Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Viel Lärm um wenig? Gendern: die rotgrüne Version deutscher Leitkultur
Liebe Leser:innen, liebe Leser*innen, liebe LeserInnen, Vorsicht, das ist alles jetzt verboten. Also das Gendern. Jedenfalls in Bayern. Ein Grund zur Aufregung! Aber worüber? Über die Bayern? Oder übers Gendern?
Zum 1. April hat Markus "der Starke" Söder mit dem ganzen Schmarrn aus Sternchen, Doppelpunkten, Unterstrichen und Binnen-I Schluss gemacht. Und wenn Sie jetzt fragen, was ich davon halte, sage ich Ihnen meine Meinung, dazu hat t-online mir diese Kolumne ja anvertraut. Also: Ich find’s gut, das Verbot. Die Zeichen stören beim Lesen, und beim Schreiben muss man sie auf der Tastatur erstmal suchen.
Dabei könnten wir es für heute belassen, alles Wichtige ist gesagt. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick ist es nicht so einfach, wie immer. Egal, ob Sie das Gendern verbieten oder Cannabis erlauben, hinterher wird’s kompliziert. Wie misst man genau die Abstände zur nächsten Schule? Wer zählt die Pflanzen auf dem Balkon? Und wenn nun ein Regierungsrat in der Münchner Staatskanzlei die Beteiligung der Bürger*innen an der politischen Entscheidungsfindung vorschlägt? Oder wenn die Sachbearbeiterin im Landratsamt Altötting versehentlich die Söder:in für den uneinholbaren Vorsprung Bayerns auf allen Feldern der Politik verantwortlich macht? Wer kontrolliert das dann? Welche disziplinarischen Konsequenzen sind vorgesehen? Macht es einen Unterschied, ob das Vergehen im behördeninternen Schriftverkehr begangen wird oder gegenüber dem Bürger? Und wo bleibt die Bürgerin?
Zur Person
Uwe Vorkötter Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die Stuttgarter Zeitung, die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online schreibt er jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Eine Sprecherin des bayerischen Innenministeriums hat auf diese Fragen eine Antwort gegeben, die ich gleich zitiere. Aber Vorsicht, aus journalistischer Sicht ist diese Antwort eine blanke Katastrophe, ein Rausschmeißer-Satz, die meisten von Ihnen dürften sich gleich einer anderen Beschäftigung zuwenden. Deshalb meine Empfehlung: Springen Sie direkt zum nächsten Absatz, ich erkläre das dann. Jetzt aber der Satz: "Ob überhaupt beziehungsweise wann die Schwelle eines disziplinarrechtlich relevanten Fehlverhaltens im Sinne einer Dienstpflichtverletzung im konkreten Einzelfall überschritten wird, wird insbesondere mit Blick auf die Häufigkeit, das Ausmaß und den jeweiligen Kontext zu beurteilen sein."
Der bayerische Weg – einer fürs ganze Land?
Schön, dass Sie noch da sind. Die Sprecherin hat sinngemäß gesagt, sie habe überhaupt keine Ahnung. Dies aber in einer ganz schrecklich gedrechselten Bürokratensprache. Ich fürchte, die bayerische Staatsregierung hat in ihrer Kommunikation mit dem Volk noch ganz andere Probleme als ein paar Gendersternchen. Aber das ist heute nicht unser Thema.
Unser Thema: Sollte man das Gendern verbieten, auch außerhalb Bayerns? Ja. Nein. Die Gesellschaft ist gespalten. Alte Männer, Söder, Aiwanger, die AfD, die ganze rechte Blase auf der einen Seite. Junge Frauen, Grüne und SPD, die akademische Welt an den Universitäten, die ganze woke Blase auf der anderen Seite. Es tobt der Kulturkampf um das generische Maskulinum: Sind Frauen einfach mitgemeint? Oder verdienen sie eine eigene Erwähnung? Simple Sätze werfen schwierige Fragen auf. Zum Beispiel dieser: "Die Journalisten schreiben viel Unsinn." Da könnten sich meine Kolleginnen ausgeschlossen fühlen.
Wer gendert, bekommt es in Social Media mit einer aufgebrachten Meute zu tun. Wer nicht gendert, auch. Was tun?
Ohne geht es an vielen Orten sehr gut
Ach, so kompliziert ist das eigentlich gar nicht. Wenn Sie regelmäßig die Qualitätsmedien unseres Landes konsumieren, egal ob FAZ, Spiegel, Süddeutsche, t-online, dann können Sie eine überraschende Entdeckung machen: Sternchen und Doppelpunkte finden Sie nur ganz ausnahmsweise, zum Beispiel in dieser Kolumne. Nicht mal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wo angeblich das Epizentrum des Genderwahns zu suchen ist. Da müssen Sie schon das Kulturprogramm im Deutschlandfunk hören oder ganz tief ins jugendliche Online-Portal "Funk" einsteigen – aber wer tut das schon?
Andererseits: Die penetrant männliche Form, in der Lehrer, Ärzte und Politiker auch die jeweiligen weiblichen Exemplare einschließen, hat sich auch überlebt. Stattdessen finden in den Medien oft beide Geschlechter Erwähnung: Journalistinnen und Journalisten schreiben viel Unsinn. Das ist etwas länger, aber im Internet ist ja Platz genug. Es gibt auch neutrale Formulierungen, mit denen ich, zugegeben, wenig anfangen kann. Die Studenten (und die Studentinnen) haben wir zu Studierenden gemacht, Unternehmen haben jetzt Mitarbeitende. Klingt nicht toll, aber wenn es dem demokratischen Konsens dient, dann ist es auch okay. Ich muss Sie, liebe Leserinnen und Leser, deswegen ja nicht zu Lesenden machen. Bitte machen Sie mich auch nicht zum Schreibenden. Danke.
Es geht um Macht. Und um Deutungshoheit
Wenn es also um die Sprache ginge, könnten wir uns einigen: Man kann ohne Sonderzeichen und trotzdem geschlechtersensibel schreiben. Aber im Kulturkampf geht es nicht um die Sprache. Sondern um Macht, um Deutungshoheit, um die Abschaffung des Alten, die Verhinderung des Neuen, um die Zahl der Follower auf Instagram und TikTok. Welche Seite ist noch bornierter als die andere?
Eine einfache Frage entlarvt diesen absurden Wettbewerb: Gibt es keine wichtigeren Themen? Doch, die gibt es, immer. Auch hier wieder, ab nächste Woche.
Aber entscheiden muss die Politik trotzdem. Nicht darüber, wie Sie und ich schreiben – da hat uns der Söder nichts zu sagen, ebenso wenig wie die Roten und die Grünen, die ihren Untertanen (gibt es eigentlich auch Untertaninnen?) das Gendern gern vorschreiben würden. Die Politik hat nur über zwei Fragen zu entscheiden: Wie schreibt und redet die Bürokratie? Und, tatsächlich wichtiger: Was lernen unsere Kinder in der Schule?
Auf diese Fragen gibt Markus Söder, ganz ernsthaft, die richtige Antwort. Die Bürokratie sollte der Bürgerin und dem Bürger nicht in einer Sprache begegnen, die vorwiegend an Universitäten und in der Dienststelle der Gleichstellungsbeauftragten gesprochen wird. Und was die Schulen angeht: Wir reden so viel von Inklusion und beklagen, dass das Elternhaus viel zu viel Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder hat. Aber die Enkel der Türk:innen und die Kinder der Syrer*innen sollen erst einmal das korrekte Gendern lernen? Das ist die rot-grüne Version der deutschen Leitkultur.
"Die Regeln schienen mir lächerlich"
War’s das für heute? Nein, eine Kolumne über die Sprache kann nicht ohne Goethe enden. Würde unser Dichterfürst den Faust heute gendern? Ich weiß es natürlich nicht. Damals ging es um andere Fragen. Zum Beispiel darum, ob man (neuerdings) deutsch statt teutsch schreiben sollte, ob guter Rat noch theuer oder jetzt einfach teuer war. Goethe war das ziemlich egal. In "Dichtung und Wahrheit" bekannte er zudem: "Die Grammatik mißfiel mir, weil ich sie nur als ein willkürliches Gesetz ansah; die Regeln schienen mir lächerlich, weil sie durch so viele Ausnahmen aufgehoben wurden, die ich alle wieder besonders lernen sollte." Also schrieb er, wie es ihm gefiel. Es wurde genial. So können Sie das auch machen.
- Eigene Überlegungen