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Missbrauch im Bistum Münster: Historiker gehen von bis zu 6.000 Fällen aus


"Regelrechte Serientäter"
Bis zu 6.000 Missbrauchsopfer im Bistum Münster

Von t-online, lib

Aktualisiert am 13.06.2022Lesedauer: 4 Min.
Die Historiker Thomas Großbölting (l) und Klaus Große Kracht sprechen bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studienergebnisse zum Missbrauch im Bistum Münster.Vergrößern des Bildes
Die Historiker Thomas Großbölting (l) und Klaus Große Kracht sprechen bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studienergebnisse zum Missbrauch im Bistum Münster. (Quelle: Guido Kirchner/dpa)

Wie viele Minderjährige wurden durch Kleriker im Bistum Münster sexuell missbraucht und wie sind die Verantwortlichen damit umgegangen? Eine neue Studie zeichnet ein düsteres Bild.

Vorwürfe von anzüglichen Kommentaren bis hin zu schwerem sexuellem Missbrauch standen im Raum – nun hat ein Team von fünf Historikern die Ergebnisse einer Studie vorgestellt, die Missbrauchsfälle im katholischen Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 untersuchte. Demnach ist das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs dort deutlich größer als bisher bekannt. Die Forscher bescheinigen dem Bistum jetzt auch, dass das System Kirche Mitschuld hat.

Die Studie geht von 196 beschuldigten Klerikern und rund 610 Betroffenen im Bistum aus. Das sei jedoch nur das Hellfeld, das sich aus den Akten ergebe, so die an der Studie beteiligte Wissenschaftlerin Natalie Powroznik bei der Vorstellung der Studie am Montag. Aus vergleichbaren Fällen sei von einem Dunkelfeld auszugehen, das acht- bis zehnmal so groß sei. Es gebe also "etwa 5.000 bis 6.000 betroffene Mädchen und Jungen" im Bistum Münster.

"Wir haben es keineswegs mit Einzeltaten zu tun", sagt deshalb ihr Forscherkollege Klaus Große Kracht bei der gemeinsamen Pressekonferenz. In etwa fünf Prozent der Fälle handle es sich um "regelrechte Serientäter", von welchen mehr als zehn Betroffene missbraucht wurden. Die Hochphase der Taten sind der Untersuchung zufolge die 50er bis 80er Jahre, doch auch in den letzten zwei Jahrzehnten sei es noch zu mutmaßlichen Missbrauchsfällen gekommen.

Für die Studie haben die Forscher der Universität Münster seit 2019 anhand von Quellen im Bischöflichen Archiv und der Verwaltung des Bistums und durch Interviews mit über 60 betroffenen Frauen und Männern Taten sexuellen Missbrauchs ermittelt und analysiert.

Ferienlager zur "Anbahnung"

Dreiviertel der Betroffenen seien laut Studie Männer, ein Viertel Frauen. Ein Großteil der Opfer habe die erste Missbrauchstat zwischen dem 10. und dem 14. Lebensjahr erlitten. In über 50 Prozent der Fälle sei die kirchliche Bindung zum Tatzeitpunkt sehr eng gewesen – bei etwa der Hälfte der Taten seien die kirchliche Jugendarbeit oder Ferienlager zur "Anbahnung" benutzt worden.

Bei über 80 Prozent der Taten kam es laut der Studie zu sogenannten Hands-on-Fällen, so Powroznik, also körperliche Berührungen. In einem Großteil dieser Fälle kam es etwa zu Penetration oder einer Berührung der Genitalien.

Der Großteil der Fälle sei von den Betroffenen erst nach 2010 gemeldet worden, also erst lange Zeit nach den eigentlichen Taten. "Dennoch war das Bistum nachweislich bereits vor 2010 über rund 100 Fälle von Missbrauchsfällen informiert", sagt Historiker David Rüschenschmidt bei der Vorstellung der Studie.

Bischof will sich am Freitag äußern

Nachweisen konnten die Forscher jahrzehntelanges Versagen in der Bistumsleitung und Strafvereitelung in verschiedenen Fällen. Dabei standen die drei Bischöfe Joseph Höffner (Amtszeit: 1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) im Mittelpunkt. Immer wieder wurden straffällig gewordene Priester nur versetzt – und wieder zu Tätern. Bei anderen setzte sich die Bistumsleitung bei der Staatsanwaltschaft ein. Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, Gerichtsverfahren zur Farce. Ein Täter floh nach Südamerika. Ein anderer setzte sich nach Österreich ab.

Dem jetzigen Bischof Felix Genn werfen die Forscher vor, als Vorgesetzter gegenüber reuigen Tätern nicht die nötige Strenge gezeigt zu haben. Genn will sich zu der Studie erst am Freitag näher äußern. Die Forscher um Historiker Historiker Thomas Großbölting lobten aber bereits die Zusammenarbeit. Sein Team habe wie versprochen unabhängig arbeiten können.

"Gottes- und Nächstenliebe wurde pervertiert"

Bei ihrer Untersuchung ging es den Forschern nicht nur um die Frage, wie viele Fälle es gab, sondern auch darum, ob die Kirche Mitschuld trägt. Und ja, das System Kirche sei als Täter aufgetreten, ist Großbölting überzeugt. Der Priester als Kleriker sei in der katholischen Kirche überhöht und als geweihter Nachfolger Christi quasi als Heiliger dargestellt worden. "Die Gottes- und Nächstenliebe wurde pervertiert", sagt Großbölting. Gerade junge Missbrauchsopfer zwischen 10 bis 14 Jahren, oft Messdiener, kamen gegen das System nicht an. Ihnen wurde nicht geglaubt.

Auch im System der Bistumsleitung sehen die Forscher ein massives Problem. Bischöfe sollten Richter, Vorgesetzter und Seelsorger gleichzeitig sein. Das habe fatale Folgen gehabt. Auch die katholische Sexualmoral habe Verbrechen begünstigt.

"Staatliche Zurückhaltung nicht mehr angemessen"

Obwohl es inzwischen Fortschritte gebe, komme es auch heute noch zu Kommunikationsschwierigkeiten und Retraumatisierung der Betroffenen durch kirchliche Ansprechpartner und das Führungspersonal des Bistums. In dem Zusammenhang sei die "staatliche Zurückhaltung nicht mehr angemessen", so Große Kracht.

Die Betroffeneninitiative Eckiger Tisch bezeichnete das Ergebnis der Mehrfachtäter (40 Prozent der Beschuldigten) als erschreckend. "Hätte die Leitungsebene des Bistums das rechtlich Richtige und das moralisch Gebotene getan und diese Täter aus dem Klerikerstand entfernt, dann wäre vielen Kindern Leid erspart blieben", sagte Sprecher Matthias Katsch laut Mitteilung.

Lob vom ZdK

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) würdigte die Studie aus Münster als entscheidende Ergänzung zu den bislang juristischen Gutachten aus anderen Bistümern. "Der spezifische Ansatz in Münster, vom Bistum gewollt, fragt nicht nur nach Tätern und Betroffenen, nach Straftaten und deren Häufigkeit, sondern untersucht auch den Katholizismus in seiner Binnenstruktur", sagte ZdK-Generalsekretär Marc Frings.

In den Blick komme die Machtstellung des Priesters, kämen die Rollenkonflikte der kirchlichen Vorgesetzten der Täter und die über Jahrzehnte dominante Konzentration auf das Image der Kirche – nicht auf die Betroffenen von sexueller Gewalt, hieß es in einer Mitteilung.

Einen ersten Zwischenbericht hatte die Gruppe im Dezember 2020 vorgestellt, zu diesem Zeitpunkt sprachen die Historiker von rund 300 Opfern und 200 Beschuldigten. Die Arbeit knüpft an eine 2018 vorgestellte Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe an. Die Forscher haben dazu Akten ausgewertet und mit Betroffenen gesprochen. 2018 hatte eine Studie im Auftrag der Bischofskonferenz ergeben, dass zwischen 1946 und 2014 mindestens 1.670 katholische Kleriker 3.677 meist männliche Minderjährige missbraucht haben sollen.

Das Bistum Münster hat einen anderen Weg gewählt als München oder Köln, wo die Missbrauchsgutachten an Rechtsanwaltskanzleien vergeben wurden. Im größten deutschen Bistum Köln hatte Kardinal Woelki ein Missbrauchsgutachten zeitweise unter Verschluss gehalten.

Verwendete Quellen
  • Livestream der Pressekonferenz zur Studie am 13.6.2022
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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