Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Schlinge zieht sich zu
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
aus der Ferne sieht er furchteinflößend aus, doch je näher er kommt, desto mehr schrumpft er auf Normalmaß. Wer könnte das sein? Ganz klar: ein "Scheinriese". So hat der Schriftsteller Michael Ende das seltsame Wesen in seinem Kinderbuch genannt. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer hatten einen Heidenrespekt vor ihm, als sie das Monstrum am Horizont erblickten. Zum Glück wurde es mit jedem Schritt kleiner. Was wenige wissen: Scheinriesen gibt es wirklich. Einer von ihnen sorgt gerade für Schlagzeilen. Es ist die russische Armee.
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"Die Situation ist nicht normal", ätzte ein russischer Militärexperte kürzlich im staatlichen Propagandafernsehen, zum Entsetzen der Moderatorin. Man solle sich nicht in die Tasche lügen: Die ukrainische Armee befinde sich keinesfalls kurz vor dem Zusammenbruch. Die Kampfmoral der Ukrainer sei hoch, ihre Armee professionell, und hinter ihr stehe eine Allianz aus 42 Staaten, die modernste Waffen liefere. Russland befinde sich in "totaler geopolitischer Isolation". Die Situation werde aus Moskauer Sicht "ganz klar schlechter".
Es ist selten, dass die Russen mit so viel Realismus konfrontiert werden, aber ein Einzelfall ist es nicht mehr. Selbst der stellvertretende Sekretär des russischen Sicherheitsrates ließ sich dazu hinreißen, die "gegenwärtigen Schwierigkeiten" der Militäroperation anzusprechen. Natürlich nur in einem Nebensatz und eingebettet in einen Siegesschwur. Aber die Erkenntnis, wie die Dinge stehen, schimmert jetzt auch in Putins Reich gelegentlich durch.
Die russische Offensive, die sich nun auf den Osten der Ukraine beschränkt, kommt nur noch im Schneckentempo voran. Sie trifft auf erbitterten Widerstand. An vorderster Front stehen ukrainische Soldaten, von denen viele bis vor Kurzem keinerlei Kampferfahrung besaßen, aber um jedes Dorf mitunter mit einfachsten Mitteln kämpfen: Kaserniert im Keller, patrouillieren sie im Laufschritt durch Gemüsegärten, während rundherum russische Granaten einschlagen (hier das Video eines britischen Reporters). Von den schweren Waffen, über deren Lieferung hierzulande so heiß diskutiert wird, ist in solchen Dörfern noch nichts zu sehen. Man kämpft zu Fuß. Dennoch halten selbst an einem so schlecht ausgestatteten Frontabschnitt die Verteidiger dem russischen Druck stand.
Es läuft schlecht für den Aggressor, so viel ist klar. Aber wie schlecht? Wie hoch sind die russischen Verluste wirklich? Ein Drittel der Invasionsarmee sei zerstört oder nicht mehr einsatzfähig, meldet das britische Verteidigungsministerium. Mehr als 28.000 getötete russische Soldaten wollen ukrainische Behörden gezählt haben. Doch bei den forschen Einschätzungen ist Vorsicht angebracht. Denn genau darum handelt es sich: nur um Schätzungen. Sie stützen sich auf allerlei Annahmen, doch Genaues weiß man nicht.
Ein Beispiel: Auf Luft- und Satellitenaufnahmen werden nicht Gefallene gezählt, sondern zerstörte Fahrzeuge, etwa Transportpanzer. Und dann wird hochgerechnet. Aber wie viele Soldaten saßen in dem ausgebrannten Gefährt? War es voll besetzt? Hatte es vielleicht nur drei, vier Mann an Bord, weil die taktischen Bataillonsgruppen der russischen Armee nicht in voller Mannschaftsstärke ins Gefecht gezogen sind? Oder ist gar kein russischer Soldat zu Schaden bekommen, weil sie ihr klappriges Fahrzeug schon längst zurückgelassen hatten? Man kann diesen Zahlen nicht trauen.
Mit Gewissheit darf man jedoch feststellen, dass die russische Armee nicht nur mit dem Gegner, sondern auch mit sich selbst ringt. Immer wieder müssen die Angreifer schwere Niederlagen einstecken. Erhellend sind die Umstände, unter denen das geschieht. Das Debakel am Siwerskyj Donez, einem Flüsschen im Donbass, hat selbst bei linientreuen russischen Militärbloggern für Entsetzen gesorgt – wegen der Inkompetenz der eigenen Einheiten. Beim Versuch der Russen, den Fluss zu überqueren, zerschossen ukrainische Artillerie und Luftwaffe die Pontonbrücken, schnitten die bereits übergesetzten Einheiten von Nachschub und Rückzug ab und richteten eines der bisher größten Blutvergießen dieses Krieges an.
Der Vorstoß über einen Fluss auf selbst gelegten Brücken gehört zu den anspruchsvollsten Operationen während einer Offensive. Verschiedene Einheiten müssen in einer komplexen Choreografie zusammenarbeiten, wobei sie zwischenzeitlich sehr verwundbar sind. Luftunterstützung, Artillerie, Pioniere, Aufklärer, Panzer und Infanterie müssen ihr Timing im Griff haben. Seit Beginn des Krieges ist immer deutlicher geworden, dass die russische Armee an der präzisen Koordination scheitert und jeder Kommandeur sein eigenes Süppchen kocht. Es fehlt am Training. Und das lässt sich nicht mal eben nachholen. Ein ehemaliger Nato-Kommandeur, der wiederholt russische Manöver beobachtet hat, berichtet von beeindruckenden Tauchgängen russischer Panzer, die unter Wasser durch Flüsse walzten (hier ein Video). Nur wurde dann schnell klar, dass Pioniere das Flussbett unter Wasser zuvor für eine störungsfreie Durchfahrt fein säuberlich planiert hatten. Realitätsnah? Nein. Ein Einzelfall? Auch nicht. Harte Urteile sind zu hören: Russische Einheiten hätten oft nicht für den Kampfeinsatz geübt, sondern für die Show. Und noch nicht einmal das übergreifend und koordiniert, sondern jede Einheit für sich, für den eigenen Ruhm. Das rächt sich nun.
Tritt also in der Ukraine eine russische Gurkentruppe gegen überlegene Verteidiger an? So einfach ist es nicht. Von den Verlusten der Ukrainer hören wir weniger, aber wo man sie findet, sind sie bitter: Amerikanische Geheimdienste bescheinigten den ukrainischen Kräften Mitte April Verluste in vergleichbarer Höhe zu den Russen. Militärgerät aus dem Westen stapelt sich ungenutzt in der Landschaft, weil Soldaten noch nicht in die Bedienung eingewiesen worden sind. Die wirtschaftliche Lage ist desaströs, die Opfer unter der Zivilbevölkerung sind verheerend. Die Front im Donbass verschiebt sich zwar nur langsam, aber sie verschiebt sich: Während ukrainische Truppen bei Charkiw große Gebiete zurückerobert haben, weil ihre Gegner abgezogen und in den Donbass verlegt worden sind, zieht sich im Osten eine Schlinge um die Verteidiger von Severodonetsk zu – einer Stadt von der Größe Hildesheims, wo ein ukrainisches Truppenkontingent offenbar von der Versorgung abgeschnitten ist.
Was folgt daraus? Während manche Experten bereits die kommende Niederlage der Invasoren bejubeln, zeigen sich andere zurückhaltender. Konsens scheint immerhin zu sein, dass den Russen nach dieser Offensive die Kräfte für einen weiteren Anlauf fehlen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass die ukrainischen Generäle ihrem eingegrabenen Gegner dessen Eroberungen einfach wieder abnehmen können. Sobald die russischen Angreifer den Rollenwechsel zum Verteidiger erst einmal vollzogen haben, wird es leichter für sie. Ohne eine politische Lösung dürfte sich der Krieg noch lange hinziehen. Denn das ist auch so eine Sache, die man über Scheinriesen wissen muss: Sie schrumpfen auf Normalmaß. Aber sie werden nicht zum Zwerg.
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Was amüsiert mich?
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Ich wünsche Ihnen einen super Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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