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Wladimir Putin: Den Finger auf dem Atomknopf


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Tagesanbruch
Den Finger auf dem Atomknopf

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 03.03.2022Lesedauer: 7 Min.
Präsident Putin mit Verteidigungsminister Schoigu und Generälen während eines Tests von Hyperschallraketen (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Präsident Putin mit Verteidigungsminister Schoigu und Generälen während eines Tests von Hyperschallraketen (Archivbild). (Quelle: imago-images-bilder)
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Liebe Leserin, lieber Leser,

ein weiterer Morgen, der schön sein könnte, aber es nicht ist. Die Lage im ukrainischen Kriegsgebiet ist verheerend, Putins Soldaten schießen ganze Städte kurz und klein. Menschen sterben, werden verletzt, haben Todesangst, Hunderttausende fliehen. Wenn Sie helfen möchten, finden Sie hier vertrauenswürdige Spendenorganisationen. Immerhin gibt es einen Hoffnungsschimmer: Russland hat die Unterhändler der ukrainischen Regierung heute Morgen eingeladen, um über eine Feuerpause zu sprechen. Bisher hatte Putin dafür unannehmbare Bedingungen gestellt, er will ja die Ukraine unterjochen. Aber vielleicht bewegt er sich unter dem Druck der westlichen Sanktionen?

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Vielleicht ist es eine Frage des Alters, wie viele Stresshormone ausgeschüttet wurden, als die Eilmeldung auf dem Handy erschien. Mit einem unscheinbaren "Pling" meldete sich am vergangenen Sonntag der Albtraum der Älteren zurück: "Russland versetzt seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft." Zuvor schien die Gefahr der gegenseitigen totalen Vernichtung drei glückliche Jahrzehnte lang überwunden. Zwar stapelten sich die Sprengköpfe noch immer in den Arsenalen, aus dem öffentlichen Bewusstsein waren sie aber verschwunden. Inzwischen ist eine ganze Generation herangewachsen, die das Leben mit der atomaren Bedrohung nur noch aus der Geschichtsstunde kennt. Das ist seit Sonntag vorbei. Der nukleare Schrecken ist zurück.

Der Kalte Krieg hat die Kiste auf dem Dachboden verlassen, und mit ihm ist auch das Rätselraten über die Absichten des Kremls zurück. Auf den ersten Blick hat es Putins atomare Drohgebärde zwar an Direktheit nicht fehlen lassen. Schon zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine hat der russische Präsident den Westen gewarnt, dass im Falle einer Einmischung "die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben". Drei Tage später legte er nach und befahl, die Atomstreitkräfte in "ein besonderes Regime der Alarmbereitschaft" versetzen zu lassen.

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Diese Worte muss man so genau sezieren wie einst die ellenlangen Verlautbarungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Von vielen Menschen hierzulande sind sie als Erhöhung des Bereitschaftszustands nach einem festen Schema verstanden worden, wie es auch im Westen existiert: vom entspanntesten Niveau in Friedenszeiten bis hin zum akuten Alarm im nuklearen Schlagabtausch.

Doch das hat Putin nicht gesagt. Von einer "besonderen" Bereitschaft, wie er sie jetzt angeordnet hat, ist bisher in Russland noch nie die Rede gewesen. Experten haben versucht, sich darauf einen Reim zu machen. Eine Interpretation lautet: Damit könnten vorbereitende Schritte gemeint sein. Während in Friedenszeiten die Übertragung des Befehls zum Nuklearschlag physisch unterbunden ist, also gewissermaßen die notwendigen Drähte nicht verbunden sind, könnte der Mechanismus nun in einen funktionsfähigen Zustand versetzt worden sein. Genauso gut kann man die Anordnung aber auch als substanzlosen Fantasiebefehl betrachten: nichts als ein Bluff, der die Politiker und Bevölkerungen des Westens einschüchtern soll.

Viel Spekulation also, doch eigentlich wüssten wir das gern genauer. Geht das? Westliche Geheimdienste haben zwar versagt, als sie sich mit einer Untergrundbewegung wie den Taliban und undurchsichtigen Allianzen in Afghanistan herumschlagen mussten. Aber die Schlapphüte haben auch ihre Stärken. Seit vielen Jahrzehnten gehört es zu ihrer Kernkompetenz, die Aktivitäten der sowjetischen (und nun russischen) Atomstreitkräfte zu beobachten und Einsichten in den Grad der nuklearen Bedrohung zu gewinnen. Diese Streitkräfte folgen mehrschrittigen, klar definierten Regeln, denn sie verwalten das Waffenarsenal des Weltuntergangs. Das Regelwerk soll Russland nicht nur vor einem nuklearen Angriff, sondern auch vor Fehleinschätzungen, Missbrauch, Sabotage und Versehen schützen. Die komplexe Choreografie im Umgang mit Sprengköpfen und Waffensystemen kann aufmerksamen Beobachtern manche Erkenntnis verschaffen.

Schauen wir also genauer hin: Ein Teil des russischen Arsenals ist immer sofort einsatzbereit. Interkontinentalraketen stehen fertig zum Abschuss in ihren Silos, einige atomwaffenbestückte U-Boote verstecken sich auf See. Sie gehören zu den "strategischen" Streitkräften, die in einem ultimativen Showdown Ziele in den USA erreichen können. So allerdings fängt der Atomkrieg vor allem im Kino an.

Die gefährlicheren, weil lebensnäheren Szenarien beginnen mit einem begrenzteren Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen. Die sind gegen Ziele auf einem Schlachtfeld, Kommunikationseinrichtungen und Kommandozentralen gerichtet. Aus diesem Arsenal stammen auch Atomwaffen mit "geringer" Sprengkraft – eine Bezeichnung, die zwischen Anführungsstriche gehört, weil die Mini-Sprengköpfe nur nach den absurden Maßstäben des Kalten Krieges klein ausfallen, aber kaum weniger verheerend wirken als die Bombe von Hiroshima. Der Weg in die nukleare Hölle ist auch nach dem Einsatz einer einzigen taktischen Atomwaffe kurz. Sie sind in der Regel nicht unmittelbar einsatzbereit, wie auch ein erheblicher Teil der strategischen Waffen nicht. Sie liegen im Lager. Dort gehören sie hin.

Auch wenn das Thema düster ist, gibt es an dieser Stelle ein paar leidlich gute Nachrichten zu vermelden: Auch nach Putins Weisung sind keine bedenklichen Vorbereitungen bekannt geworden, die auf eine erhöhte Gefahr hindeuten. Die Signale können vielfältig sein: Atombomben, die sonst im Lager liegen, werden an ihre Aufhängungen montiert, diese Aufhängungen zur weiteren Erhöhung der Bereitschaft an den Kampfjets angebracht, gegebenenfalls befinden sich die Jets in permanenter Bereitschaft in der Luft. Mobile Abschussrampen für Interkontinentalraketen verlassen ihre Kasernen und verteilen sich weiträumig im Gelände, wo sie vor möglichen Gegenschlägen sicherer sind. Westliche Spionagesatelliten achten außerdem auf das Auslaufen auffallend vieler U-Boote; Nachrichtendienste spüren erhöhten Sicherheitsmaßnahmen auf den Stützpunkten der Atomstreitkräfte hinterher.

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Von alldem hören wir nichts – stattdessen haben wir dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu dabei zugesehen, wie er die Anordnung der besonderen Bereitschaft ungewöhnlich missgelaunt entgegennahm und später lediglich zurückmeldete, jawoll, das Personal sei verstärkt worden. Da die strategischen Streitkräfte üblicherweise sowieso vollständig besetzt und eher selten in Ferienlaune sind, scheinen wir Putins Befehl fürs Erste als martialisches Gehabe ohne gravierende Folgen abhaken zu können. Das ist ein Segen. "Einen Nuklearkrieg würde Putin nicht überleben – das ist ihm auch klar", meint der Bundeswehrexperte Carlo Masala im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.

Wenn also eigentlich alles in Ordnung ist, wieso schreibe ich dann heute so viel darüber? Weil man damit rechnen muss, dass es nicht so bleibt. Putin hat mit dem atomaren Säbel gerasselt, aber seine Drohgebärde hat nicht verfangen. Die westliche Allianz hat vorbildlich reagiert: nämlich gar nicht. Eine Erhöhung der Alarmbereitschaft blieb aus, und ein vorsichtigerer Kurs gegenüber Putin auch. Keine Eskalationsspirale, aber auch kein Einknicken, sondern Weitermachen mit harten Sanktionen: Mehr war für Putin nicht drin in dieser Runde.

Nun läuft der Krieg schlecht für ihn, ein wirtschaftliches Desaster bahnt sich an, viele Russen reagieren entsetzt auf das Blutbad in der Ukraine. Er wird den massiven Druck der Sanktionen nicht kommentarlos hinnehmen, und wir müssen uns darauf einstellen, dass seine Antwort wieder mit einer atomaren Drohung garniert ist: konkreter, beängstigender als bisher, und das nächste Mal so umgesetzt, dass die Geheimdienste anschließend tatsächlich etwas zu vermelden haben. Putin weiß um die Wirkung. Er weiß um das Rätselraten und die Verunsicherung. Mit seinen Kriegsvorbereitungen an der Grenze zur Ukraine hat er die meisten Beobachter getäuscht. Es schien ein Bluff zu sein, bis es keiner mehr war.

Putin ist in die Enge getrieben, und man würde sich wünschen, dass seine brutale Herrschaft so ihr Ende findet. Doch die Lage ist gefährlich. Scholz, Macron und Biden müssen dem Mörder aus Moskau immer wieder einen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Debakel anbieten, einschließlich einer wenigstens teilweisen Rücknahme von Sanktionen – selbstverständlich nur unter der Bedingung, dass er seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine beendet. So viel Entgegenkommen ist nicht gerecht; man mag es angesichts der Verbrechen des Kremlchefs und des Leids der Ukrainer eigentlich gar nicht erwägen. Aber es ist klug. Denn eine Welt mit Atomwaffen setzt nicht nur zu viele Stresshormone frei, sie braucht auch einen kühlen Kopf. Die Älteren unter uns wissen das.


EU hilft Flüchtlingen

Hunderttausende Menschen fliehen aus der Ukraine, die EU rechnet noch mit Millionen. Mehr als die Hälfte der rund 836.000 Flüchtlinge, die laut dem UN-Flüchtlingswerk bereits das Land verlassen haben, befinden sich in Polen. An zweiter Stelle folgt Ungarn mit 116.000 aufgenommenen Flüchtlingen, dann die Slowakei mit 67.000, Moldau mit 65.000 und Rumänien mit 38.000. Zudem sind 52.000 Menschen in andere europäische Staaten weitergereist. Um ihre Aufnahme zu erleichtern, will die EU nun ein unbürokratisches Verfahren schaffen: Beim heutigen Innenministertreffen in Brüssel soll die "Massenzustrom-Richtlinie" aus dem Jahr 2001 aktiviert werden. Sie wurde nach den Balkankriegen entworfen und garantiert Kriegsflüchtlingen Schutz in der EU ohne aufwendige Asylverfahren.


Mehr Sicherheit

Wenn die ganze Welt auf eine Krise schaut, gehen andere Ereignisse unter. So auch beim gestrigen Besuch von Olaf Scholz in Israel. Doch ein paar Worte ist es schon wert, was der Kanzler und der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett vereinbart haben: Israel und Deutschland schließen eine Sicherheitspartnerschaft, die man epochal nennen darf, denn eine derartige Zusammenarbeit pflegt die Regierung in Jerusalem ansonsten nur zu Washington und London. Zweimal jährlich werden Sicherheitsexperten beider Länder Kenntnisse und Know-how austauschen – ein Modus, der weit über den gewöhnlichen Handel mit Geheimdienstinformationen hinausgeht. "Das ist etwas ganz Besonderes", sagt Scholz. Möge es die Welt sicherer machen.


Was lesen?

Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner sind bei den Strafen gegen Putins Regime ganz vorn dabei. Die Folgen dürften auch viele Deutsche bald zu spüren bekommen.


Ist Putin noch zurechnungsfähig? Nato-Experten blicken auf den Kremlchef wie FBI-Profiler auf einen durchgeknallten Geiselgangster, schreiben die Kollegen des RND.


Werden Russlands Oligarchen wirklich von den Sanktionen getroffen? Meine Kollegin Nele Behrens hat nachgeforscht.


Tausende Ukrainer fliehen nach Westen – Dominik fährt in die andere Richtung: Der Essener will gegen Putin in den Krieg ziehen. Mein Kollege Jannik Läkamp konnte mit ihm sprechen.


Am 20. Februar endete Olympia in China, am Tag danach griff Putin die Ukraine an. Recherchen legen jetzt nahe: Das war kein Zufall.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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