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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chronik einer Radikalisierung Wie Herr B. zum Staatsfeind wurde
Ein Mann steht als Kopf einer Terrorgruppe vor Gericht – und redet wie ein Wasserfall. Es ist eine Lektion darüber, wie ein "besorgter Bürger" zum Staatsfeind wurde.
Seit dem Frühjahr 2021 wuchs die Gewissheit bei Sven Birkmann, dass er die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland retten müsse und er das Widerstandsrecht nach dem Grundgesetz habe. Der entsprechende Artikel 20, Absatz 4, wurde von den radikalen Rednern auf den Corona-Veranstaltungen oft beschworen. Doch Sven Birkmann ging auch an die Umsetzung.
Er ist einer der fünf Angeklagten im Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz wegen Bildung einer mutmaßlichen Terrorgruppe. Laut Bundesanwaltschaft soll der Mann federführend bei dem Vorhaben gewesen sein, einen Blackout auszulösen, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zu entführen und eine neue Regierung zu installieren. Der 55-Jährige ist ein Rädelsführer der Gruppe "Vereinte Patrioten".
Im Prozess spricht er sieben Stunden lang, gibt tiefe Einblicke in seine Gedankenwelt: Seine Erklärung zeichnet das Bild eines Mannes mit verklärtem Blick auf die DDR, der mit wachsender Politikverdrossenheit die Veränderungen in unserer Gesellschaft verfolgt – und aktiv wird, als ihn die Corona-Maßnahmen als Ungeimpften treffen und seine Familie zerbricht.
"Krieg gegen das eigene Volk eröffnet"
"Was da abging, brachte mich hierher. Es wurde der Krieg gegen das eigene Volk eröffnet." Er habe drei Möglichkeiten gesehen: "Alles mitmachen, kleinkriminell so zu tun als ob – oder aktiv Widerstand leisten und das Leben riskieren." Er wählte den dritten Weg.
Bis heute steht er zu seinen Überzeugungen. Birkmann sagt, er habe nicht weniger als ein neues System gewollt: Darin sollte es keine Parteien und eine Verfassung nach dem Vorbild von 1871 geben. "Niemand von uns wollte aber den Kaiser zurück", sagt er im Prozess. "Wir wollten die aus unserer Sicht einzig mögliche Verfassung anpassen." Ziel sei eine Art Wende wie am Ende der DDR 1989 gewesen, bei der das Volk die Macht zurückgewinnen und die Regierung wieder für das Volk arbeiten würde.
Seine Aussage im Prozess dauert sieben Stunden. Sie illustriert die Geschichte einer Radikalisierung, die mit gesellschaftlichen Veränderungen, vielen Enttäuschungen und einer zerbrochenen Beziehung zu tun hat. Und mit Selbstverliebtheit und dem eigenen Selbstbild: "Ich versuche, die Welt zu einer besseren zu machen." Widerstand, sagte er, habe für ihn nicht bedeutet, einen Tankwart zu erschießen, "sondern das Übel an der Wurzel ausreißen".
Was genau das bedeuten sollte, wird im Prozess noch zur Sprache kommen. Sein Verteidiger Philipp Grassl betont zwar, es sei noch keine terroristische Gruppe gebildet und Hochverrat vorbereitet worden. Sein Mandant schildert aber freimütig, dass er ab dem Frühjahr 2021 über den Messaging-Dienst Telegram ausgebildete Militärs gesucht habe, um mit ihnen "Aktionen" durchzuführen.
Nationalhymne ironisch angestimmt
Birkmanns Plan ging schief. Jetzt bleibt ihm noch der Prozess als Bühne. Er liest an zwei Tagen 98 Seiten mit Details zu seinem Leben und Einstellungen vor. Mal singt er dabei die Nationalhymne, um ironisch zu hinterfragen, ob der Text noch gelte, mal imitiert er die Geräusche eines Modems. Er versucht, auch unterhaltsam zu sein – und doch seine Botschaft anzubringen. "Lügen, Vertuschungen und unvollständige Darstellungen sind der Grund, warum ich hier sitze", sagt er. Birkmann will auch alle Fragen des Gerichts und der Anklage beantworten – anders als die übrigen Angeklagten.
Der 55-Jährige erzählt von vielen Aufregern, die an jedem Stammtisch jederzeit zu hören sein könnten. Keine Werte mehr, nur noch Verbote und Regelungen überall, nichts dürfe man mehr sagen, Winnetou werde verboten, Hitzewellen gab es doch schon immer. Ihn hat auch der Ausschluss von Thilo Sarrazin aus der SPD geärgert, der zum Thema Migration doch nur die Wahrheit gesagt habe.
Die Flüchtlingskrise 2015? Für ihn eine Straftat und Verrat am eigenen Volk, eine der zahllosen Ungerechtigkeiten und Verletzungen. "Über die Deutschen weiß man fast alles" – der langjährige Buchhalter empört sich immer wieder über staatliche Kontrollwut, über Steuer- und Schwarzarbeitsprüfungen. "Aber hat man die Einreisenden kontrolliert, die kein Interesse und keinen Respekt vor den hier lebenden Ureinwohnern haben?" Die Ängste der Menschen bei Demonstrationen 2015 seien so berechtigt gewesen wie die der Corona-Demonstranten, jeden Tag müsse man sich vor Messer- und Machetenmord fürchten. Dass die Zahl der Morde im Jahr 2022 bei 211 lag und damit die niedrigste Zahl seit 2002 war, kommt bei ihm nicht vor. Deutschland hat eine der weltweit niedrigsten Mordraten.
Für Steaks und gegen Gendersprache
Birkmann schimpft nicht nur auf Flüchtlinge, er fürchtet auch um das "gute Steak vom Grill". Statt mit Gendersprache hält er es mit Russland – "da gibt es nur Mutter, Vater, Kind". Solarenergie sei ineffizient, Windkraft umweltschädlich. Er betont zwar, selbst einen "neuen Diesel" gefahren zu sein, kritisiert aber zugleich die verfehlte Verkehrspolitik, die zu wenig auf den ÖPNV setze. Etliche solcher Widersprüche gibt es, und sie zeigen vielleicht, wieso er von keiner Partei etwas hält. Keine handele für das Volk, die Abgeordneten seien Liebesdiener für die Konzerne, die Konzerne Freier, vermittelt werde von Lobbyisten, den Zuhältern. Deligitimierung des Staates – unter tatkräftiger Mithilfe der Politik mit wirklichen oder vom Gegner aufgebauschten Skandalen. Beispiele fallen ihm viele ein.
Der ehemalige NVA-Soldat erzählt viel von seiner DDR-Vergangenheit. Vieles sei zwar marode gewesen, aber mit Improvisationstalent hätten die Menschen fast alles hinbekommen, der Zusammenhalt sei auch ein ganz anderer gewesen. Er fand gut, dass es immer saisonale Produkte aus der Region gab, sagt er, und es habe ihn gewundert, dass Ossis das Begrüßungsgeld "kurzsichtig für exotische Früchte" ausgaben.
Nach der Wiedervereinigung will der Soldat nicht zur Bundeswehr: Er wäre dann degradiert worden, "obwohl ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen". Offenbar verletzt es ihn tief, dass die Leistungen und Errungenschaften des Ostens nicht entsprechend gewürdigt wurden, "den Kalten Krieg haben wir Ossis verloren". In der DDR sei damals auch die Uniform der "einzigen Friedensarmee" noch mit Stolz getragen worden, sagt er. Bei der Razzia wurde eine in seinem Keller gefunden. Keine "SS-Uniform", wie die "Bild"-Zeitung schrieb.
Bei Sven Birkmann klingen aber auch zwischendurch Töne an, die selbst am Stammtisch nicht oft zu hören sind. Er spricht von "britischer Umerziehungsideologie. Wir bekommen wieder mehr Hitler- und KZ-Dokumentationen zu sehen." Alliierte Verbrechen an Deutschen in Dresden und Kriegsgefangenenlagern am Rhein seien dagegen vertuscht worden – das ist klar Neonazi-Ideologie. Doch ein "Nazi" zu sein, schließt er für sich aus. Er möge ja die Toten Hosen oder Die Ärzte und habe ausländische Freunde.
Der Angeklagte moniert, dass Deutschland auch noch ewig zahlen müsse und unfrei sei, dass es ohne Geld keine Verteilungsprobleme geben würde. Stattdessen würden alle vier Gewalten eine Neue Weltordnung planen, Klaus Schwab mit dem Buch vom "Great Reset" ist für ihn der Beleg. Birkmann gefiel sich darin, dass er immer kritisch die "Regierigen" beobachtet habe. Menschen wie er aus der DDR seien da auch sensibler für Fehlentwicklungen.
"Das Virus ist menschgemacht"
Und dann kam Corona.
Birkmann begann, "im weltweiten Internet zu recherchieren". Er fand heraus, dass sich der Bundestag 2013 mit einem solchen Pandemieszenario beschäftigt hatte, er fand es verdächtig, dass Merkel im Herbst 2019 in Wuhan war. "Heute weiß man, das Virus ist menschengemacht." Das weiß man nicht, auch ein Laborunfall gilt als mögliches, aber unwahrscheinliches Szenario. Der eigentlich belesene Birkmann präsentiert vieles als vermeintliche Tatsache und Wissen, was anders oder ungeklärt ist. Unzureichend erhobene Daten lassen aber oft auch Raum für Interpretationen.
Es gibt konkrete Ereignisse, die ihn nach seinen Worten erschüttern: Die Heidelberger Anwältin Beate Bahner, die eine der ersten Klagen gegen die Corona-Regeln einreichte, landete in der Psychiatrie – für kurze Zeit und wegen tatsächlich akuter Probleme, wie es aus ihrem Umfeld heißt. Aber Birkmann nimmt die Gründe nicht mehr wahr.
Es werden Menschen festgenommen, die ein Grundgesetz hochhalten – er ist empört. Zu diesem Zeitpunkt ist tatsächlich die Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt, und die Grundgesetz-Träger werden aufgehalten, weil sie sich als Teilnehmer einer nicht zulässigen Versammlung zu erkennen geben. "Demo-Verbote weckten in mir Aufbegehrungsgelüste."
Die Ehefrau ließ sich impfen
Seine Frau gestaltet ihm zwei T-Shirts für Demos, "staatlich verordneter Maulkorb" prangt auf einem. Später lässt sie sich allerdings impfen. Silvester 2021/2022 verbringen sie bereits getrennt. Die Scheidung ist eine Folge seines speziellen Verhältnisses zu "Corinna". So nennt er Corona nur. Er hätte erwartet, dass sie zu ihm steht: "Kleinkriminellen geht es da besser. Andernorts und in anderen Kreisen zählt Familie noch." Es ist offenbar eine weitere schwere Kränkung für ihn.
Als RKI-Chef Lothar Wieler im Jahr 2020 sagte, "diese Regeln dürften nie hinterfragt werden", war das für ihn "ein Schlag in die Fresse". Der Satz wird von Maßnahmen-Gegnern immer wieder empört zitiert – und bezog sich doch nur auf freiwillige Aha-Regeln: Menschen sollten Abstand halten, Händehygiene beachten und dort, wo sie keinen Abstand halten können, zusätzlich Alltagsmasken oder Mund-Nasenschutz tragen. Heute weiß man aber auch, dass Alltagsmasken faktisch keinen Schutz bieten und Schmierinfektionen für Corona-Übertragungen keine Rolle spielen.
Birkmann arbeitet als Dozent für Bankkaufleute und hat kein Verständnis fürs Maskentragen, 3.000 verschiedene Gesichtsausdrücke gebe es, er habe in den Gesichtern nicht mehr lesen können, ob seine Zuhörer schwierigen Stoff verstanden hätten. Wo er Maske tragen musste, habe er eine "Guy Fawkes"-Maske aufgezogen, wie sie von dem Hackerkollektiv "Anonymous" bekannt ist. Dann später trägt er gar keine mehr. Er bricht lieber verärgert einen Einkauf ab, als ihn in einem Discounter ein Mann mit Rollator und Sauerstoffgerät dort "Mörder" nennt. Die Menschen hätten sich von der "Propaganda" völlig verängstigen lassen.
Als im November 2020 das Infektionsschutzgesetz im Bundestag beschlossen wird und Demonstranten beregnet werden, empört er sich danach, es seien Wasserwerfer gegen Frauen mit Kindern eingesetzt worden. Bei dem Gesetz, die Gegner sprechen vom "Ermächtigungsgesetz", habe er es "richtig mit der Angst" zu tun bekommen. Enthalten sind Regelungen zu Grundrechtseinschränkungen – und Birkmann sagt: "In einem Staat, in dem die Wohnung nicht mehr unverletzlich ist, gibt es keine Freiheit und keine Demokratie mehr." Der "Lockdown light" kommt und ist für ihn noch weit schlimmer als der erste. Er spricht von den psychischen Belastungen für Kinder, vom einsamen Sterben abgeschirmter Alter. Kritik, die heute weitgehend geteilt wird.
Söders "Corona-RAF beschwor genau das"
Der Verfassungsschutz merkt zunehmend, dass es manchen bei den Protesten um mehr geht als um Corona-Beschränkungen, der Ton wird rauer. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder spricht von "Corona-RAF" und Terroristen – eine Art selbsterfüllende Prophezeiung? So stellt es Birkmann dar: "Södolf beschwor genau das." Wenn man als Feind des Systems bezeichnet werde, "dann ist man auch gegen das System".
Birkmann sieht sich im Krieg. So schreibt er es im April 2021 auf Telegram, als er eine Gruppe für Veteranen gründet. Im Prozess spricht er von Februar 2021, das passt aber nicht zu anderen Angaben. In kürzester Zeit hat die Gruppe 16.000 Mitglieder, weil etwa auch die "Querdenken"-Organisation von Michael Ballweg den Link teilt. Der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr distanziert sich: "Diese Personen richten sich gegen alle Werte, die wir gemeinsam vertreten." Sven Birkmann schreibt den Gruppenmitgliedern, die Gruppe sei der Rekrutierungspool für die Garde. "Wir werden jeden einzeln kontaktieren."
Vorbild waren niederländische Veteranen, die mit Baretts auf gewaltsam verlaufenden Demos in den Niederlanden zum Schutz der Demonstranten vor der Polizei auftauchten. Von Demos in Deutschland entstanden auch Bilder, die Empörung über Polizeieinsätze schürten. Birkmann: "Wir wollten die Demonstranten schützen, ob die Demos erlaubt waren oder nicht."
Die Veteranen tauchen auch bei der Flut an der Ahr auf, hier entstehen Kontakte zu Mitgliedern der großen Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß und Ex-Oberst Maximilian Eder, die auch einen Putsch geplant haben soll und gegen die noch ermittelt wird. Birkmann sieht, dass an der Ahr in den ersten Tagen viel Hilfe fehlt, aber schon ein Impfbus im Tal ist. Das macht ihn wütend. Beim Impfen, sagt er, werden Tote "billigend in Kauf genommen". Er betont das: Genau das wird ihm vorgeworfen; er habe bei einer Lauterbach-Entführung auch Tote billigend in Kauf genommen. Er will suggerieren, das sei vergleichbar: "Wenn zwei das Gleiche tun..."
"Es war Zeit, ins Handeln zu kommen!"
Als am 10. Dezember 2021 das verschärfte Infektionsschutzgesetz vorsieht, dass Tierärzte und Apotheker impfen dürfen, "war die freiheitlich-demokratische Grundordnung restlos zerstört, und es war Zeit, ins Handeln zu kommen und die geknüpften Kontakte zusammenzuführen." Zitate von Politikern und Medien, in denen Impfverweigerer besonders vehement kritisiert werden und deren Ausgrenzung gefordert wird, hat er aufgesagt, jedes ist für ihn ein neuer Beleg für den Weg in einen vermeintlichen Faschismus.
Am 18. Dezember kommt es zum ersten Treffen, 15 bis 20 mutmaßliche Verschwörer sollen anwesend sein. Darunter sind neben alle fünf Angeklagten. Nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft wurde es dort recht konkret: Lauterbach könnte entführt, ein großflächiger Stromausfall ausgelöst werden, wird besprochen.
Es folgen weitere Treffen. Am 13. April 2022, als ein anderer früherer NVA-Soldat von einem verdeckten Ermittler auf einem Supermarkt-Parktplatz im pfälzischen Neustadt an der Weinstraße Waffen kauft, wird die Gruppe hochgenommen und auch Birkmann festgenommen. "Das war meine Entführung aus dem bürgerlichen Leben". Sein Terminkalender für die kommenden Monate ist zu dem Zeitpunkt voll, er hätte als Dozent auch ungeimpft wieder unterrichten dürfen. Für die meisten Menschen verlief das Leben wieder wie vor Corona.
Aber Sven Birkmann war jetzt Staatsfeind.
- Beobachtungen im Prozess
- tagesspiegel.de: Veteranen machen für Querdenker mobil