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St. Joseph in Ost-Jerusalem: "Juden und Muslime: Wir kümmern uns um alle"


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Krankenhaus in Ost-Jerusalem
"Juden und Muslime, Attentäter und Opfer: Wir kümmern uns um alle"

Von Franziska Grillmeier

08.12.2018Lesedauer: 8 Min.
Maher Deeb: Chirurg und medizinischer Leiter des St.-Joseph-Krankenhauses in Ostjerusalem.Vergrößern des Bildes
Maher Deeb: Chirurg und medizinischer Leiter des St.-Joseph-Krankenhauses in Ostjerusalem. (Quelle: Chrismon)
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Im Krankenhaus St. Joseph in Ost-Jerusalem kommen Patientinnen und Personal aus zwei Welten zusammen: Orthodoxe Juden und Palästinenser aus dem Gaza-Streifen.

Während sich junge Mütter auf der Geburtsstation die Nägel lackieren lassen, bangt ein Vater auf der Intensivstation um das Leben seines Sohnes. Krankenhaus eben, wie überall. Aber in Ostjerusalem ist es nicht normal, dass orthodoxe Jüdinnen ebenso wie Menschen aus Gaza zu den Patienten gehören – wie im Hospital Saint Joseph.

Schlimmer als der Tod

Maher Deeb schlägt die wuchtigen Hände überm Kopf zusammen und lässt sie langsam am Nacken herunterrutschen. Eine Rebe vertrockneter Trauben liegt vor ihm auf dem Teller. Er hat schon länger nichts gegessen. Nachtschicht. Drei Schussverletzte. Patienten aus Gaza. Er tut, was er kann. Unterm Tisch glättet er mit den Füßen die froschgrünen Hosenbeine. „Manche Verletzungen sind schlimmer als der Tod“, sagt er.

Maher Deeb ist Chirurg und der medizinische Leiter des St.-Joseph-Krankenhauses in Ostjerusalem. Er trinkt einen Schluck kalten Tee und fixiert mit müden Augen Don Quijote in einem Gemälde an der Wand gegenüber. Dann schüttelt er schnell den Kopf, als wolle er sich wieder ins Gespräch zurückholen. „Wir kümmern uns um alle!“, sagt er und zählt auf: um fanatische Juden und Muslime, Patienten aus Gaza, Opfer von Attentaten und Attentäter. Um Schwangere, jüdische Siedlerinnen, halb versicherte Patienten aus dem Westjordanland. Am Ende werde das Krankenhaus von allen Seiten angefeindet. Von den Palästinensern, weil das Saint Joseph auf der Geburtsstation auch koscheres Essen für jüdische Mütter anbietet. Von jüdischen Krankenhäusern, weil sie das Saint Joseph als Konkurrenz sehen. Von israelischen Politikern, weil das Krankenhaus „Terroristen“ behandle. „Alle haben was zu sagen, dabei . . .“ Deebs Telefon klingelt, er hebt ab, „wollen wir einfach nur unsere Patienten behandeln. Hallo?“.

Friseursalon statt teurer Geschenke

In einem rosaroten Zimmer ohne Fenster, dem hintersten Raum auf der Geburtsstation, kurz vor der Sicherheitstür zur Kantine, die beides ist, koscher und halal, scrollt Mai Slebi auf ihrem Instagram-Account auf und ab und sucht ihre schönsten Frisuren heraus. Sie stammt aus Bethlehem und ist Friseurin im Saint Joseph. Seit drei Jahren wäscht sie den Müttern nach der Geburt die Haare und glättet sie und lackiert ihnen die Nägel. Der Schönheitssalon soll den Müttern den Aufenthalt im Saint Joseph noch attraktiver machen. Mittlerweile sitzen bis zu 15 Frauen täglich vor dem roten Spiegel. Vergangenen Oktober saß hier auch die erste orthodoxe Jüdin. Seitdem wächst die Zahl der jüdischen Kinder, die im Saint Joseph zur Welt kommen. Eine Seltenheit, denn normalerweise sind es palästinensische Mütter, die aufgrund der besseren medizinischen Möglichkeiten in israelischen Krankenhäusern entbinden, nicht umgekehrt.

Die Geburtsstation gibt es seit 2015. Sie ist zur wichtigsten Einnahmequelle für das St.-Joseph-Krankenhaus geworden, mit nur 300 Betten und 150 Angestellten das kleinste Spital in Jerusalem. Für jede Geburt zahlt das staatliche israelische Versicherungsinstitut eine Prämie von 13.700 Schekel, umgerechnet 3.250 Euro. Nun konkurriert das palästinensisch geführte Krankenhaus im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, das einem französischen Schwesternorden gehört, mit jüdischen Entbindungsstationen. „Die Krankenhäuser in Westjerusalem waren stinksauer, als die Klinik eine Geburtsstation eröffnet hat“, sagt Irith Hadas, die Leiterin der Radiologieabteilung und die einzige jüdische Ärztin im Haus. „Da war die Hölle los!“

Es klopft an Mai Slebis Tür. Tanya Rozanes steckt ihren Kopf herein. Der glitzernde Delfinschlüsselanhänger schwingt im Schloss. Mai Slebi nickt und deutet mit einem leisen „Please“ auf den Stuhl ihr gegenüber. Tanya Rozanes’ schwarzes Wickelkleid spannt noch etwas um den Bauch. Im Gegensatz zu den anderen Patienten im Krankenhaus hat sie eine sommerliche Bräune im Gesicht. Erst gestern brachte sie in einem aufblasbaren Wasserbecken ihren zweiten Sohn zur Welt. „Problemlos“, wie sie sagt. Sie ist 33, kommt ursprünglich aus Moskau und lebt seit über 20 Jahren in Jerusalem. Zusammen mit ihrem israelischen Mann leitet sie ein Sprachstudio. Ihr Gynäkologe hat ihr zur Wassergeburt geraten. Das Saint Joseph ist das einzige Krankenhaus in Jerusalem, das dies anbietet. Auch die drahtlosen Monitore, die der Mutter erlauben, sich während der Wehen im Krankenhaus frei zu bewegen, haben Rozanes überzeugt.

Mai Slebi deutet auf das Regal hinter ihr, in dem die Nagellackfläschchen leuchten. „Haben Sie etwas Neutrales? Eine Körperfarbe?“, fragt Tanya Rozanes. Slebi aber holt mit prüfendem Blick ein Warnwestenorange aus dem Regal. „Öfter mal was Neues“, sagt Rozanes. Die Friseurin lacht und schraubt den Pinsel ab.

Anders als viele Westjerusalemer Juden hatte Rozanes noch nie ein Problem damit, durch die palästinensischen Viertel Ostjerusalems zu laufen. Sie zählt die Namen der Viertel auf: christlich, jüdisch, armenisch. Die Worte verklingen im klimatisierten Raum. Rozanes lächelt die Friseurin vage an, die über ihre Hände gebeugt konzentriert ihr Werk vollbringt. „Muslimisch“, fügt sie hinzu.

Das katholische Krankenhaus Saint Joseph gehört zu einem Verbund von sechs palästinensischen Krankenhäusern in Ostjerusalem, gefördert unter anderem von der Europäischen Union. Zu dem Verbund gehört auch das lutherisch geführte Krankenhaus Auguste-Viktoria auf dem Ölberg.

„Andere Krankenhäuser überhäufen dich mit Windeln und Babycremes nach der Geburt“, sagt Rozanes. Im Hadassah-Krankenhaus, wo sie ihren ersten Sohn zur Welt brachte, schenkte man ihr sogar eine Nacht im Hotel. Doch für sie ist es das größte Geschenk, Haare und Nägel gemacht zu bekommen. Außerdem sei die Behandlung hier viel günstiger als im jüdisch geführten Hadassah-Krankenhaus. Dort kostet eine Geburt in „natürlicher Umgebung“ das Dreifache. Auf Wunsch kann man im Saint Joseph ein Beistellbett für den Ehemann dazubuchen, für 150 Euro die Nacht. Ansonsten trägt die staatliche Krankenkasse auch hier alle Kosten.

Babystation finanziert Gaza-Patienten

Auf derselben Etage, allerdings im alten Gebäudeteil, sitzt Dawood Al Shobaki auf einem Stuhl vor der Intensivstation und hält sein Telefon in Armlänge von sich. Hier ist das Licht greller, an den Wänden hängen keine Strandbilder, sondern ein Plakat erklärt, was zu tun ist, wenn man Erste Hilfe leisten will. Al Shobakis Schnurrbart ist fein ausrasiert. Er hat die Beine übereinandergeschlagen und schreibt seiner Familie in Gaza, die er vor einem Monat zuletzt gesehen hat. Seitdem lebt er im St.-Joseph-Krankenhaus, duscht hier und schläft auf einem Stuhl auf dem Gang. Beistellbetten für Angehörige aus Gaza, deren Aufenthaltsgenehmigung nur bis zum Parkplatz reicht, gibt es im alten Gebäudeteil nicht. Anders als auf der vom israelischen Gesundheitsministerium finanzierten Geburtsstation fehlt hier für so etwas das Geld.

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Israel zahlt nur für die Behandlung israelischer Staatsbürger. Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland müssen für die Krankenhauskosten auf israelischem Gebiet selbst aufkommen. Wer kann sich das schon leisten? Andererseits können Patienten aus Gaza in den dortigen Krankenhäusern oft nicht behandelt werden, weil es an Elektrizität, Ausstattung und medizinischem Personal mangelt.

Das Saint Joseph kümmert sich um Patienten aus Gaza deshalb oft kostenlos – finanziert wird das durch die Einnahmen aus der Geburtsstation für jüdische Israelis. Sonst wäre die Behandlung auch von Dawood Al Shobakis Sohn Zahri nicht möglich. Die Ärzte haben bei ihm einen Genickschuss mit Tetraplegie diagnostiziert, eine Lähmung aller vier Gliedmaßen. Dazu kommt ein Locked-in-Syndrom, Bewegungsunfähigkeit bei Bewusstsein.

Nebeneinander behandelt und doch weit von einander entfernt

Ein paar Schritte weiter, im neuen Gebäudeteil, sitzt Tanya Rozanes frisch geföhnt wieder auf ihrem Bett. In einer Krippe vor ihr schläft ihr Baby. Hinter dem Vorhang neben ihr bricht in einer arabischen Telenovela begleitet von wimmerndem Schluchzen eine Ehe auseinander. Im Gegensatz zum Hadasah-Krankenhaus werden die jüdischen und arabischen Mütter in den Zimmern hier nicht getrennt. Rozanes hat kein Problem damit. „Wir sind ja nur 48 Stunden hier.“ Als sie erfährt, dass im alten Trakt des Krankenhauses auch Demonstranten aus Gaza behandelt werden, richtet sie sich im Bett ein Stück auf: „Aus Gaza?“, sagt sie. „Hier?“ Sie lächelt angespannt, und nach einer Weile sagt sie: „Ich muss jetzt stillen.“

Dawood Al Shobaki hat Israelis in seinem Leben vor allem als Soldaten, Besatzer oder militante Siedler im Gazastreifen kennengelernt. Er nahm ihre Drohnen und Flugzeuge wahr. Doch darüber will er nicht sprechen. Darum geht es ihm nicht mehr. Er will nur, dass sein Sohn überlebt. Zur Seite gekrümmt liegt Zahri auf seinem Bett. Sprechen kann er nicht mehr, nur noch blinzeln. Nach vier Wochen im Saint Joseph entwickelten Vater und Sohn ein eigenes Alphabet, um zu kommunizieren. Immer wenn der Vater einen Buchstaben sagt, formt der Sohn eine Form mit seinem Mund und zuckt mit seinen Wimpern. Nach einer Woche konnte er seinem Vater sagen, er fühle sich, als hätte er überall „Gänsehaut“. Für Al Shobaki war das die Gewissheit, dass sein Sohn nicht nur überleben, sondern auch fühlen konnte. Doch er weiß: Sobald das Krankenhaus seinen Sohn zurück nach Gaza überführt, ist das sein Todesurteil.

Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Die jüdische Mutter bleibt besonders

Es war im Mai dieses Jahres, der Tag, an dem die US-Botschaft in Jerusalem eröffnet wurde, erinnert sich Al Shobaki. Zahri, 22, ging zum ersten Mal mit auf die Demonstration. „Er war wohl neugierig. Davor hatte ihn das nie interessiert.“ Am Ende des Tages, als die Krankenhäuser nicht mehr wussten, wohin mit den Verletzten, standen zwei Freunde von Zahri plötzlich vor Dawood Al Shobaki. Sein Sohn, sagten sie, sei jetzt ein Märtyrer. 52 Tote, mehr als 2400 Verletzte. Es war der blutigste Tag in Gaza seit dem Krieg 2014. Al Shobaki ging von Krankenhaus zu Krankenhaus. Von Zimmer zu Zimmer. Von Gang zu Gang. Und schließlich von Kühlraum zu Kühlraum. „Die Schussverletzten stapelten sich in den Gängen“, erinnert er sich, „nirgendwo konnte ich ihn unter den Verletzten finden.“ Nach neun Stunden begann er seine Suche wieder dort, wo er angefangen hatte. Im ersten Krankenhaus. Und fand Zahri in einer Ecke liegend, mit einem Schild auf der Brust: „Anonymous Number 1“.

Die Ärzte hatten Zahri aufgegeben. Ohne Elektrizität konnten sie ihn nicht durchgängig künstlich beatmen. Neun Tage blieb Al Shobaki bei seinem Sohn im Krankenhaus und kämpfte für seinen Transport auf israelisches Gebiet. Er schrieb Briefe an Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und telefonierte stundenlang mit dem israelischen Gesundheitsministerium. Jeden Tag musste er die Ärzte in Gaza aufs Neue überzeugen, seinen Sohn nicht aufzugeben. Neun Tage später kam die ersehnte Genehmigung – vom St.-Joseph-Krankenhaus. Seither sind 52 Tage vergangen. Zahri liegt noch immer auf der Intensivstation. Vor zwei Wochen kamen Journalisten und wollten mit Vater und Sohn sprechen. „Warum wollen Sie jemanden interviewen, der tot ist?“, fragten die Ärzte. Al Shobaki wollte seinem Sohn die Ohren zuhalten. Doch es war zu spät.

Ein paar Tage später setzte sich ein Chirurg neben ihn auf die Bank vor der Intensivstation. Er sagte: „Schauen Sie sich den Fall aus der Sicht eines Arztes an, nicht aus der eines Vaters.“ Da wusste Al Shobaki: Dem Krankenhaus geht das Geld aus. Und seinem Sohn die Zeit. Doch so lange bleibt er auf seinem Stuhl im Wartezimmer.


Vor dem Eingang zur Geburtsstation öffnet der Sicherheitsbeamte Nhader Ghalassi eine Dose Cola. Er kommt wie Friseurin Mai Slebi jeden Tag mit dem Bus aus Bethlehem zur Arbeit. Auch er hat von Zahris Schicksal auf der Intensivstation gehört. „Armer Teufel“, sagt er, „ich kenne die Menschen aus Gaza sonst nur aus dem Fernsehen.“

Dann setzt er hastig die Dose ab. „Hier, schauen Sie!“, sein Zeigefinger deutet auf eine Frau im Blumenkleid. Zwei Kinder schieben sich plärrend um ihre Beine. „Eine jüdische Mutter!“, sagt Ghalassi eine Spur zu laut. Dass eine Jüdin hier entbindet, ist eben immer noch etwas Besonderes.

Lesen Sie hier, wie Wassim Razzouk in der 27. Generation Gläubige tätowiert.

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