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Polens Regierung untergräbt die Stabilität der EU


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Tagesanbruch
Knallharter Angriff

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 20.10.2021Lesedauer: 6 Min.
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki verteidigt vor dem EU-Parlament seinen Kurs.Vergrößern des Bildes
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki verteidigt vor dem EU-Parlament seinen Kurs. (Quelle: Roland Wittek/reuters)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

"es gilt die Hausordnung." Irgendwo ist dieser Satz wohl jedem schon einmal begegnet: auf einem Schild, einem Aushang im Hausflur oder im Mietvertrag. Um Ruhezeiten geht es da, um Waschküchenbenutzung und so weiter. Solche Regeln kommen vielleicht ein bisschen spießig daher. Aber sie sorgen dafür, dass niemand nachts um drei seine Nachbarn mit Metallica beschallen und das zur freien Ausübung von Persönlichkeitsrechten deklarieren kann. Klar, es kann sein, dass man sich mit den anderen Bewohnern über die Details der Regeln streitet, aber wenigstens gibt es eine Grundlage dafür, was in Ordnung geht und was nicht. Es gilt die Hausordnung. Für alle im Haus. Außer im zweiten Stock.

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Als ich gestern Abend ermattet die Treppe hinaufstieg, klebte in dieser Etage nämlich ein Zettel an der Tür: "Wir respektieren die Hausordnung!", hatten die Bewohner darauf notiert. "Aber nur, solange sie mit unserer Wohnungsordnung übereinstimmt. Die machen wir selbst. Und die geht vor. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Mit-Mieter." Darunter klebte ein "Metallica forever"-Aufkleber, und jetzt sind alle anderen im Haus ganz schön nervös.

So darf man sich die Ausgangslage vorstellen, als gestern der Vertreter des zweiten Stocks, Mateusz Morawiecki, zur Mieterversammlung kam. Na gut, eigentlich lebt Herr Morawiecki nicht bei mir im Haus, sondern ist polnischer Premierminister, und die "Mieterversammlung" fand auch nicht in Berlin, sondern im EU-Parlament in Straßburg statt. Aber auch dort hängt der Haussegen schief. Es ging gestern ganz schön zur Sache. Über "Erpressung" und "Bedrohungen" ereiferte sich der Herr aus Warschau, "Kompetenzüberschreitung" setzte er noch obendrauf. Im Gegenzug musste er sich anhören, er säe "Spalt und Streit" in der Europäischen Union.

Das Grundproblem: Polens Verfassungsgericht hat entschieden, dass das polnische Recht Vorrang vor dem europäischen hat. Die Wohnungsordnung soll also wichtiger als die Hausordnung sein, findet man jedenfalls in Warschau. Das Zusatzproblem: Polens rechtspopulistische Regierung hat die Justiz des Landes nicht nur an die Leine gelegt und unliebsame Richter schikaniert – sondern das höchste Gericht des Landes auch gleich mit eigenen Parteigängern besetzt und so dessen Unabhängigkeit untergraben. Sodann hat sie dem handzahmen Richterkollegium die Frage vorgelegt, ob die nervige EU in Polen mitzureden habe und der pingelige Europäische Gerichtshof in Streitfragen das letzte Wort behalten solle. Und siehe da: Die Richter fanden das auch echt blöd. Na sowas.

Aber wir wollen es uns nicht zu einfach machen. Die Absichten der Clique in Warschau mögen nicht die lautersten sein, dennoch ist die Grundsatzfrage zunächst einmal berechtigt: Wer hat das letzte Wort? Müssen die nationalen Verfassungsgerichte stets das Haupt senken, wenn die europäischen Richter wieder mal urteilen? Auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht schließlich für Aufsehen gesorgt, als es im vergangenen Jahr einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs die Anerkennung verweigerte. Wenn Deutschland sich das herausnimmt, warum dann nicht auch Polen?

Aber der Vergleich hinkt gewaltig. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem eng umrissenen Sonderfall die Autorität des Europäischen Gerichtshofs infrage gestellt. Polens Verfassungsrichter dagegen haben gleich die Grundlagen der europäischen Verträge großzügig abgeräumt. Niemand bezweifelt in Deutschland den Vorrang des europäischen Rechts so grundsätzlich, und das mit gutem Grund. Denn eine letzte, verbindliche Entscheidungsinstanz muss es geben, und in einer Gemeinschaft muss sie für alle dieselbe sein. Das Leben, Wirtschaften, Arbeiten und Handeln in einem Verbund aus mehr als zwei Dutzend Nationalstaaten kann nur dann funktionieren, wenn das europäische Recht immer und überall gilt, statt nur manchmal und vielleicht.

Den Populisten der polnischen Regierungspartei PiS geht das Europa der Verbindlichkeit jedoch zu weit. Sie versuchen nun dasselbe wie die Brexit-Fans aus Großbritannien, nur mit mehr Geschick. Die Brexiteers hatten gleich zur Brechstange gegriffen: Sie wollten raus aus der EU – aber ohne Nachteile, please. Aus den Vorzügen der Gemeinschaft hätten sie sich die schönsten Rosinen so gerne herausgepickt, nur haben die sturen Brüsseler Verhandlungsführer dabei leider nicht mitgespielt.

Die polnischen Nachahmer haben nun verstanden: Wer sich die Rosinen nicht ruckzuck, sondern in aller Ruhe heraussuchen will, bleibt drin im Laden. Sie haben sich ein Konstrukt gebastelt, mit dem sie unter den vielen Regeln und Rechtsvorschriften der Union ein bisschen selektieren können. Zugang zur Gemeinschaftswaschmaschine: ja. Nachts die Musik runterdrehen: nein. Mal sehen, wie weit man damit kommt. Aber auf keinen Fall ausziehen!

Das klingt erst einmal nach einem gewaltigen Problem für die restliche Hausgemeinschaft, zumal das abgebrühte Verhalten schnell Schule machen kann. Die EU zögert mit der Konfrontation, denn der offene Krawall mit dem renitenten Hausbewohner kann allen das Leben zur Hölle machen. Polens Morawiecki ist obendrein nicht isoliert, er agiert gemeinsam mit dem ungarischen Autokraten Viktor Orbán. Bisher konnte das Duo sich wechselseitig vor schmerzhaften Strafen wie dem Entzug der Stimmrechte in der EU schützen, denn ein solcher Beschluss erfordert Einstimmigkeit.

Inzwischen hat die Gemeinschaft aber einen neuen Pfeil im Köcher: Wer Geld aus den europäischen Töpfen will, kann neuerdings als Vorbedingung auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien verpflichtet werden. Einstimmigkeit ist nicht erforderlich. Nein, es sieht nicht gut aus für Polen und Ungarn. Deshalb klagen beide gegen diesen neuen "Rechtsstaatsmechanismus" – vor eben jenem Europäischen Gerichtshof, dessen Vorrang die polnische Regierung zu Hause nicht anerkennen will. Ihre Klage hat wenig Aussicht auf Erfolg.

Beim polnischen Poker steht viel auf dem Spiel: ob es in der EU ein gleiches Recht für alle gibt, ob Mitglieder der Gemeinschaft ungehindert zu Autokratien mutieren dürfen, ob man sich in der Union einfach die Rosinen herauspicken kann. Man kann die Konfrontation allerdings auch als Chance begreifen. Schon der Brexit war ein harter Test für die Gemeinschaft, doch am Ende hat er vor allem eines eindrucksvoll demonstriert: was für eine katastrophale Idee es ist, aus der EU auszuscheiden. Das Chaos. Die Schmerzen. Schön war das nicht. Und nachahmen will das jetzt keiner mehr. Stattdessen wird die EU nun von innen herausgefordert. Sie ist gezwungen zu beweisen: Wer die Gemeinschaft untergräbt, auf den wartet eine harte Landung. Testpilot Mateusz Morawiecki hat im Cockpit bereits Platz genommen. Einen Gratis-Fallschirm verdient er nicht.

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Ich wünsche Ihnen einen erfüllten Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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