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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mordverdächtiger im Fall Maddie Vergewaltigung, verschwundene Kinder und eine mysteriöse Kamera
Der mutmaßliche Mörder der kleinen Maddie hat eine lange Historie sexueller Straftaten. Zeugen schildern verstörende Videoaufnahmen. Hat er mit weiteren Vermisstenfällen zu tun?
Im Jahr 2018 hält es R.* nicht mehr aus, er geht zur Polizei. Was der Mann den Beamten schildert, bewegt ihn seit zwölf Jahren. Dass seine Aussagen schließlich auch neue Bewegung in den Fall der verschwundenen Maddie McCann bringen, weiß er vermutlich nicht. Er sucht die deutsche Polizei aus einem anderen Grund auf.
Damals vor zwölf Jahren, so steht es in Gerichtsunterlagen, die t-online.de vorliegen, sei er gemeinsam mit einem Komplizen in das Haus eines deutschen Bekannten im portugiesischen Praia da Luz eingestiegen. Sie wissen zu diesem Zeitpunkt: Der Mann ist festgenommen worden, bei ihm zuhause wollen sie sich deswegen mal umsehen, vielleicht etwas Diesel stehlen. Alle Männer kennen sich aus dem kleinkriminellen Milieu in der Küstenregion.
Der Einbruch ins Haus des Verdächtigen
Was die zwei Einbrecher vorfinden, beschreiben sie später als totales Chaos. Unordentlich, verdreckt sei es gewesen. Laptops und Kameras liegen wohl herum. Dinge, die ihr Bekannter vermutlich seinerseits Touristen gestohlen hat. Nach außen hin führt er zwar das Leben eines Dandys – mit Jaguar und schicken Hemden. Seine Bekannten wissen aber seit Längerem, dass er sich auch mit Einbrüchen in Hotelzimmer und Ferienhäuser über Wasser hält. Dort lässt er Wertgegenstände, Geld und Pässe mitgehen. "Kletteraktionen" nennt er das wohl auch, wenn er Fassaden hochsteigen muss.
Als der Mann, der sich Jahre später bei der Polizei melden wird, den Schlafzimmerschrank in dem Haus öffnet, fällt ihm etwas Ungewöhnliches auf: Eine Schwimmbrille habe dort gehangen, berichtet er, die Sichtfläche sei allerdings mit grauer Farbe zugepinselt gewesen. Was ihm zunächst nur merkwürdig vorkommt, wird später schnell beunruhigend.
Denn wieder daheim im eigenen Wohnwagen wertet er aus, was die Diebstour ergeben hat: Neben dem Auto sowie einigen hundert Litern Diesel, haben die Männer auch eine Pistole gestohlen – und eine Videokamera mitsamt Kassetten. Die will er sichten und anschließend löschen, sagt er später aus. Als er jedoch sieht, was die Aufnahmen zeigen, ist er geschockt. Er ruft er seinen Komplizen an: Der soll vorbeikommen, soll sich das ansehen.
Die Vergewaltigungen auf Band
Als der zweite Mann schließlich ebenfalls einige Sequenzen begutachtet hat, zieht er angewidert das Kabel aus dem Fernseher. Er kenne Pornos und könne das unterscheiden, sagt er später der Polizei – das seien keine gestellten Aufnahmen gewesen, sondern echte Vergewaltigungen.
Was sollen die Männer tun? Offenbar überwiegt lange Zeit erstmal die Angst vor der eigenen Strafverfolgung. Die Pistole entsorgen sie, das Auto wird verkauft, ansonsten erstmal dichtgehalten. Bis sich der eine zwölf Jahre später ein Herz fasst, der zweite dann ebenfalls auspackt, als die Polizei ihn befragt.
Die Männer sind sicher: Ihr Bekannter – heute gilt er als Tatverdächtiger im Fall Maddie McCann – hat mehrere Frauen vergewaltigt und seine Taten gefilmt. Demnach haben sie ihn auf den Videos erkannt, eine der Frauen habe sogar die zugepinselte Schwimmbrille getragen. Beweisen können sie es allerdings nicht mehr. Kamera und Aufnahmen sind angeblich irgendwann mit dem Wohnmobil entsorgt worden. Die Arbeit der Ermittler beginnt.
Die Tat in Praia da Luz
Zwar kann die portugiesische Polizei keinen Fall ausfindig machen, der exakt auf die Schilderungen der Männer zutrifft, sehr wohl liegt aber ein noch ungeklärter Fall bei den Akten, der auf das geschilderte Vorgehen des Täters zutrifft. Der Tatort ist ein Ferienhaus in Praia da Luz, das Opfer eine 72-jährige Amerikanerin. Mit einem Krummsäbel ist sie im Jahr 2005 überwältigt, danach von einem bis dato Unbekannten gefesselt, gefoltert, missbraucht und beraubt worden. Es ist der Wohnort des Verdächtigen, der Ort in dem auch Maddie verschwand.
- Tagesanbruch: Der Fall Maddie – ein Blick in die Hölle
Der Spurenabgleich mit dem Verdächtigen bringt einen Treffer hervor: Nach der Vergewaltigung wurde im Schlafzimmer eines seiner Körperhaare gefunden. Im Dezember 2019 gelangt das Landgericht Braunschweig deswegen und aufgrund er Zeugenaussagen zu der Überzeugung, dass der heute 43-Jährige schuldig ist, sieben Jahre soll er ins Gefängnis. Für das noch nicht rechtskräftige Urteil spielt seine strafrechtliche Vergangenheit eine nicht unwesentliche Rolle.
Das lange Strafregister
Denn nicht nur die Zeugen bringen ihn mit schweren Sexualstraftaten in Verbindung, es ist auch sein eigenes Strafregister. Bereits 1994 wird er demnach in Würzburg erstmals wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Jugendstrafe verurteilt – da ist er selbst gerade 17 und noch in der Ausbildung. Zuvor ist er schon mit Diebstahl aufgefallen. Sein Ausweg ist die Flucht: Um nicht ins Gefängnis zu müssen, setzt er sich 1995 mit seiner damaligen Freundin nach Portugal ab, wo sich beide fortan mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten.
Als er schließlich doch verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert wird, ist seine kriminelle Karriere nicht vorbei. Im Gegenteil: Offenbar nimmt sie gerade erst Fahrt auf. Nach der Haft kehrt er im Jahr 2000 nach Portugal zurück, schlägt sich wieder mit Jobs und Gaunereien durch, wie es die Zeugen schildern. Oft habe er Jobs in Hotels gehabt, sei auch sonst immer mit Hemd und Jackett unterwegs gewesen. Einer der Diebe gibt dem Mann einen Spitznamen: "der Oberkellner". Er mag ihn nicht besonders.
2005 wird die Amerikanerin in ihrem Haus in Praia da Luz vergewaltigt. Als er 2006 wegen Diebstahls verhaftet wird, steigen seine Bekannten in sein Haus ein, wo sie die Videobänder mit ähnlichen Taten entdecken. Am 3. Mai 2007 verschwindet dann Maddie McCann aus einem Apartment eines Hotelkomplexes im Ort. Hat der Deutsche damit zu tun?
Kurz vor ihrem Verschwinden telefoniert er offenbar noch aus dem Ort heraus. Vermutlich campiert er zu dieser Zeit in einem VW-Bus. Einen Tag danach meldet er seinen Jaguar auf einen anderen Namen an. Dann verlässt er spätestens im Sommer Portugal und taucht wieder in Deutschland auf.
Die Verbindung zum "Fall Inga"
Die Ermittler sind heute davon überzeugt, dass der Verdächtige Maddie tötete. Mit welchen harten Belegen dieser Verdacht erhärtet ist, ist aber noch unklar. Angeblich sind die Hinweise auf ihn schon einige Jahre alt, konnten aber nie ausreichend untermauert werden. Zu wenig weiß die Polizei offenbar noch über den konkreten Ablauf der Tat und die Bewegungen des Mannes am fraglichen Abend.
Sicher ist: Auch in den Jahren nach dem mysteriösen Verschwinden des kleinen Mädchens wird der Mann in Deutschland immer wieder auffällig, zunächst mit kleineren Delikten wie Urkundenfälschung, Drogenhandel und Diebstahl. Schließlich aber wieder mit sexuellem Kindesmissbrauch. Als am 2. Mai 2015 die kleine Inga in Sachsen-Anhalt verschwindet, gerät laut "Magdeburger Volksstimme" auch der Mann ins Visier der Ermittler. Offenbar besitzt er in der Nähe ein Grundstück.
Der Zeitung zufolge finden sie bei der Durchsuchung im Februar 2016 einen Datenstick mit Missbrauchsaufnahmen von Kindern. Laut "Spiegel" enthalten die damaligen Akten auch einen alten Chat: Er wolle "etwas Kleines einfangen und tagelang benutzen", heißt es darin demnach. Auf den Einwand, dass das aber gefährlich sei, habe er entgegnet: "Och, wenn die Beweise hinterher vernichtet werden."
Wenig später, das geht aus den Gerichtsunterlagen hervor, wird der Verdächtige im Fall Maddie am Amtsgericht Braunschweig wegen sexuellen Missbrauchs und dem Besitzes von Kinderpornographie verurteilt. Um seiner habhaft zu werden, mussten zuvor erneut die portugiesischen Behörden eingeschaltet werden. Dorthin hatte er sich abgesetzt. Mittlerweile ist die Haft in dieser Sache verbüßt.
Derzeit sitzt der Verdächtige noch seine Haftstrafe für Drogenhandel in der JVA Kiel ab. Ob er noch lange im Gefängnis bleibt, ist allerdings unklar. Eine mögliche Bewährung muss bald geprüft werden. Dann müsste er zwar eigentlich seine siebenjährige Haftstrafe für die Vergewaltigung in Portugal absitzen. Doch noch liegt die Revision beim Bundesgerichtshof. Sollte ein Verfahrensfehler das Urteil kippen und sich die Beweislage im Fall Maddie nicht zur Verhaftung ausreichen – möglicherweise wäre er bald wieder frei.
*Der Name des Zeugen wurde von der Redaktion geändert.
- Eigene Recherchen