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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der grüne Traum zerbröselt
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Ein starkes Signal
Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, aber der politische Betrieb beginnt sich zu normalisieren. Das ermöglicht es dem Bundespräsidenten, seinen verschobenen Staatsbesuch in Israel nachzuholen, den scheidenden Präsidenten Reuven Rivlin zu verabschieden und den neuen Ministerpräsidenten Naftali Bennett samt seiner kunterbunten Koalition kennenzulernen.
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Besuche deutscher Politiker in Israel sind nie einfach. Im Interview mit der Tageszeitung "Haaretz" wird Frank-Walter Steinmeier nach dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland gefragt. Er weiß, dass man jedes seiner Worte hier auf die Goldwaage legt. Er weiß auch, dass klare Worte nicht genügen. Israelische Medien wundern sich darüber, dass auf die wortreichen Beteuerungen deutscher Politiker, jüdische Einrichtungen zu schützen, häufig nur schleppende Bemühungen der Polizei folgen. Steinmeier stellt deshalb klar: "Wo die jüdische Gemeinschaft bedroht ist, müssen wir entschlossen an ihrer Seite stehen." Man darf diese Ansage so verstehen, dass sie nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel gilt. So gesehen ist der Besuch des Bundespräsidenten knapp sieben Wochen nach dem Kurzkrieg zwischen der israelischen Armee und der Hamas im Gazastreifen auch ein Zeichen der Solidarität mit der israelischen Bevölkerung.
Kommt das Signal an? "Es ist hervorragend, dass der Bundespräsident hierhergekommen ist", sagt Tamar Landau. Die 90-Jährige wurde in Oberschlesien geboren, überlebte als Jugendliche zwei Konzentrationslager und einen wochenlangen Todesmarsch und wurde am 15. April 1945 von britischen Soldaten aus dem KZ Bergen-Belsen befreit. "Auf einem der Lkw stand damals ein britischer Offizier, der rief laut: ‘Juden! Juden‘ Es leben noch Juden!‘ Er war selbst Jude. Seine Worte habe ich heute noch in den Ohren", berichtet sie. Dem Bundespräsidenten rechnet sie es hoch an, dass er sich seit Jahren für gute Beziehungen zwischen Israel und Deutschland einsetzt und dabei immer wieder an die Vergangenheit erinnert. "Man muss erzählen, was damals passiert ist, aber man kann nicht das ganze Leben lang Hass mit sich herumtragen", sagt sie. "Was wirklich zählt, ist Versöhnung. Dafür müssen wir jeden Tag kämpfen. Deshalb ist es so gut, dass Herr Steinmeier hier ist."
So wird das nichts
Der politische Betrieb normalisiert sich, und auch der Wahlkampf nimmt Fahrt auf. Er wird härter – aber die drei Kanzlerkandidaten spüren dies in unterschiedlichem Maße. Während SPD-Mann Olaf Scholz um jede Minute Aufmerksamkeit kämpft und der CDU-Vorsitzende Armin Laschet virtuell durch die Kreisverbände tourt, findet sich Grünen-Chefin Annalena Baerbock inmitten eines Orkans wieder. Nur gut zwei Monate ist es her, dass sie strahlend vor die Kameras trat und sich von ihrem Co-Chef Robert Habeck zur ersten Kanzlerkandidatin in der Geschichte der Partei ausrufen ließ. Die Grünen schwebten von einem Umfragehoch zum nächsten, in der Parteizentrale wappnete man sich für die Übernahme der Regierungszentrale. Linksliberale Medien freuten sich auf eine grün-schwarze Bundesregierung und sezierten genüsslich die Machtkämpfe um den CDU-Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur der Union. Dass sich am Ende der gemütliche Rheinländer Armin Laschet durchsetzte, empfanden viele Kommentatoren geradezu als höhere Fügung: Nach 16 Jahren Merkel mit vielen überwundenen Krisen, aber auch vielen verbummelten Aufgaben sei nun endlich der Weg frei für eine progressive Führung, die beim Klimaschutz entschlossen die Weichen stellt, dabei aber von der Union vor allzu radikalen Schritten bewahrt wird. So geistert der Traum seit Monaten durch die politischen Salons der Hauptstadt.
Ausgeträumt. Zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl zeichnet sich ab: Aus den grünen Kanzlerinnenhoffnungen wird wohl nichts. Dabei muss Armin Laschets Truppe gegenwärtig nicht viel mehr tun als abzuwarten. Sei es Selbstbesoffenheit oder Unprofessionalität: Die Grünen sind drauf und dran, sich selbst zu zerlegen; sie begehen einen Stil-, Planungs- und Kommunikationsfehler nach dem anderen. Zwischen dem Frust über das deutsche EM-Aus und der Sorge vor Corona-Delta donnerten gestern die Schlagzeilen über den Plagiatsvorwurf gegen Frau Baerbock durch die Medienwelt. Die Parteistrategen der Grünen schossen mit schwerem Geschütz zurück, witterten einen "Rufmord" und ließen den Promi-Anwalt Christian Schertz juristische Nebelkerzen werfen. Feuer und Gegenfeuer: So schwillt der Chor der gegenseitigen Vorwürfe zum Getöse an. Die Gelassenheit und Souveränität, die es eben auch für ein hohes Staatsamt braucht, sucht man vergebens.
Es ist stets ratsam, sich von der Aufregung der Boulevardmedien nicht anstecken zu lassen, aber selbst mit nüchternem Blick verfestigt sich der Eindruck einer Partei in Panik. Jahrelang haben sich die grünen Parteistrategen um den Bundesgeschäftsführer Michael Kellner auf die angestrebte Machtübernahme vorbereitet, haben ihren parteiinternen Dauerzwist zwischen Realos und Fundis befriedet, haben die Basisarbeit in den Ortsvereinen professionalisiert, haben ihre Kommunikation und Pressearbeit generalstabsmäßig organisiert. Die Kür der Kanzlerkandidatin gelang weitgehend reibungslos, das Duo Baerbock/Habeck verbreitete Harmonie und Elan, überambitionierte Anträge aus der Parteibasis wurden auf dem jüngsten Parteitag abgebügelt. Alles schien bereit für einen fulminanten Wahlkampf, mehr Rückenwind ging eigentlich nicht.
Doch dann stolperte Frau Baerbock von einer Panne in die nächste. Sie vergaß, fünfstellige Verdienste an die Bundestagsverwaltung zu melden. Sie hübschte ihren Lebenslauf auf. Und nun kommt auch noch das Buch ins Gerede, das ihr eine intellektuelle Aura verleihen sollte. Nein, es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, die formalen Vorgaben genügen muss. Ja, die beanstandeten Passagen sind nach allem, was man bisher weiß, überschaubar. Trotzdem treffen die Vorwürfe hart. Zu offensichtlich sind die Ähnlichkeiten mit anderen Publikationen (siehe hier). Geschrieben hat das Buch zum Teil ein Co-Autor, aber Baerbocks Name steht auf dem Cover. Sie schmückt sich mit dem Werk. Sie trägt die Verantwortung.
Sinn und Zweck eines Wahlkampfs ist, dass sich die Bevölkerung ein Bild machen kann. Erstens von den politischen Konzepten (Überblicke über die Pläne von CDU/CSU finden Sie hier, von den Grünen hier, von der SPD hier von der FDP hier, von der Linkspartei hier und von der AfD hier. Zweitens von den Spitzenkandidaten. Sie sind es, die die Ideen umsetzen und die Geschicke des Landes lenken wollen. An ihre fachlichen, strategischen und persönlichen Kompetenzen werden höchste Maßstäbe angelegt. Wer ins Kanzleramt will, muss sich vorher von der Öffentlichkeit durchleuchten lassen, und das ist richtig so. Die Wähler haben einen Anspruch darauf, die Kandidaten von allen Seiten kennenzulernen, sowohl den hellen als auch den dunklen. Und sie können erwarten, dass die Bewerber um ein Staatsamt ihre ganze Kraft und ihr Geschick investieren, um möglichst viele Menschen zu überzeugen. Dass sie sich auch dann bewähren, wenn ihnen der Wind ins Gesicht bläst.
Auch in Armin Laschets politischem Werdegang gibt es Merkwürdigkeiten. Der Lebenslauf des Unionskanzlerkandidaten enthielt ebenfalls Ungereimtheiten. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wiederum kleben die Skandale um den Cum-Ex-Steuerbetrug und den Wirecard-Betrug am Fuß. Bei beiden geht es um Millionen Euro. Bei Frau Baerbock geht es um die Glaubwürdigkeit.
Und das merkt man ihr an. Die grüne Spitzenkandidatin ist erkennbar verunsichert. Das ist verständlich, wenn man berücksichtigt, wie heftig sie attackiert wird. Facebook, Twitter und Co. sind voll von Gehässigkeiten, Verleumdungen und Bosheiten gegen sie. Die geschmacklose Kampagne der Lobbyorganisation INSM hat gezeigt, wie skrupellos ihre Gegner vorgehen. Aber diese Attacken sind nicht der Grund für die Probleme der Grünen. Der Grund sind ihre eigenen Fehler und die Art und Weise, wie sie damit umgehen. Deshalb zerbröselt ihr Umfrageerfolg, während die Union zulegt. Das macht die grünen Wahlkämpfer noch nervöser, dünnhäutiger, hektischer. Hopplahopp haben sie vor zwei Wochen einen PR-Manager verpflichtet, der Frau Baerbocks Image aufpolieren soll.
Ob das hilft? Es sind noch zwölf Wochen bis zur Wahl. Gegenwärtig hinterlassen die Grünen den Eindruck eines Stabhochspringers, der nach langem Anlauf ganz hoch hinaus will, aber dem im letzten Moment die Latte reißt. Und einer Spitzenkandidatin, die die hochgesteckten Erwartungen an ihre Person nicht erfüllen kann.
100 Jahre Propaganda
Wenn Staats- und Parteichef Xi Jinping heute seine Rede zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas hält, spart er ein paar Themen sicher aus. Die niedergeschossenen Studentenproteste von 1989 dürften ebenso wenig Erwähnung finden wie die Unterdrückung der Uiguren.
Eher schon könnte es dem Präsidenten gefallen, die Landung dreier Astronauten auf einer im Bau befindlichen Raumstation zu preisen: Seht her, auch im All sind wir jetzt Supermacht – das wäre eine Botschaft ganz im Sinne Xis, der als mächtigster Führer seit Mao Tsetung gilt.
Während sich die Partei mit allem erdenklichen Propaganda-Pomp selbst feiert, begeht die frühere britische Kronkolonie Hongkong heute den 24. Jahrestag der Rückgabe an China. Zum ersten Mal jährt sich auch das Inkrafttreten des umstrittenen Sicherheitsgesetzes, das Peking nach Dauerprotesten in Hongkong erlassen hatte, um die Sonderverwaltungsregion zu unterwerfen. Demonstrationen sind heute natürlich nicht erlaubt. Was richtig oder falsch ist, bestimmt in China allein Herr Xi. Selbst wenn er seinen Untertanen ein X für ein U vormacht.
Ein Denkmal für Diana
Ihr Unfalltod in einem Tunnel von Paris, auf der Flucht vor Paparazzi, erschütterte die britische Monarchie: Am 31. August 1997 starb Prinzessin Diana, die heute 60 Jahre alt geworden wäre. Während die Queen derzeit auf ihrer traditionellen Schottland-Reise weilt, wollen Dianas Söhne ihrer Mutter mit einer gemeinsamen Zeremonie in London gedenken: William und Harry haben eine Statue von Diana in Auftrag gegeben, die heute im Park des Kensington-Palasts enthüllt wird. Ob das auch eine Gelegenheit ist, den Bruderzwist beizulegen? Ihre Reden wollen die Prinzen getrennt halten.
Was lesen?
Er war der Chefplaner des Irakkrieges von George W. Bush und redete das Blutbad bis zuletzt schön: Wenige Politiker haben so viel Unheil über den Nahen Osten gebracht wie der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Jetzt ist er im Alter von 88 Jahren gestorben. Unser Kolumnist Gerhard Spörl hat ihm einen Nachruf gewidmet.
Die Messermorde von Würzburg haben eine Debatte über Täterprofile ausgelöst. "Wir haben es mit einem neuen Phänomen zu tun, dass psychisch Kranke sich selbst radikalisieren", erklärt der Islamexperte Ahmad Mansour im Gespräch mit Watson.de.
Was amüsiert mich?
Wie hieß es anno 2002? "Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Und wo nach dem Abzug aus Afghanistan?
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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