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Putins Kampf gegen die EU: So läuft der neue Krieg


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Tagesanbruch
Eine andere Form von Krieg

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.11.2021Lesedauer: 7 Min.
Ein russischer Langstreckenbomber startet zu einem Patrouillenflug über dem belarussischen Luftraum.Vergrößern des Bildes
Ein russischer Langstreckenbomber startet zu einem Patrouillenflug über dem belarussischen Luftraum. (Quelle: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

schaut man in den Osten, könnte man meinen, die Brille sei kaputt. Statt scharfer Konturen sehen wir dort ein seltsames Doppelbild: einen Winzling, der sich für einen großen Macker hält, während ihn die meisten Bewohner seines Landes am liebsten zum Teufel jagen würden. Einen Diktator, der nur dank Hilfe aus dem Ausland nicht von seinem Chefsessel rutscht. Ihm gegenüber: eine mächtige Staatengemeinschaft, eine Festung des Wohlstands, das wirtschaftliche Zentrum in unserem Teil der Welt. Alexander Lukaschenko gegen die EU, das ist ein Bild wie aus einem Krimi: Der eine schleust ein paar Tausend Migranten an die Grenze – und schon weiß der kraftstrotzende Goliath im Westen nicht mehr, was er machen soll. Der letzte Diktator Europas gefährdet den Frieden auf dem Kontinent, schreibt unser Außenpolitikexperte Patrick Diekmann.

Richten wir den Blick noch weiter in die Ferne, sehen wir die Silhouette eines zweiten Mannes, der ganz bestimmt kein Winzling ist. Auch er hält sich für einen starken Max, obwohl ihn eine Menge seiner Untertanen am liebsten genauso zum Teufel jagen würden wie seinen Kumpel Alexander. Wie viele genau die Nase voll haben, wissen wir nicht, denn wenn es ans Zählen geht, greift Wladimir Putin gern zum Rotstift. Bei den letzten Wahlen haben seine Leute so oft an den Zahlen herumgeschraubt, dass man die gerundeten Wunschergebnisse sogar als Muster in der Wahlstatistik sehen kann.

Trotz solcher Tricks eilt ihm ein Ruf wie ein Donnerhall voraus: Putin, der Strippenzieher. Putin, die graue Eminenz. Der Fuchs, der es so gedeichselt hat, dass kein Weg mehr an ihm vorbeiführt – ob in Syrien, in Libyen oder in Belarus, und übrigens auch, wenn wir im Winter Gas zum Heizen brauchen. Was kann man gegen so einen ausrichten? Wenn uns Westeuropäer schon das Ringen mit dem belarussischen Zwerg aus der Puste bringt, ist es kein Wunder, dass uns bei dem Riesen in Moskau endgültig der Atem stockt.

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Schaut man jedoch etwas genauer hin, wandelt sich das Bild: Dann ist der scheinbar so sattelfeste Autokrat in Moskau ganz schön am Schlingern. Die Corona-Krise ist in Russland komplett außer Kontrolle, die Infektions- und Opferzahlen schießen nach oben. Ein einwöchiger Lockdown, der nicht so genannt werden durfte, ist wirkungslos verpufft. Die Impfquote kommt über mickrige 40 Prozent nicht hinaus, denn das Misstrauen in der Bevölkerung gegen Putins Mafiastaat ist groß. Gewiss, der Pate im Kreml hat die unabhängigen Medien in seinem Reich längst dichtgemacht. Der Oppositionsführer Alexej Nawalny sitzt hinter Gittern, nachdem Putins Killerkommando beim Vergiftungsversuch gepatzt hat. Aber Staatsmedien hin, Verhaftungen her, der Kanal von Nawalnys Team auf YouTube hat immer noch so viele Zuschauer, dass er den staatlichen Propagandasendern locker Konkurrenz machen kann. Putins langer Arm reicht bis in die hintersten Winkel der Welt – doch die populäre Videoplattform zu Hause zu verbannen, das traut er sich nicht. Sie ist zu beliebt bei den Bürgern. Die steigen ihm sonst aufs Dach.

Der Chef hat nicht alles im Griff, und sein Apparat reagiert deshalb dünnhäutig. Kürzlich prangerte ein aus dem Gefängnis entlassener Bürger die katastrophalen Zustände im Strafvollzug an und zeigte schlimme Videos von Misshandlungen und Folter. Was tat der Staat? Schickte Ermittler in Zivil. Aber nicht in die Gefängnisse, sondern zum Informanten, um ihm mit dem Tod zu drohen. Brutal ist das, schlimm – und bemerkenswert unsouverän. Die Opposition gegen Putin sucht sich immer neue Wege, und sie kann aus einem immer größeren Potenzial der Unzufriedenheit schöpfen. Selbst in den handzahmen Alternativparteien tauchen plötzlich junge Charakterköpfe auf, die sich nicht länger aufs Beifallklatschen beschränken wollen. Sogar in den Reihen der stramm linientreuen Kommunisten werden inzwischen Reformer gesichtet. Derweil sorgt die miese Wirtschaftslage landauf, landab für schlechte Stimmung.

Das Bild vom starken Mann im Kreml hat also Risse. Immerhin, der Westen braucht sein Gas, und damit wir das nicht vergessen, lässt er uns manchmal ein bisschen zappeln. Mit kleinen Verzögerungen bei der Lieferung erinnerte er die deutsche Regierung in den vergangenen Tagen daran, dass sie bei der neuen Ostseepipeline Nord Stream 2 endlich mal den Hahn aufdrehen soll. Gas ist knapp in den Speichern der EU, die Preise sind hoch, der Winter kommt. Das alles spielt Putin in die Hände – doch die Fäden, an denen er zieht, hat nicht nur er allein in der Hand. Russland ist auf die Einnahmen aus dem Gasgeschäft so dringend angewiesen wie der Westen auf den Rohstoff. In diesem komplizierten Spiel kann keiner der Beteiligten einfache Punkte holen.

Auch deshalb setzt Putin nun noch einen drauf, um den Westen zu verunsichern: Täglich flimmern die Bilder von Soldaten über die Fernsehschirme, die in Polen an der Nato-Außengrenze aufmarschieren. Auf der anderen Seite stehen die Truppen aus Belarus, russische Jets üben im Luftraum darüber, und die Opfer – überwiegend Migranten aus Kurdistan – campieren dazwischen. Auch an der Grenze zur Ukraine sind russische Truppen in Bewegung. Putin kann auf ein kampferprobtes Militär zurückgreifen, und er sendet dieses Signal inzwischen als Dauerwarnton gen Westen. Aber er weiß auch, dass der Warschauer Pakt Geschichte ist und sein Militär nicht den USA und schon gar nicht der gesamten Nato Paroli bieten kann. Er kann uns ärgern, aber er darf uns nicht zu sehr reizen. Deshalb setzt er auf "hybride Kriegsführung". Panzerkolonnen: nein. Desinformationskampagnen: ja. Flüchtlinge, die in den Wäldern an der polnischen Grenze womöglich verhungern oder erfrieren und für skandalöse Bilder des westlichen Versagens sorgen: auch ja.

Europa hat bisher nicht ebenso "hybrid" zurückgeschossen, denn die Munition ist ganz schön teuer. Zum Beispiel könnte die EU die regulären Grenzübergänge zwischen Polen und Belarus schließen, denn am Handel verdient Herr Lukaschenko kräftig mit – und jeden Rubel, der ihm fehlt, muss der große Bruder in Moskau ausgleichen. Aber wie das beim Handel so ist: Es sind immer zwei dabei. Die Geschäftspartner in der EU träfen geschlossene Grenzen ebenso.

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Welches Druckmittel haben wir dann? Ganz einfach: die neue Gasröhre. Wenn Deutschland den Start von Nord Stream 2 blockiert, zahlen zwar auch wir Verbraucher in Europa kräftig drauf, Heizen wird durch den Konflikt noch teurer. Aber es wirkt. Putin braucht das Geld, und er braucht es jetzt, wo die Wirtschaft schwächelt, die Corona-Lage eskaliert und Millionen Russen auf ihre Rente warten. Zum Glück geht nur die Liebe durch den Magen. Die Vernunft geht durch das Portemonnaie.


Finale in Glasgow

Ob sich die rund 200 Staaten auf mehr einigen können als auf Floskeln und Absichtserklärungen? Das ist die entscheidende Frage, falls heute nach zweiwöchigem Ringen der Weltklimagipfel in Glasgow planmäßig zu Ende geht. Der erste Entwurf einer Abschlusserklärung, den die britischen Vorsitzenden vorgelegt haben, macht wenig Hoffnung: Darin heißt es, man sei "besorgt" und "alarmiert" aufgrund der Erderhitzung und "rufe dazu auf", bis 2030 den Treibhausgasausstoß um 45 Prozent gegenüber den Werten von 2010 zu reduzieren. Außerdem seien "bedeutende und effektive Maßnahmen aller Seiten in dieser entscheidenden Dekade" erforderlich. Übersetzt ist dieses Wischiwaschi mit einem ausgestreckten Mittelfinger gleichzusetzen, den die Unterhändler der gesamten Menschheit zeigen: Mag sein, dass die Welt geradewegs in eine unkontrollierbare Krise steuert, aber mehr als Plattitüden haben wir jetzt nicht zu bieten. Die notorisch optimistische Noch-Bundesumweltministerin Svenja Schulze zeigt sich trotzdem zufrieden und findet, man sei "schon ein gutes Stück weitergekommen". Soll man da lachen oder weinen?


Der dritte Mann

Gestern kündigte er seine Bewerbung für den CDU-Vorsitz an, heute will er seiner Landespartei in Hessen die Gründe erklären: Mit dem geschäftsführenden Kanzleramtsminister Helge Braun ist ein dritter Mann ins Rennen um Armin Laschets Nachfolge als CDU-Boss eingestiegen. Da Ex-Umweltminister Norbert Röttgen heute ebenfalls zur Pressekonferenz bittet, um seine Ambitionen zu verkünden, steht nur noch die erneute Bewerbung von Ex-Fraktionschef und Ex-Parteichefbewerber Friedrich Merz aus. Bleibt es bei dem Kandidatentrio (die Bewerbungsfrist läuft bis zum 17. November), hätten die rund 400.000 Christdemokraten, die im Dezember bei einer Mitgliederbefragung abstimmen dürfen, die Wahl zwischen zwei Merkel-Opfern (Merz, Röttgen) und einem ihrer engsten Vertrauten. Als "das letzte Aufbäumen des Merkel-Lagers" bewerten die Kollegen der "Zeit" den Schritt des scheidenden Kanzleramtschefs.


Tipp des Tages

Das Wetter ist derzeit nicht so doll. Aber wir wollen natürlich trotzdem möglichst genau wissen, wie es in den nächsten Stunden wird. Deshalb habe ich hier etwas Feines für Sie.


Was lesen?

An wenigen Orten wütet die Pandemie so schlimm wie in der Sächsischen Schweiz. Ausgerechnet dort verweigern viele Menschen die Impfung. Das führt zu harten Beschränkungen des öffentlichen Lebens – und wachsender Wut, wie unsere Reporterin Liesa Wölm aus Pirna berichtet.


Mehr als 100 Jahre lang lag es auf dem Meeresgrund, jetzt hat das Wrack sein Geheimnis preisgegeben: Der belgische Forscher Tomas Termote hat in der Nordsee ein deutsches U-Boot aus dem Ersten Weltkrieg identifiziert. Vom tragischen Schicksal der Mannschaft hat er unserem Zeitgeschichteredakteur Marc von Lüpke berichtet.


Die Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist brenzlig. Unsere Reporter Tim Kummert und Michael Körner sind vor Ort unterwegs und schildern hier ihre Eindrücke.


Was amüsiert mich?

Schwierige Nachbarn haben wir.

Trotzdem wünsche ich Ihnen einen schönen Tag. Bleiben Sie umsichtig und zuversichtlich, ich bleibe es auch. Morgen erhalten alle Tagesanbruch-Abonnenten wieder die Wochenendausgabe mit dem ausführlichen Podcast; der geschätzte Kollege Sven Böll serviert ihn mit einem gepfefferten Text und legt am Montag noch mal nach. Von mir lesen Sie am Dienstag wieder. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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