Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Entscheidung im Ukraine-Krieg
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wenn man Besuch von Prominenten bekommt, kann das eine ganz schön aufregende Sache sein. Man räumt gründlich auf, putzt und wienert, damit die Kameraleute im Schlepptau der Promis keine peinlichen Staubschichten ablichten. Ein bisschen nervös wartet man darauf, dass es endlich an der Tür klingelt. "Herein, herein!", ruft man, wenn es so weit ist, "Was kann ich Ihnen anbieten?" So wäre das normalerweise, aber beim Überraschungs-Promibesuch, der heute in Kiew hereinschneit, steht das normale Prozedere auf dem Kopf.
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Aufregend wird es nämlich vor allem für die Besucher sein, die Herren Scholz aus Berlin, Macron aus Paris und Draghi aus Rom, und noch mehr für deren Sicherheitsleute. Bei so hochkarätigem Besuch in einem Kriegsgebiet sollte über Tag und Stunde der Anreise strengstes Stillschweigen herrschen. Doch seit dem Wochenende pfiffen es die Spatzen von den Dächern: An diesem Donnerstag treffen sich die Regierungschefs in Kiew. Die italienische Zeitung "La Stampa" plauderte den Plan schon vor Tagen aus. "Top secret" ist jetzt gar nichts mehr, höchstens "segretissimo", was eigentlich dasselbe heißt, aber auf Italienisch gleich ein bisschen lässiger klingt. Der Plan hat sich trotzdem nicht geändert: Scholz, Macron, Draghi und der rumänische Präsident Iohannis sind in Kiew eingetroffen.
Als höflicher Gastgeber wird Präsident Selenskyj sicherlich für Kaffee und Kekse sorgen, aber etwas anbieten sollten diesmal wohl eher die Besucher. Die Ukraine hofft auf eine konkrete Beitrittsperspektive zur Europäischen Union in Form des begehrten Status als Aufnahmekandidatin. Die tatsächliche Eingliederung in die EU beschleunigt das nicht unbedingt, öffnet aber die Türen und auch die Schatullen der Union. Noch wichtiger ist dem ukrainischen Präsidenten jedoch das politische Signal: Wir sind nicht allein, lautet die Botschaft, die er seinen gebeutelten Landsleuten vermitteln könnte. Mutmachende Worte werden nämlich dringend gebraucht, tatkräftige Hilfe sogar noch dringender. Es steht nicht gut im Krieg mit Russland. Und entscheidende Weichenstellungen bahnen sich an.
Alle Augen richten sich zurzeit auf die eingeschlossenen Verteidiger von Sjewjerodonezk, deren schwierige Lage an den Kampf um Mariupol erinnert. Weitet man den Blick, dann wird klar, wie sehr die ukrainischen Truppen entlang der Front im Donbass unter Druck stehen. Zugleich kommen die russischen Angreifer nur sehr langsam und unter Aufbietung aller Kräfte voran. Ihr gefährlicher Durchbruch in der Nähe der Kleinstadt Popasna, wo die Russen eine lebenswichtige Versorgungsader der ukrainischen Einheiten fast hätten blockieren können, ist zum Stehen gekommen – eines von vielen Beispielen dafür, dass die Dinge auf Messers Schneide stehen, nur um dort auf unbestimmte Zeit zu verharren.
Ukrainische Gegenangriffe in anderen Teilen des Landes, ob im Norden oder im Süden, sind in letzter Zeit ebenfalls kaum vorangekommen. Immer wieder mal wechselt ein Landstrich die Hände, aber vor allem zeichnet die gegenwärtigen Kämpfe eines aus: Es wird – bei den Russen genauso wie bei den Ukrainern – in horrendem Ausmaß gestorben.
Hat sich der Krieg also in ein blutiges Patt verwandelt? Es sieht so aus, doch der Eindruck täuscht. Russlands Militär hat sein Arsenal an Präzisionswaffen inzwischen zu einem erheblichen Teil verpulvert, aber der Einsatz scheint sich für Putins Generäle auszuzahlen. Denn sie haben mit ihren zielgenauen Raketen und Marschflugkörpern die ukrainische Rüstungsindustrie ins Visier genommen, die vor dem Krieg auf der Rangliste der weltweit größten Waffenexporteure immerhin Platz 12 belegte und als technologisch kompetent gilt. Das Ergebnis der Attacken ist an der Front überall zu spüren: Den ukrainischen Panzern und Artilleriegeschützen, mehrheitlich aus sowjetischer Bauart, geht die passende Munition aus. Aus den eigenen Fabriken kommt augenscheinlich kaum noch etwas nach, und auch die sowjetischen Restbestände im Westen gehen zur Neige.
Auf die ukrainische Armee kommt deshalb mitten im Krieg eine gewaltige Aufgabe zu: die Umstellung auf West-Waffen, von dringend benötigten Hi-Tech-Raketenwerfern und anderer Artillerie bis hin zu Panzern. Der Prozess kann sich bei jedem dieser Waffensysteme durch Training, Ersatzteillogistik und Anlegen von Munitionsvorräten monatelang hinziehen. Wenn der Umbau der Streitkräfte zu spät in Gang kommt, wird die entstehende Lücke in der Verteidigungsfähigkeit den Russen den entscheidenden Vorteil verschaffen. Über Erfolg oder Scheitern entscheidet das Timing.
Vermutlich deshalb lässt die ukrainische Führung immer wieder durchblicken, welche katastrophalen Verluste sie gerade erleidet. In der Vergangenheit gaben sich Präsident Selenskyj und sein Stab an diesem Punkt schmallippig – jetzt aber soll die neue Offenheit der westlichen Allianz beim Liefern Beine machen. Die Hiobsbotschaften sind mit Forderungen garniert, an deren Seriosität man allerdings Zweifel anmelden muss. Selenskyjs Berater Mychailo Podolyak legte eine Wunschliste auf den Tisch, der zufolge er mehr Panzer haben möchte als Deutschland und Großbritannien zusammen besitzen, und doppelt so viel Artillerie wie in sämtlichen US-Heeresdivisionen vorhanden ist. Zeitgleich wagt Verteidigungsminister Oleksij Resnikow die steile These, seine Armee könne binnen eines Monats auf den Einsatz von Nato-Waffen umschalten, also bitte schnellstens her damit!
Tatsächlich ziert sich nicht nur die vielfach gescholtene Bundesregierung damit, modernes Gerät wie aus dem Füllhorn für die Ukraine freizugeben. US-Präsident Joe Biden will topmoderne Mehrfachraketenwerfer durchaus zur Verfügung stellen, vorerst aber nur vier Stück. Auch in gut ausgestatteten Nato-Armeen gehört diese Waffenkategorie nämlich nicht zu Ausrüstung, die man mal eben schnell verheizt. Zwar haben die ukrainischen Soldaten die Bedienung des komplizierten Geräts in Rekordzeit gelernt. Aber bedienen heißt nicht erfolgreich einsetzen. Dazu gehört auch die Wartung vor Ort. Die Ausbildung des erforderlichen Fachpersonals dauert viel länger als die von Kommandant, Fahrer und Schützen. Falls man darauf verzichtet, ergeht es dem sensiblen Equipment so wie den gerade gelieferten amerikanischen Haubitzen: Von denen sind viele nicht mehr unterwegs zum Gefechtsfeld, sondern in umgekehrter Richtung: nach Polen, zur Reparatur.
Es ist also schwierig mit den Abkürzungen. Aufrüstung braucht Zeit, doch der Ukraine läuft die Zeit davon. Der Abnutzungskrieg im Osten des Landes fordert von Verteidigern wie Angreifern hohe Opfer, aber unter Beobachtern im Westen herrscht Konsens, dass die Verluste der Ukraine höher sind und ihr Weg zum Kollaps kürzer. Gut ausgebildete Einheiten bluten aus. An ihrer Stelle rücken unerfahrene Soldaten aus der Territorialverteidigung in die vorderste Linie. Deren Ausrüstung ist schlecht, der Frust riesig, die Zahl der desertierenden Kämpfer hoch. Ausbilder fehlen, denn sie werden an der Front gebraucht oder sind bereits gefallen.
Putin hingegen lehnt sich zurück. Er wartet auf den Winter. Dann werden in den USA aller Voraussicht nach die Republikaner bei den Midterm-Wahlen den Kongress zurückerobern, und die haben nicht viel übrig für den teuren Krieg in Europa. Mit weiterer generöser US-Unterstützung für die Ukraine könnte es dann ganz fix vorüber sein: "America first", zum Teufel mit dem Rest der Welt! Dann muss Europa bereitstehen, um die Lücke zu füllen – und deshalb schon jetzt dringend die Produktionsaufträge dafür an die Waffenschmieden vergeben. Sonst ist die Bahn für Putins Soldateska frei.
Der Kampf um die Ukraine tritt deshalb nur scheinbar auf der Stelle. Tatsächlich befindet er sich jetzt in einer entscheidenden Phase. Welchen Verlauf er nehmen wird, kann niemand vorhersagen. Auf eine Prognose jedoch kann man sich festlegen: Den Krieg wird verlieren, wer nicht weit vorausschauend plant. Die Weichen für Herbst und Winter werden jetzt gestellt. Das Ergebnis sieht man erst später. Und dann ist es, wie es ist: so wie erhofft. Oder zu spät.
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Was amüsiert mich?
Herr Selenskyj bekommt Besuch.
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag. Morgen schreibt Sven Böll den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Samstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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