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Cem Özdemir: Will er Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden?


Meinung
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Schwäbische Ambitionen
Ein Grüner will es wissen

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

08.10.2024Lesedauer: 5 Min.
Özdemir muss sich vor Stockacher Narrengericht verantwortenVergrößern des Bildes
Agrarminister Özdemir eckt bei manchen Grünen an. (Quelle: Patrick Seeger/dpa/dpa-bilder)
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Cem Özdemir will Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Cem statt Winfried, Özdemir statt Kretschmann. Aber: Das ist doch eine Mission impossible. Sagen die Demoskopen. Hofft die CDU. Fürchten die Grünen.

Um korrekt zu sein: Cem Özdemir hat noch nicht gesagt, dass er Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden will. Aber er will. Um das herauszufinden, brauche ich keine investigative Recherche. Es reicht völlig aus, dem amtierenden Agrarminister der Ampelkoalition zuzuhören und seine öffentlichen Auftritte zu beobachten.

Im Juli sagte Özdemir, er könne sich vorstellen, dass die Entscheidung über die Nachfolge von Winfried Kretschmann "auch was mit mir zu tun hat". Im August trat Özdemir mit allerlei schwäbischen Promis auf dem Stuttgarter Weindorf auf. Im Gespräch mit der VfB-Legende Hansi Müller sagte er über den potenziellen Kretschmann-Nachfolger: "Ich fände es klasse, wenn es einer wird, der den hier fest drin hat." Dabei zeigte er auf sein Hemd und deutete den roten Brustring an, den der VfB Stuttgart auf dem Trikot trägt. Im September spielte der VfB gegen Borussia Dortmund, Özdemir saß auf der Tribüne. Über der Jeans trug er ein Retro-Trikot der Schwaben aus ihrer ersten Bundesligasaison, natürlich mit dem roten Brustring.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Cem Özdemir ist ein Meister der subtilen Inszenierung. Er weiß, was die Medien brauchen: Bilder, Emotionen, Überraschung. Gerade hat er in der "Frankfurter Allgemeinen" einen Gastbeitrag veröffentlicht. Gastbeiträge von Politikern in Zeitungen sind fast immer spröde, oft elend langweilig. Dieser nicht. Özdemir setzt sich mit der grünen Migrationspolitik auseinander, er fordert eine klare Trennung von Asyl und Fachkräfte-Einwanderung. Das ist nicht das Besondere, Habeck und Baerbock reden inzwischen ganz ähnlich.

Zumutungen, unter denen seine Tochter leidet

Aber Özdemir schreibt nicht nur politisch, sondern auch privat, als Vater. Der 58-Jährige berichtet von Zumutungen, denen seine Tochter in Berlin ausgesetzt sei. "Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden." Er spüre, wie sie das umtreibt, schreibt er. "Und wie enttäuscht sie ist, dass nicht offensiver thematisiert wird, was dahintersteckt: die patriarchalen Strukturen und die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern."

Diese Beobachtung aus dem Alltag gilt in grünen Kreisen als "rechtes Narrativ", das man bekämpft oder beschweigt, jedenfalls nicht teilt. Özdemir mutet seiner Partei die Konfrontation mit der Wirklichkeit zu. Und er weist ganz lapidar darauf hin, dass die junge Generation der migrantischen Familien die Begeisterung für jegliche Form der Einwanderung, wie sie auf grünen Parteitagen gelebt wird, nicht unbedingt gutheißt. Aus dem linken Lager ging prompt ein veritabler Shitstorm über Özdemir nieder: sexistisch, rassistisch, islamophob. Den hatte er wohl einkalkuliert. Seine Botschaft richtete sich an die Mitte der Gesellschaft: Ja, auch ein Grüner kann wissen, welche Probleme die Menschen beschäftigen.

Ein anderer Grüner aus Baden-Württemberg, der ehemalige Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon, hat ernste Zweifel daran geäußert, dass Özdemir die Landtagswahl im Frühjahr 2026 gewinnen könnte. Nicht, weil Baden-Württemberg eigentlich ein traditionelles CDU-Land ist. Nicht, weil die Christdemokraten aktuell die Meinungsumfragen ganz klar anführen. Nicht, weil sich die Grünen in der Ampelkoalition unmöglich gemacht haben. Sondern: Salomon stellt infrage, ob die Menschen in Baden-Württemberg einen Politiker mit türkischen Wurzeln als Regierungschef akzeptieren würden. Wenn man Cem Özdemir heiße, sei das in Stuttgart und Freiburg kein Problem, meint er. Aber Baden-Württemberg sei ein konservatives Land, und er wisse nicht, wie die Leute so ticken.

Was für ein Freundschaftsdienst des Dieter Salomon

Als ich das las, stellte ich mir spontan die Frage, wie dieser Salomon eigentlich so tickt. Wer solche Freunde bei den Grünen hat, braucht wirklich keine Feinde bei der AfD mehr. Gehen Sie bitte mit mir auf eine ganz kurze Reise durch die Biografie des Schwaben Cem Özdemir, der von sich selbst sagt: "Ich bin zwar gut zu Fuß, aber ich bin nie eingewandert, sondern hier geboren."

Der Vater kam 1963, also vor mehr als 60(!) Jahren, als Gastarbeiter nach Deutschland, er arbeitete in einer Textilfabrik im Schwarzwald, später bei einem Hersteller von Feuerlöschern. Die Mutter betrieb eine Änderungsschneiderei. Cem, der Sohn, besuchte die Realschule in Bad Urach, machte eine Ausbildung zum Erzieher, ging auf die Fachoberschule, studierte Sozialpädagogik, schloss sein Studium erfolgreich ab, arbeitete als Sozialpädagoge, schrieb als freier Journalist für den Reutlinger Generalanzeiger.

Ein Mann mit Erfahrung

Vor 30 Jahren zog Özdemir zum ersten Mal in den Bundestag ein. Er war Abgeordneter im Europäischen Parlament, ging zwischenzeitlich nach Amerika, wurde Parteivorsitzender und später Bundesminister. Und ein Mann mit dieser Geschichte soll für das Amt des Ministerpräsidenten nicht infrage kommen, weil er Cem heißt, nicht Christian?

Wer sich kritisch mit Özdemirs Politik auseinandersetzen will: bitte. Vor allem aus dem eigenen, dem grünen Lager wird ihm vorgehalten, er handele in der Agrarpolitik nicht konsequent genug. Als die Bauern mit ihren Traktoren Anfang des Jahres in Berlin und Brüssel den Aufstand probten, setzte sich der Minister dafür ein, ihre Subventionen zu erhalten, Umweltauflagen auf dem Acker und im Stall abzuschwächen. Egal, ob es um die Tierwohlabgabe geht, um eine EU-Entwaldungsverordnung, um den Artenschutz – Özdemir sucht den Kompromiss mit den Bauern, nicht die Konfrontation. Die Bauern lieben den Grünen trotzdem nicht. Aber er wird respektiert. Das kann nicht jeder Minister in der Ampelkoalition von sich behaupten.

Kürzlich sprach Özdemir über schreckliche Vorkommnisse: die Afrikanische Schweinepest, die sich in Hessen und Rheinland-Pfalz breitmacht. Die Blauzungenkrankheit, die in allen Bundesländern vorkommt. Die Vogelgrippe und das West-Nil-Virus, das gibt es alles in Deutschland. Bei anderer Gelegenheit rechtfertigte er eine Reform des Bundeswaldgesetzes; die Anbieter von Wander-Apps sollen bestimmte Routen löschen, zum Schutz des Waldes. Zugegeben, ich habe keine Ahnung vom West-Nil-Virus. Und ich schlage mich auch nicht mithilfe digitaler Wanderführer wie Komoot oder Bergfex querfeldein durch die Büsche. Aber was Özdemir zu solch unterschiedlichen Themen sagt, klingt für mich meistens logisch und nachvollziehbar. Auch das kann ich von den meisten anderen Ministern der Regierung Scholz nicht behaupten.

Ein Mann mit Kompass

Fachkenntnis im Detail, ein Kompass für die großen politischen Fragen und ein Gespür für die Befindlichkeiten der Menschen – dieser Dreiklang hat Winfried Kretschmann 2011 in Baden-Württemberg, einem christdemokratischen Stammland, an die Macht gebracht. Zweimal ist er bereits wiedergewählt worden. Nach wie vor ist er der einzige grüne Ministerpräsident der Republik. Dass er das Amt demnächst an einen anderen Grünen übergeben könnte, ist eigentlich sehr unwahrscheinlich, erst recht angesichts der politischen Stimmung im Land.

Aber wenn, dann braucht er einen Nachfolgekandidaten, der für die bürgerliche Mehrheit wählbar ist, nicht nur für die grüne Nische. In der Terminologie seiner Partei: keinen Realo, sondern einen Realissimo. Einen Mann, der den Daimler versteht und die Leute, die dort arbeiten, den Bosch, die große Industrie und den global agierenden Mittelstand. Einen, der mit den Schwaben klarkommt, aber auch mit den Badenern, mit den Einheimischen und den „Reigschmeckten", wie die Migranten aus dem Norden Deutschlands oder dem Osten der Türkei hier genannt werden. Es gibt nicht viele Politiker, die diese Anforderungen erfüllen. Aber Cem Özdemir passt.

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Es sind ganz sicher nicht nur ein paar verirrte Grüne, die sich fragen, ob ein Özdemir als Regent hoch über Stuttgart, in der noblen Villa Reitzenstein, vorstellbar ist. Völkische Rechte wollen das sowieso nicht. Und national gesinnte Türken haben auch ihre Meinung dazu. Mit dem Heimatland seiner Eltern verbindet Cem Özdemir nämlich eine komplizierte Beziehung. Er setzt sich für die freie Presse in der Türkei ein, für die Rechte der alevitischen Minderheit. Dem Sultan Erdogan trat er einmal mit einem Zitat des Schwaben Friedrich Schiller entgegen: "Geben Sie Gedankenfreiheit!"

In der Tageszeitung "Hürriyet" war über ihn zu lesen: "Özdemir ist nur noch dem Namen nach einer von uns." Das stimmt. Der Mann will ja auch nicht Ministerpräsident von Anatolien werden. Sondern von Baden-Württemberg.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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