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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jung, brutal und gut aussehend Wie ein eiskalter Killer zum Helden gemacht wird
Ein Mann erschießt einen anderen und wird dafür bejubelt. Was über Luigi Mangione bekannt ist – und wieso er so viele Fans hat.
Sonnyboy, Elitestudent, Charismatiker, Rückenschmerzpatient, Mörder und Volksheld: Luigi Mangione könnte all dies sein – und zwar möglicherweise in genau dieser Reihenfolge. So absurd es klingt: Der Mann, der am vergangenen Mittwoch mitten in Manhattan eine Pistole gezückt haben soll, mit der er einem anderen Mann eiskalt in den Rücken schoss, wird in den USA mittlerweile gefeiert wie der Rächer der Enterbten.
Auch nach seiner Festnahme am Montag reißt der Zuspruch für den 26-Jährigen nicht ab. Ein Kunde eines McDonald's-Restaurants hatte Mangione in einer Filiale in Altoona im US-Staat Pennsylvania erkannt und einem Mitarbeiter Bescheid gegeben. Dieser alarmierte die Polizei. Mangione wurde daraufhin nach fünftägiger Flucht festgenommen.
"Dieser Mann könnte sogar im Gefängnis viel Gutes bewirken"
Kurz nach Bekanntwerden der Nachricht rauschten die Google-Bewertungen des Restaurants in den Keller, eine Ein-Sterne-Rezension nach der anderen erschien. "Hier gibt es Ratten in der Küche", lautete einer der Kommentare. "Das macht Sie krank, aber Ihre Versicherung wird nicht bezahlen."
Auch in anderen sozialen Medien türmen sich die Solidaritätserklärungen. Während der Zeuge, der die Polizei informierte, als "Verräter" bezeichnet und ihm brutale Gewalt als Vergeltung angedroht wird, scheuen sich zahlreiche User nicht, ihre Bewunderung für einen mutmaßlichen Mörder auszudrücken. "Ich habe Angst, dass sie ihn heimlich ermorden", schreibt etwa ein Kommentator auf der Plattform Reddit. "Dieser Mann könnte sogar im Gefängnis viel Gutes bewirken."
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Das Opfer: Zehntausende lachen über den Tod von Brian Thompson
Um die Vorgänge zu verstehen, reicht es nicht, allein die Tat zu betrachten. Ein Mann erschießt in New York einen anderen von hinten mit einer offenbar in einem 3D-Drucker hergestellten Waffe samt Schalldämpfer – das kann unmöglich der Schlüssel dazu sein, dass sich so viele Menschen nun auf die Seite des mutmaßlichen Schützen stellen.
Klarer wird das Bild erst, wenn Opfer und Täter genauer beleuchtet werden. Es starb: Brian Thompson, Chef des Krankenversicherungskonzerns United Healthcare.
Der 50-Jährige leitete das Unternehmen seit 2021. Der Konzern ist der größte Krankenversicherer der USA. United Healthcare hat 440.000 Mitarbeiter, einen Jahresumsatz von 371 Milliarden Dollar (353 Milliarden Euro) – und zahllose empörte Kunden. Nach dem Tod von Thompson veröffentlichte das Unternehmen eine Trauerbekundung bei Facebook. Der erschossene Chef sei ein lieber Freund und hochgeschätzter Kollege gewesen, hieß es darin. Innerhalb weniger Tage reagierten mehr als 90.000 User darauf mit einem Lachsmiley, dann wurde die Zählfunktion versteckt.
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"Jedes Jahr sterben 76.000 Menschen wegen der Versicherer"
Gleichzeitig schrieben zig Versicherte in den sozialen Medien über ihre Erfahrungen. "Heute erinnere ich mich daran, wie United Healthcare plötzlich beschloss, die Kosten für meine Chemotherapie nicht mehr zu bezahlen, ohne es mir mitzuteilen", hieß es zum Beispiel in einem dieser Posts. Oder: "Der Herzinfarkt meines Mannes war laut Thompsons Konzern kein Notfall." Die Familie habe die Behandlung komplett selbst bezahlen müssen.
Ein anderer User schrieb unter Klarnamen, die De-facto-Hinrichtung des Spitzenmanagers sei zwar "eine schreckliche Sache" und löse kein Problem. Aber: "Zugleich sterben jedes Jahr 76.000 Amerikaner wegen der Krankenversicherungsbranche. Auch um sie trauere ich."
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Der mutmaßliche Täter: ein wütender Mann aus reicher Familie
Der mutmaßliche Schütze ist ein junger, gut aussehender Mann, der schon am Tatort eine klare Botschaft hinterließ. In die zurückgelassenen Patronenhülsen eingraviert waren die drei Wörter "deny", "defend" und "depose". Sie bedeuten "ablehnen", "verteidigen" und "absetzen" und wurden sofort als Anspielung auf den in der Versicherungsbranche gängigen Slogan "delay, deny, defend" ("verzögern, verweigern, verteidigen") verstanden.
"Delay, Deny, Defend" ist auch der Titel eines Buches, das sich kritisch mit der Taktik von Versicherungen in den USA auseinandersetzt, die Profite auf Kosten der Kunden schamlos immer weiter zu maximieren. Millionen US-Amerikaner, die keinen Zugang zu gesetzlichen Krankenversicherern haben, kennen diese Praxis aus eigener Anschauung: Um überhaupt einen Versicherungsschutz zu bekommen, müssen sie viel Geld bezahlen – und dann weigern sich die Konzerne dennoch, Leistungen zu übernehmen. Es ist ein dysfunktionales System.
Der mutmaßliche Schütze Luigi Mangione indes wirkt nicht wie das klassische Opfer eines solchen Geschäftsgebarens. Er dürfte über ausreichend Mittel verfügt haben, um sich eine erstklassige medizinische Versorgung leisten zu können. Berichten zufolge stammt er aus einer der einflussreichsten Familien in der Region rund um Baltimore im US-Staat Maryland. Dem Besitz der Familie werden unter anderem mindestens zwei Country Clubs, Pflegeheime, diverse weitere Immobilien und ein konservativer Radiosender zugerechnet.
Ein Cousin ist Abgeordneter von Trumps Republikanern im Parlament von Maryland. Nino Mangione trat nach der Festnahme als Sprecher der Familie auf und teilte mit, die Mangiones seien "schockiert und am Boden zerstört über die Nachrichten von der Verhaftung Luigis". Die Familie bitte um Gebete für alle Beteiligten.
Luigi Mangione: Elitestudent und mitreißender Anführer
Laut "New York Times" war Luigi Mangione als Schüler Jahrgangsbester einer renommierten Privatschule und schloss danach ein Masterstudium an der University of Pennsylvania ab. Die Privatuni zählt wie Harvard und Yale zum Club der acht altehrwürdigen Eliteuniversitäten im Nordosten der USA, die sich zur Ivy League zusammengeschlossen haben.
Mangione soll Informatik und Mathematik studiert und 2020 seinen Abschluss erworben haben. Während seines Studiums habe er einer Gruppe von rund 60 Studenten vorgestanden, die Videospiele entwickelten, hieß es. 2022 ging er nach Hawaii, das Newsportal "Honolulu Civil Beat" hat dort alte Freunde aufgespürt, mit denen er auf der Insel Oʻahu ein halbes Jahr lang in einer Wohngemeinschaft zusammenlebte.
Sie beschreiben Mangione als einen nachdenklichen Mann, als einen aufmerksamen Zuhörer und als einen geborenen Anführer, der seine Mitmenschen aufgrund seines Charismas mitreißen konnte. "Ich habe diesen Kerl geliebt", zitierte "Honolulu Civil Beat" einen seiner Bekannten. Mangione habe auf Hawaii einen Buchclub gegründet und dort mit seiner Fähigkeit zur Analyse geglänzt.
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Sind chronische Rückenschmerzen der Keim der Wut?
Die Aussagen seiner Freunde könnten auch eine weitere Spur zu den Motiven von Mangione legen. Möglicherweise gibt es einen privaten Kern der Wut auf die Krankenversicherer: Der junge Mann, der auf Fotos außergewöhnlich fit erscheint, litt demnach schon seit Jahren unter starken Rückenschmerzen. Die Rede ist von einer Wirbelverschiebung und eingeklemmten Nerven.
Bis 2023 soll er als Statistikingenieur für das Online-Autohaus True Car gearbeitet haben. Was er zuletzt machte, ist unbekannt. Vor etwa einem halben Jahr soll sich der 26-Jährige von seinen Freunden und seiner Familie zurückgezogen haben. In einer Nachricht wandten sich Angehörige an einen alten Schulfreund: Seit einer Operation habe die Familie nichts mehr von ihm gehört. Wie diese Operation verlief, ist bisher unbekannt.
Mangione lobte "Unabomber"-Manifest als vorausschauend
Unter anderem im Internet suchen jetzt Ermittler, Journalisten und Fans weiter nach Erklärungen für Mangiones Handeln. Dazu müssen sie auch rund 300 Buchrezensionen durchforsten. In einer davon bewertete der junge Mann das Manifest des als "Unabomber" bekannt gewordenen US-Attentäters Ted Kaczynski wohlwollend. Der erklärte Technikfeind Kaczynski hatte zwischen 1978 und 1995 bei einer Serie von Paketbomben-Anschlägen drei Menschen getötet und 23 weitere verletzt.
"Es ist leicht, dies schnell und gedankenlos als Manifest eines Verrückten abzutun", schrieb Mangione in seiner Rezension über den 35.000 Wörter langen Aufsatz "Die Industriegesellschaft und ihre Zukunft". Aber es sei unmöglich zu ignorieren, wie vorausschauend viele von Kaczynskis Aussagen über die moderne Gesellschaft gewesen seien.
- Ermordeter Konzernchef: Viele reagieren mit Häme auf das Attentat
Drei handgeschriebene Seiten: Mangione äußert sich zur Tat
Mangione selbst hat nun ebenfalls eine Art Manifest hinterlassen, wenn auch viel kürzer. Er hatte es bei seiner Festnahme bei sich, es ist bloß 262 Wörter lang, die drei mit der Hand geschriebene Seiten füllen. Erste Passagen daraus sind inzwischen öffentlich geworden. Unter anderem soll es darin an die Ermittler gerichtet heißen: "Um Ihnen eine langwierige Untersuchung zu ersparen, stelle ich klar, dass ich mit niemandem zusammengearbeitet habe."
Weiter verurteilt der Autor in dem Text Unternehmen, die "unser Land für immensen Profit missbrauchen, weil die amerikanische Öffentlichkeit es ihnen erlaubt hat, damit durchzukommen". Er entschuldige sich für jeglichen Unfrieden und jedes Trauma, aber: "Diese Parasiten haben es verdient."
Pennsylvanias demokratischer Gouverneur Josh Shapiro sah sich unterdessen zu einer Feststellung genötigt, über die es in einer funktionierenden Demokratie eigentlich keine Differenzen geben sollte: "Wir töten keine Menschen kaltblütig, um politische Meinungsverschiedenheiten zu lösen oder einen Standpunkt zu vertreten." Was der Fall Mangione über den Zustand der amerikanischen Demokratie offenbart, ist besorgniserregend.
- Beiträge in sozialen Medien
- reuters.com: "Google pulls McDonald's negative reviews over arrest in UnitedHealth murder" (Englisch)
- huffpost.com: "UnitedHealthcare's Facebook Post About Slain CEO Flooded With 'Haha' Reactions" (Englisch)
- nytimes.com: "Suspect in C.E.O. Killing Withdrew From a Life of Privilege and Promise" (Englisch)
- civilbeat.org: "Luigi Mangione’s Hawaiʻi Friends Shocked By Arrest In UnitedHealthcare CEO Shooting" (Englisch)
- thedesk.net: "Family of suspect in CEO’s killing has ties to broadcast radio industry" (Englisch)
- edition.cnn.com: "‘I never got the impression he would self-destruct:’ Friends of suspect in fatal CEO shooting left in shock" (Englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP