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Das trifft Putin hart – Kreml droht mit "gravierenden Konsequenzen"


Meinung
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Tagesanbruch
Das trifft Putin hart

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.06.2022Lesedauer: 6 Min.
Güterwagen aus Kaliningrad auf dem Weg durch Litauen (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Güterwagen aus Kaliningrad auf dem Weg durch Litauen (Archivbild). (Quelle: Ints Kalnins/reuters)

Sehr geehrte Kundin, sehr geehrter Kunde,

wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ein Teil Ihrer Lieferungen nicht mehr wie geplant zugestellt werden kann. Wir setzen dabei lediglich die rechtlichen Rahmenbedingungen um und verweisen auf die zugrunde liegende Neuregelung im Rahmen der Beschlüsse der Europäischen Union. Sendungen, die von den veränderten Bestimmungen nicht betroffen sind, stellen wir als Ihr Logistikpartner wie gewohnt zuverlässig zu.

Mit besten Grüßen,
Florian Harmlos
Abteilung für bürokratische Beschwichtigung
Hahnzudreh & Retourkutsch GmbH

Ja, liebe Leserin und lieber Leser, wenn einem so ein Schreiben auf den Tisch flattert, dann weiß man zweierlei. Erstens: Es gibt ein Problem, das einen noch mächtig ärgern wird. Zweitens: Der Absender wäre nur ungern selbst verantwortlich dafür. "Wir setzen nur um, wir führen nur aus", ist die bürokratische Botschaft, die zurzeit aus dem kleinen Litauen im Baltikum zu hören ist. Was die EU beschlossen habe, trete nun planmäßig in Kraft: Sanktionen, mit denen Russlands isolierter Außenposten Kaliningrad boykottiert wird. Moskau hat die Stadt an der Ostsee zu einem bedeutenden Militärstützpunkt ausgebaut. Dort werden sogar Mittelstreckenraketen und Nuklearwaffen vermutet, die europäische Hauptstädte wie Berlin in wenigen Minuten erreichen könnten. Auch wichtige Teile der Luftwaffe und die Ostseeflotte sind dort stationiert. Nun allerdings kam dieser blöde Brief vom Logistikdienstleister.

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Der Reihe nach. Zu sowjetischen Zeiten musste der Kreml sich keine Gedanken über die Versorgung der Festungsstadt machen. Die Wege dorthin führten durch das polnische Bruderland und durch die litauische Sowjetrepublik. Doch aus den gefügigen Satellitenstaaten sind mittlerweile Mitglieder der EU und der Nato geworden, sodass die wichtigste Versorgungsader – die Bahnlinie durch Litauen – aus Sicht der russischen Planer jetzt in Feindesland liegt. Das Verhältnis Russlands zu Polen und den baltischen Staaten war schon vor dem Krieg in der Ukraine denkbar schlecht.

Jetzt ist es katastrophal. In den Propaganda-Talkshows des russischen Fernsehens kann man sich täglich von den Gewaltfantasien der Kommentatoren berieseln lassen, die von Invasion, Militärschlägen, detonierenden Atombomben faseln und mit besonderem Enthusiasmus über die baltischen und polnischen Nachbarn herziehen. Ein Abgeordneter aus Putins Partei brachte im Parlament einen Gesetzentwurf ein, der Litauen die Unabhängigkeit aberkennen will. Wenig überraschend also, dass die Balten und Polen sich vom Moskauer Regime massiv bedroht fühlen, die Ukraine im Abwehrkampf rückhaltlos unterstützen und einen harten Kurs gegenüber Russland verlangen. Oder eben gleich Nägel mit Köpfen machen.

Denn Litauen hat nun den Hammer niedersausen lassen und die Versorgungsader nach Kaliningrad demoliert. Das Sanktionspaket der EU, das den Export zahlreicher Güter nach Russland verbietet, lässt sich nicht nur auf Lieferungen aus der Gemeinschaft, sondern auch auf Transporte durch sie hindurch anwenden – also auf den Eisenbahn-Transitverkehr, der aus Russland durch Litauen ins ebenfalls russische Kaliningrad rollt. Die Hälfte aller Lieferungen sei betroffen, jammert der dortige Gouverneur, ersatzweise sei nur noch die Versorgung über den Seeweg möglich. Kremltrompeter Dmitri Peskov schäumt vor Wut und droht mit "gravierenden Konsequenzen". Putins Einflüsterer Nikolai Patruschew ist postwendend in die kriselnde Exklave gereist, um von düsteren Folgen zu orakeln, die der litauischen Bevölkerung ins Haus stünden.

Nicht zum ersten Mal seit dem russischen Überfall auf die Ukraine kehrt nun die Angst vor einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato zurück. Begründet ist sie diesmal zum Glück nicht. Man darf zwar sicher sein, dass Putin sich eine Retourkutsche einfallen lassen wird – derzeit bittet man allerdings noch um ein wenig Bedenkzeit. Denn militärische Optionen jenseits der Drohgebärden sind für Moskau nicht drin, wie mein Kollege Patrick Diekmann analysiert. Russische Soldaten aus der Region sind nach Süden in die Ukraine verlegt worden, wo sie angesichts hoher Verluste dringend gebraucht werden. Die Zeichen deuten darauf hin, dass Putins Generäle mittlerweile wieder mit einem Erfolg in der Ukraine rechnen – aber nur unter größten Anstrengungen.

Eine Auseinandersetzung mit der Nato allerdings fände in einer anderen Liga statt. Entsprechend hat der Kreml peinlich darauf geachtet, ein direktes Einschreiten der Nato zu vermeiden: Keine Rakete und kein Sabotage-Team haben sich bisher in Richtung der polnischen Logistikzentren verirrt, wo die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine umgeschlagen werden. Putins atomares Geraune soll die Angst schüren, damit die Nato sich raushält. Er hat ruchlos taktiert und Fehler gemacht, aber ein Dummkopf ist er nicht.

In Litauen könnte man daher beruhigt sein, verschanzt sich aber vorsichtshalber trotzdem hinter den bürokratischen Vorgaben der EU. Eigentlich geht die Regierung in Vilnius zwar keinem Konflikt aus dem Weg; kürzlich hat sie sich sogar mit China angelegt. Russland allerdings ist ein bisschen zu nah vor der Tür, sodass sie sich lieber rückversichert. Wie genau die Nato-Alliierten vorab von der Bahnblockade informiert gewesen sind, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, doch die Äußerungen des litauischen EU-Botschafters legen den Verdacht nahe, dass eine ordentliche Portion baltischer Eigeninitiative im Spiel gewesen ist. Die EU hat sich prompt hinter ihr kleines Mitglied gestellt, und das ist gut so. Denn das ist die Sprache, die Putin versteht: Wer stark ist, nutzt es aus. Der eine dreht am Gashahn. Die anderen spielen dann eben mal mit der Eisenbahn.


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Aufgedeckt

Abchasien am Ostrand des Schwarzen Meers galt zu Sowjetzeiten als "rote Riviera": So schön sind seine Strände, so mild sein Klima. Leider hat der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nicht dazu geführt, dass Abchasien seine touristischen Reize für eine gedeihliche Entwicklung nutzen konnte. Die dortigen Separatisten haben sich von Georgien losgesagt und mit Hilfe des Kremls einen eigenen Pseudostaat errichtet. Anerkannt wird er nur von Russland, Nicaragua, Venezuela, Nauru und Syrien, ansonsten ist er international isoliert. Um das zu ändern, haben die Separatisten eine verdeckte Aktion gestartet: Recherchen meiner Kollegen Jonas Mueller-Töwe, Annika Leister und Lars Wienand in Zusammenarbeit mit dem Magazin "Vice" decken ein dubioses Lobbynetzwerk in Berlin auf. Außerdem zeigen meine Kollegen, wie voreingenommene Wahlbeobachter zum ersten Mal in der EU-Geschichte einen fehlerhaften demokratischen Prozess reinzuwaschen versuchen. Der Profiteur ist ausgerechnet Ungarns Autokrat Viktor Orbán.

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Der Kanzler gibt den Kurs vor

Gleich drei wichtige Gipfel bestimmen die kommenden Tage: Ab morgen treffen sich die EU-Regierungschefs in Brüssel, ab Sonntag tagen die G7-Granden in Elmau in den bayerischen Alpen, im Anschluss folgt der Nato-Gipfel in Madrid. Natürlich stehen alle Treffen unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Wie Deutschland sich dabei jeweils positioniert, erläutert Olaf Scholz heute Nachmittag in einer Regierungserklärung.

Gerade für das EU-Treffen zeichnen sich Probleme ab: Der Kanzler unterstützt sowohl den Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldawien als auch den baldigen Beitritt von Nordmazedonien und Albanien. Gleichzeitig mahnt er aber eine "Modernisierung der Strukturen und Entscheidungsprozesse" in der Union an, sprich: Das Einstimmigkeitsprinzip bei Abstimmungen soll endlich weichen. Nicht nur die EU-Mitglieder in spe haben also noch erheblichen Reformbedarf in Sachen Korruptionsbekämpfung, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. Auch die EU selbst muss sich erneuern. Beides, lehrt die Erfahrung, kann Jahre dauern.


Covid kommt wieder

Seit Anfang des Monats steigen die Corona-Infektionszahlen wieder, die 7-Tage-Inzidenz liegt nun bei 458 pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: Vor einem Jahr lag sie bei 25. Besonders die neuen Virusvarianten Omikron BA.4 und BA.5 verbreiten sich rasant. Gründe genug also für Gesundheitsminister Karl Lauterbach und seine Kollegen in den Bundesländern, mal wieder zu erörtern zu versuchen, wie man das gemeinsame Vorgehen doch irgendwie irgendwann ein bisschen besser abstimmen kann. Auf der zweitägigen Konferenz in Magdeburg soll es um die Digitalisierung des Gesundheitssektors, Teststrategien und Impfzentren gehen. Da man hierzulande bereits seit zwei Jahren darüber redet, ist bestimmt bald alles in Butter.


Sauber fliegen

Fliegen ist klimaschädlich, das wissen wir alle. Kann sich das ändern? Auf der Luftfahrtmesse ILA am Berliner Flughafen BER wollen Firmen elektrische Antriebe für Kurz- und synthetische Kraftstoffe für Langstreckenflieger vorstellen. Die Branche ist optimistisch, in nicht allzu ferner Zukunft CO2-neutral zu werden, womit auch unser schlechtes Gewissen entlastet wäre. Außerdem sind auf der Flugschau die künftigen Kampfjets und Hubschrauber der Bundeswehr zu sehen.


Was lesen?

"Ich würde ja gerne auf Granit beißen. Aber es ist ja mehr Watte, in die man beißt": Wer sagte das über den Kanzler, weil der bei Waffenlieferungen zögerte? War es a) Friedrich Merz von der CDU, b) Bodo Ramelow von der Linken oder c) Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der Regierungspartei FDP? Sie ahnen es, c) ist richtig, die resolute Liberale fordert seit Monaten mehr Waffen für die Ukraine. Seit Kurzem kommen die auch, gestern veröffentlichte das Kanzleramt eine genaue Liste. Mein Kollege Tim Kummert erklärt in seinem Porträt, warum Strack-Zimmermanns Taktik die deutsche Politik grundlegend verändert.


Morgen enden die Anhörungen im US-Kongress zum Sturm aufs Kapitol. Schon jetzt ist Ex-Präsident Donald Trump der Lüge überführt. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns hat die Details.


Was amüsiert mich?

Eine Hitze ist das!

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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