASB München/Oberbayern)

Zur Person

Stephan Jansen hat mit 20 Jahren als Zivildienstleistender angefangen, im Rettungsdienst zu arbeiten. Danach studierte er Fotodesign und fuhr nebenher Einsätze, um sich sein Studium zu finanzieren. Später war er 28 Jahre lang Journalist bei der Nachrichtenagentur dpa, er arbeitete als regionaler Multimediachef in München. Gleichzeitig war er weiter bei der Freiwilligen Feuerwehr und im Rettungsdienst aktiv. Dabei hat er gemerkt, dass er gut mit Menschen umgehen kann, die gerade einen Angehörigen verloren haben.

Heute ist Jansen hauptberuflich Leiter des Kriseninterventionsteams München beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB). Er ist 60 Jahre alt, hat zwei erwachsene Kinder – und fährt immer noch nebenbei Einsätze im Rettungsdienst.

Und privat?

Der Tod gehört für mich dazu, er ist einfach Biologie. In dem Moment, in dem wir geboren werden, steht fest, dass wir sterben. Das sage ich auch allen Menschen, die wir betreuen.

Das klingt sehr abgeklärt. Der Tod ist keine Zumutung für Sie?

Als eine solche nehmen den Tod in der Tat viele wahr. Dass ein Viertel der Menschen in Deutschland plötzlich verstirbt, aus dem Nichts heraus, das wissen viele nicht. Das haben die Leute nicht auf dem Plan. Sie glauben, gestorben wird mit 85 im Krankenhaus. In unserer Ausbildung ist es daher ein wichtiger Punkt, sich mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen und eine gute Strategie zu finden, um bei den Bildern, die wir täglich sehen, gesund zu bleiben. Ich glaube, das lässt uns bewusster leben. Das bemerke ich nicht nur bei meinen ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen, sondern auch bei den Ehepartnern. Wer in dem Thema drin ist, der lebt bewusster.

Ihr Gründer hat einmal in einem Interview gesagt, an den Orten, zu denen das KIT gerufen werde, herrsche oft eine große Sprachlosigkeit.

Das muss nichts Negatives sein. Grundsätzlich sagen wir: Es ist gut, auch Schweigen auszuhalten. Wenn das tote Kind auf der Couch liegt, was wollen Sie den Eltern denn dann sagen?

Was sagen Sie denn dann?

Es ist oft ganz simpel. Ich gehe hin und sage: "Mein Name ist Jansen, ich bin jetzt für Sie da."

Wir halten es ganz einfach. Bei den Menschen in so einer akuten Belastungssituation läuft das Gehirn im Notmodus. Innerhalb von zwei Stunden trampeln 20 Leute durch ihre Wohnung. Hier kommt der Notarzt, da der Rettungsdienst, dort die Feuerwehr. Dann kommt die Polizei, dann der Leichenbeschauer, die Kripo, schließlich der Bestatter. Und in diesen Situationen, in denen alles drunter und drüber geht und die Welt für die Menschen zusammenbricht, brauchen sie einen Anker. Und das sind dann wir.

Und als Anker schweigen Sie auch manchmal einfach nur?

Man kann mit den Menschen oft nur schwer kommunizieren. Sie geraten in einen Zustand der Dissoziation, in dem Wahrnehmung, Denken, Handeln und Fühlen getrennt sind. Wenn sie tatsächlich nicht mehr verstehen können, was gerade passiert, dann fragen sie manchmal zehnmal das Gleiche. Solche Dinge muss man wissen. Wir benutzen eine klare Sprache, kurze Sätze. Wir wiederholen Informationen, sind wie Übersetzer, die erklären, was gerade passiert. Die Leute fragen: "Wieso kommt jetzt die Polizei, ich habe doch meinen Mann nicht umgebracht?" Dann muss man ihnen erklären, dass das ein völlig normaler Vorgang ist, wenn bei ungeklärter Todesursache der Leichnam beschlagnahmt wird.

Wann ist Ihr Einsatz beendet? Geht es nur darum, den ersten Moment abzufangen?

Im Wesentlichen geht es um psychosoziale Akuthilfe, ja. Zu unserer Arbeit gehört aber auch, weiterführende Unterstützungsstellen zu empfehlen, damit die Betroffenen den nächsten Schritt schaffen. Um das zu gewährleisten, rufen wir seit zweieinhalb Jahren alle Menschen noch einmal an, die wir betreuen.

Bis der Todesfall wirklich bei den Leuten im Kopf angekommen ist, dauert es meistens acht bis zehn Tage, das ist um den Bestattungstermin herum. Dann fragen wir noch einmal: Wie geht es? Was ist noch nötig? Und dann helfen wir unter Umständen noch einmal, einen Termin zu vereinbaren, damit die Menschen weitere Unterstützung bekommen. Manche trauen sich auch nicht allein in die Wohnung zurück, nachdem sich dort ein Angehöriger erschossen hat und erst ein Tatortreiniger kommen musste. Dann helfen wir bei dem ersten Schritt über die Schwelle.

Wie viel Zeit können Sie sich nehmen?

Alle Zeit, die es braucht. Halbfertig vom Einsatzort wegzugehen, weil vielleicht der Piepser wieder geht oder weil Feierabend ist, das geht nicht.

Herr Jansen, herzlichen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Stephan Jansen vom KIT München
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