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SPD-Absturz: Wie die Partei ihre Wähler verliert


SPD im freien Fall
War das schon das Ende?

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

Aktualisiert am 03.09.2024Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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SPD-Chef Klingbeil vor seinem Vorbild im Willy-Brandt-Haus: Gerät die neue Ostpolitik ins Wanken?Vergrößern des Bildes
Glorreiche Vergangenheit trifft auf traurige Gegenwart: SPD-Chef Lars Klingbeil in der SPD-Zentrale vor der Willy-Brandt-Statue. (Quelle: Florian Gaertner/getty-images-bilder)

Der Terror von Solingen, Migration, der Krieg in der Ukraine, die Ampel, die Ampel, die Ampel – Gründe für den Absturz der SPD gibt es genug. Aber die Entfremdung zwischen der Partei und ihren Wählern hat viel tiefere Wurzeln.

Die SPD war einmal eine stolze und erfolgreiche Partei. Es gibt noch lebende Zeitzeugen, die darüber berichten können. Ich gehöre dazu. Darf ich Sie kurz entführen in eine großartige Ära der deutschen Sozialdemokratie, bevor wir dann wieder auf dem Boden der tristen Tatsachen landen?

Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, man nannte es damals, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, die Herzkammer der SPD. Meine Heimatstadt Bochum war sozialdemokratisches Kernland, die absolute Mehrheit galt hier als Pflicht. Die SPD war nicht nur eine Partei, sondern auch eine soziale Bewegung, ein Netzwerk, das den Alltag überspannte. Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen, Vereinskameraden: eigentlich alles Sozialdemokraten, egal ob mit oder ohne Parteibuch. Die SPD gehörte zum Leben, wie die Telefonzelle um die Ecke und der Opel Kadett vor der Tür.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Diese sozialdemokratische Ära begann im Jahr 1966, als ein SPD-Mann namens Heinz Kühn Ministerpräsident wurde. Sie dauerte vier Jahrzehnte, es war eine Ära des Fortschritts und des sozialen Aufstiegs.

Ein Beispiel: In meiner Jugend war der Zugang zu den Hochschulen sehr ungleich verteilt. Kinder aus gut situierten Häusern gingen selbstverständlich aufs Gymnasium, viele studierten später. Die Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie konnten sich das für ihren Nachwuchs nicht leisten. "Arbeiterkinder an die Uni", lautete eine eingängige SPD-Parole. Es blieb nicht bei einer Parole. In Bochum wurde die Ruhr-Universität gebaut, die Schulabgänger aus Essen, Gelsenkirchen und Herne konnten hier studieren, aber noch zu Hause wohnen, das schonte das Familienbudget. Und bundesweit wurde das BAföG eingeführt, unter dem SPD-Kanzler Willy Brandt. Das war das Aufstiegsversprechen dieser Jahre: Unseren Kindern soll es besser gehen als uns.

Schulpolitik komplett gescheitert

Heute ist der Zugang zu Bildung und Ausbildung wieder ungleich verteilt. Gut situierte Eltern schicken ihren Nachwuchs auf ausgesuchte Gymnasien oder Privatschulen, wo der Anteil der Schüler ohne ausreichende Deutschkenntnisse gering ist. Die Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration lernen in überforderten Gesamtschulen. Kennen Sie ein Versprechen der Sozialdemokratie für diese Generation? Und ein Programm dazu? Die letzte SPD-Ministerpräsidentin in NRW hieß Hannelore Kraft. Die Schulpolitik ihrer rot-grünen Koalition darf man als komplett gescheitert betrachten. Warum sollten etwa junge Deutsche mit türkischen Wurzeln SPD wählen?

Auch der "blaue Himmel über der Ruhr" war ein Versprechen der SPD, zu einer Zeit, als der Begriff Umweltschutz noch gar nicht gebräuchlich war. Wer im Schatten einer Kokerei lebte, für den war das die Ankündigung eines neuen Lebens. Die Menschen empfanden diesen neuartigen Umweltschutz als Fortschritt. Ist das heute beim Klimaschutz auch so?

Keine andere Industrieregion hat sich so gewandelt wie das Ruhrgebiet – unter sozialdemokratischer Regie. Der Bergbau wurde abgewickelt, unter großen Schmerzen, auch unter lautem Protest, aber letztlich verständigten sich Politik, Unternehmen und Gewerkschaften auf einen langfristigen Zeitplan und auf soziale Lösungen für die Kumpels. Der Plan hatte Bestand, 2018 war Schicht im Schacht, in Bottrop machte Prosper-Haniel dicht, das letzte Bergwerk des Ruhrgebiets. Vergleichen Sie diesen tiefgreifenden Umbau der Wirtschaft einmal mit dem Hin und Her der rot-grün-gelben Energiewende, bei der kein roter Faden erkennbar ist und jede Jahreszahl wieder infrage gestellt wird, kaum dass sie vereinbart wurde.

Hartgesottene Gewerkschafter, feinsinnige Professoren

Ja, die Gesellschaft hat sich verändert, das Parteiensystem wurde durcheinander gewirbelt, zulasten der SPD. Erst machten die Grünen ihr Konkurrenz, dann der abtrünnige Oskar Lafontaine mit der Linkspartei. Jetzt Sahra Wagenknecht. Aber das allein erklärt nicht den Absturz in Thüringen auf 6 Prozent, in Sachsen auf 7 Prozent. Nicht einmal die denkbar schlechte Performance unserer "Übergangsregierung" kann diesen Untergang der Sozialdemokratie erklären.

Die SPD war einmal eine Partei der Arbeiter und der Angestellten. Willy Brandt zog in den Siebzigern auch die Intellektuellen magisch an, hartgesottene Gewerkschafter trafen im Ortsverein auf feinsinnige Professoren. Nach und nach haben die Akademiker das Kommando übernommen, die SPD ist heute eine Partei des öffentlichen Dienstes. Sigmar Gabriel, der letzte SPD-Vorsitzende von politischem Gewicht, warnt seine Partei seit Jahren davor, sich vorwiegend an den Interessen von Minderheiten zu orientieren: Schwule, Queere, Flüchtlinge ... Die Summe der Minderheiten, so Gabriel, werde keine Mehrheit ergeben. Und dann dieses vernichtende Urteil: "Die Arbeiterpartei Deutschlands ist derzeit die AfD." In Sachsen und Thüringen ist die AfD nicht nur Arbeiterpartei, sondern auch Volkspartei.

Das Debakel Bürgergeld

Wie sehr die SPD die Mehrheit der ganz konventionell lebenden, liebenden und arbeitenden Menschen aus den Augen verloren hat, zeigt exemplarisch das Debakel, das sie mit dem Bürgergeld erlebt. Die Spitzen der Partei und die Funktionärsbasis hatten den Beifall des Publikums erwartet: Endlich räumten sie doch auf mit Schröders Agenda 2010 und mit dem verhassten Hartz IV, endlich erfüllten sie die Bedürfnisse der Bedürftigen, schafften die schikanösen Sanktionen ab, nur weil jemand ein paar Mal den Termin beim Jobcenter verpasste. Sie hatten die Alleinerziehende im Blick, die keinen Kitaplatz findet; sie kannten den Dachdecker, dessen Kreuz nicht mehr mitmacht; den "Aufstocker", dessen Mindestlohn nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt der Familie zu finanzieren.

Sie kannten niemanden, der das Bürgergeld eigentlich ganz kommod findet. Weil man davon schon leben kann. Weil es sich eigentlich nicht lohnt, arbeiten zu gehen, vor allem wenn man zum Mindestlohn Pakete ausfährt oder Regale auffüllt. Und weil der eine oder andere kleine Job sich nebenbei auftut, das Amt muss ja nicht alles wissen. Im Ruhrgebiet, wo die Sozialdemokraten einst zu Hause waren, kennt aber jeder einen, der das System ausnutzt. Diejenigen, die morgens um sechs aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, sind ziemlich sauer. Auf Nachbarn, die Bürgergeld beziehen, obwohl sie arbeiten könnten. Und auf die SPD.

Von der Aufstiegspartei zur Versorgerpartei

Die Partei bemisst den Erfolg ihrer Sozialpolitik heute in jenen Milliardensummen, die der Staat fürs Soziale ausgibt: fast 50 Milliarden Euro Bürgergeld, dazu Wohngeld, Arbeitslosengeld II, Beihilfe zum Lebensunterhalt und vieles mehr. Im quälenden Streit um den Haushalt 2025 hat der Kanzler ein einziges Mal ein Machtwort gesprochen: keine Kürzungen von Sozialleistungen! 37 Prozent des Bundeshaushalts erklärte Olaf Scholz damit pauschal zum Tabu. Die SPD ist von der Aufstiegspartei zur Versorgungspartei geworden.

Im Überschwang seines 26-Prozent-Wahlsiegs läutete Olaf Scholz 2021 ein neues sozialdemokratisches Jahrzehnt ein. Drei Jahre später lautet die Frage, was am Ende dieses Jahrzehnts von der SPD noch übrig sein wird. In Frankreich regierte die Parti Socialiste zu Zeiten von François Mitterrand mit absoluter Mehrheit, heute ist sie noch eine Splitterpartei. In den Niederlanden ist die Partei der Arbeit dem Rechtspopulisten Geert Wilders zum Opfer gefallen. Die Pasok in Griechenland, die Sozialisten in Italien – einst stolze Parteien der Sozialistischen Internationalen, allesamt gescheitert. Folgt die SPD ihnen in die Bedeutungslosigkeit?

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Kennt noch jemand Heinz Kühn?

Ich habe eingangs den ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn erwähnt, der die sozialdemokratische Ära an Rhein und Ruhr begründete. Wahrscheinlich kennen ihn nur noch die wenigsten von Ihnen. Seine Nachfolger sind bekannter: Johannes Rau, Wolfgang Clement, Peer Steinbrück, wie Kühn prägende Figuren der deutschen Politik und der Sozialdemokratie. Wissen Sie, wer heute die SPD in NRW führt? Offen gestanden, ich war mir auch nicht sicher und habe erst mal gegoogelt: Sarah Philipp und Achim Post. In der Bundespolitik spielt die Doppelspitze aus dem Westen keinerlei Rolle. Ein Unding.

Apropos Bundespolitik. Willy Brandt war der erste sozialdemokratische Kanzler, ihm folgte Helmut Schmidt, später Gerhard Schröder. Jeder von ihnen hat auf seine Art Zeitgeschichte geschrieben. Olaf Scholz schreibt die Geschichte der gescheiterten Ampelkoalition. Saskia Esken ist jetzt Vorsitzende der SPD, neben Lars Klingbeil. Wofür steht Saskia Esken? Für das Mittelmaß einer Funktionärspartei, die viel Tradition hat, aber wenig Zukunft.

Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘, mit uns zieht die neue Zeit ... Die alten Lieder klingen noch auf den Parteitagen der SPD. Aber die Versprechen von Solidarität und Moderne klingen hohl. Die SPD hat erst ihren politischen Kompass verloren, dann ihre Basis. Auch ihren Machtinstinkt? Ich befürchte: ja. Jedenfalls dann, wenn sie demnächst noch einmal mit Olaf Scholz in den Wahlkampf zieht.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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