Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Neue Bundesregierung – reich und sexy
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
den Teppich kann er sich nicht aussuchen. Der ist, wie er ist. Man kann das mögen, dieses pastellfarbene Türkis, man kann es aber auch lassen. Auf jeden Fall dämpft er den Laut der Schritte. Wer über diese Auslegware schreitet, den hört man nicht. So gesehen wird Olaf Scholz ein Leisetreter sein, und er kann noch nicht einmal dagegen protestieren, wenn man das schreibt. Den real existierenden Fakten der Inneneinrichtung muss sich sogar ein Bundeskanzler beugen. Dafür darf er andere Details in seinem Büro bestimmen. Ob er den halbrunden Schreibtisch für Telefonate mit ausländischen Regierungschefs so wie bei seiner Vorgängerin gegenüber der hölzernen Eingangstür aufgestellt lassen will zum Beispiel, und ob darüber wieder ein Bild des alten Adenauer hängen soll. Die Schrankwand zur Linken wiederum lässt sich eher schwer hinausmanövrieren, aber da kann man ja schön ein paar Bücher hineinstellen. Das sieht immer gut aus. Auch der lange Besprechungstisch rechter Hand neben dem Eingang hat sich bewährt, dort kann man prima arbeiten, und Besucher haben einen tollen Blick bis hinüber zum Reichstagsgebäude.
In der bundesdeutschen Demokratie kommt es nicht allzu oft vor, dass ein neuer Chef im Kanzleramt einzieht, und die 16 Jahre von Frau Merkel waren wirklich arg lang. So lang, dass viele junge Leute nun erst einmal lernen müssen, dass eine Bundeskanzlerin auch ein Mann sein kann. Aber frischer Wind hat bekanntlich noch nie geschadet. Und wenn es etwas braucht, das Deutschland wirklich dringend braucht, dann ist es frischer Wind.
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Das ist die Lage, wenn das Land heute einen neuen Regierungschef und neue Bundesminister bekommt. Um 9 Uhr wollen die Fraktionen der SPD, der Grünen und der FDP Olaf Scholz im Bundestag zum Kanzler wählen, dann braust er hinüber ins Schloss Bellevue zum Bundespräsidenten, der ihn ernennt. Anschließend fährt er die zwei Kilometer zurück ins Parlament, wo Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ihm den Amtseid abnimmt, wobei der Agnostiker Scholz auf die Formel "so wahr mir Gott helfe" verzichten will. Und dann wiederholt er das ganze Prozedere noch einmal mit seinen Ministern, so will es die Verfassung. Aber dann geht's endlich los. Mit seinen engsten Getreuen – darunter wohl Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und Regierungssprecher Steffen Hebestreit – wird der neue Hausherr um 15 Uhr das Bundeskanzleramt in der Willy-Brandt-Straße 1 beziehen.
Das riesige Büro des Kanzlers liegt im siebten Stock des Gebäudes, das in den Merkel-Jahren zu einer verwinkelten Riesenburg ausgebaut worden ist. 750 Leute arbeiten dort, aber nur einer hat bei allem das letzte Wort. Das ist das Privileg des Kanzlers, und das kann ein ziemlich gutes Gefühl sein. Man würde also gern in den Kopf von Olaf Scholz hineinschauen, wenn er heute Nachmittag seine Vorgängerin verabschiedet und dann über den türkisfarbenen Teppich lautlos sein neues Machtzentrum betritt.
Leider wird daraus nichts, und das nicht nur, weil in so einem Moment wohl niemand gern neugierige Reporter an seiner Seite hätte. Auch deshalb, weil Olaf Scholz nun einmal ist, wie er ist: ein erfahrener Politstratege, der seine Pläne diskret von langer Hand schmiedet. Dass er dort einzuziehen gedenke, in dieses Büro mit der türkisfarbenen Auslegware, das haben er und seine Leute schon im Brustton der Überzeugung erzählt, als die SPD noch drauf und dran war, in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken. Viele Journalisten lächelten nur müde, als sie vor einem Dreivierteljahr über die Kanzlerkandidatur des Genossen berichten sollten. Doch Herr Scholz und seine Getreuen machten einen Plan, und sie schworen Stein auf Bein, dass er aufgehen würde. Als dann der Wahlkampf begann, als die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock von einem Fettnäpfchen ins nächste stolperte und der Unionskandidat Armin Laschet im Flutgebiet kicherte, da drehte sich der Wind, und der Scholz-Plan schien auf einmal doch nicht mehr so absurd zu sein. Und als dann auch noch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und sein Marketingplaner Raphael Brinkert eine fulminante Wahlkampagne inszenierten, lag Scholz plötzlich vorn. Die Koalitionsverhandlungen nach dem Wahlsieg liefen so geräuschlos wie seit Jahrzehnten nicht, und wäre nicht die vierte Corona-Welle gekommen, stünden in den Zeitungen heute Morgen wohl noch mehr Leitartikel, die den "politischen Aufbruch" beschwören.
Doch für Euphorie ist die Zeit zu ernst. Die dringendste Aufgabe des neuen Kabinetts ist der Sieg über die Pandemie, das weiß auch Olaf Scholz. Scheitert er daran, scheitert seine gesamte Regierung. Da helfen auch keine noch so ausgetüftelten Klimaschutz-, Digitalisierungs- oder sonstigen Pläne.
Gelingt dem Scholz-Team dieser alles entscheidende Sieg? Die Art und Weise, wie die Ampelmehrheit im Bundestag die Gefahr der vierten Welle anfangs unterschätzte, weckt Zweifel – einerseits. Andererseits sind die Ampelleute inzwischen aufgewacht, eine Regierung muss erst einmal ins Amt finden und sich dort sortieren, ein paar Tage sollte man ihr also zugestehen. Mehr aber nicht. Wo man früher jeder Regierung 100 Tage Schonfrist gewährte, zählt heute jede Stunde, um das Virus einzudämmen. Womöglich helfen Olaf Scholz dabei ein paar Eigenschaften, die man bei Hamburgern öfter findet: Statt jeden Tag ins lauteste Horn zu blasen wie manche Ministerpräsidenten unten im Süden, packt man oben im Norden lieber an. "Nich' lang schnacken!", sagen wir Hamburger, und den zweiten Teil des Satzes sparen wir uns, der versteht sich eh von selbst: "Lieber machen!"
Zwar erblickte Olaf Scholz in Osnabrück das Licht der Welt, doch er wuchs in einem Hamburger Arbeiterstadtteil auf und darf seinem ganzen Wesen nach als Hanseat durch und durch beschrieben werden. Dazu gehört sein Arbeitseifer, sein (öffentlich) eher unterkühltes Temperament, sein Geschick beim Knüpfen von Kontakten und, ja, auch seine Fähigkeit, Skandale auszusitzen. CumEx lässt grüßen. Man kann solche Typen mögen oder nicht, aber eines kann man schwerlich von der Hand weisen: dass es angesichts der Großkrisen unserer Zeit kein schlechtes Gefühl ist, so einen im siebten Stock des Kanzleramts zu wissen – statt eines leidenschaftlichen Lautsprechers, der toll reden, aber womöglich weniger toll regieren kann.
In Berlin gab es mal so einen, Wowereit hieß der. Aus seiner Amtszeit ist vor allem dreierlei in Erinnerung: ein verkorkster Flughafenbau, eine vermasselte Wohnungsbaupolitik und der Satz, Berlin sei "arm, aber sexy". Olaf Scholz, der sich selbst einmal als "reich" bezeichnet hat, würde über so ein Bonmot wohl noch nicht einmal die Augenbraue heben. Er hat als Hamburger Bürgermeister das Wohnraumproblem gelöst, die Elbphilharmonie fertig gebaut und die Clubszene gefördert. So ist man in der Hafen- und Kulturstadt heute stolz darauf, reich und sexy zu sein. Fügt man noch ein "sicher" hinzu, wäre das doch gar kein schlechtes Motto fürs ganze Land. Deutschland in den kommenden vier Jahren zu einem Staat zu machen, in dem möglichst alle Menschen wohlbehalten leben und sich dabei auch noch toll fühlen können: Das wäre doch was.
Die gute Nachricht
Die einen kommen, die anderen gehen. Und manche von jenen, die nun aus der Bundesregierung ausscheiden, vermisst man wirklich nicht.
England schottet sich ab
Es war ein Schock: Beim Kentern eines Flüchtlingsboots im Ärmelkanal sind im November 27 Menschen gestorben, die illegal nach Großbritannien einreisen wollten. Schleuser hatten sie mit einem jämmerlichen Schlauchboot in die verkehrsreichste Schifffahrtsstraße der Welt geschickt. Im Anschluss überhäuften sich britische und französische Stellen gegenseitig mit Schuldzuweisungen. Die britische Innenministerin Priti Patel reagiert heute auf ihre Weise auf die Katastrophe: Sie stellt im Parlament ein umstrittenes Gesetz zur Einwanderung vor, das scharfe Schritte zur Abwehr illegaler Migranten beinhalten soll, darunter die Genehmigung von Zurückweisungen ("Pushbacks") auf offener See. So drakonisch sind die Maßnahmen, dass nicht nur Amnesty International dagegen protestiert, sondern auch Abgeordnete aus der Tory-Partei der Ministerin. Die bittere Pointe: Frau Patel war einst selbst ein Einwandererkind.
Mehr Visionen wagen
Ein Außenpolitiker von ganz anderem Schrot und Korn war Willy Brandt, der vor 50 Jahren den Friedensnobelpreis erhielt. Anlässlich dieses Jubiläums lädt die Friedrich-Ebert-Stiftung heute zu einer Diskussionsveranstaltung mit Festakt. Mag wie eine Nebensache klingen, ist es aber nicht. Unsere Welt braucht mehr mutige Visionäre wie den Willy.
Ein Lichtblick …
… ist der heutige Tag für Steffen Seibert. Mehr als elf Jahre lang hat er Angela Merkel und ihren Regierungen als Sprecher gedient, länger als jeder Vorgänger. Er hat viel geredet, wenig geschlafen und abseits des Rummels im Regierungsviertel auch mal Hintergründe erläutert, die man von niemandem sonst erfahren konnte. Nun kann er das Bundespresseamt reinen Herzens an seine Nachfolger übergeben und neue Abenteuer in Angriff nehmen. Viel Freude dabei!
Was lesen?
Wie ist es Angela Merkel gelungen, so lang zu reagieren? Unser Kolumnist Gerhard Spörl kennt den Berliner Politikapparat seit Jahrzehnten und verrät Ihnen eine Erkenntnis.
Kann Olaf Scholz nun einfach durchregieren? Auf keinen Fall – denn die größten Probleme warten in seiner eigenen SPD und bei den Grünen, warnt unser Gastautor Joachim Krause.
Der Fall Bakery Jatta schlägt hohe Wellen: Hat der Fußballer aus Gambia sich die Einreise nach Deutschland mit falschen Angaben erschlichen? Unser Sportchef Robert Hiersemann schreibt dazu Klartext.
Hübsch ist er; und viel wert obendrein. Auf 45,52 Karat bringt es der berühmte Hope-Diamant, der im 17. Jahrhundert in Indien gefunden worden ist. Seinen Besitzern soll er der Legende nach im Laufe der Zeit nur Unglück gebracht haben, erklärt Ihnen Marc von Lüpke auf unserem Historischen Bild.
Was amüsiert mich?
Karl Lauterbach wird Gesundheitsminister. Das hat gravierende Folgen für ARD und ZDF.
Ich wünsche Ihnen einen dynamischen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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