Was heute wichtig ist Trumps heimlicher Joker
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Erst Paris, dann Nizza, jetzt Wien: Wieder ist eine europäische Großstadt von einem Anschlag erschüttert worden. In der Nähe einer Synagoge schossen Bewaffnete gestern Abend auf Passanten, rannten mit Gewehren durch die Gassen. Am letzten Abend vor dem Lockdown waren viele Menschen noch einmal ausgegangen. Es gab mehrere Tote und Verletzte. Die Eilmeldungen überschlugen sich, Reporter der "Kronenzeitung" berichteten im Minutentakt, im ORF moderierte Armin Wolf ruhig und präzise. Ein Alptraum für die Einwohner von Österreichs Hauptstadt, aber auch für alle Europäer: Der Terror kann überall zuschlagen. Meine Kollegen Daniel Fersch, David Ruch, Lars Wienand und Anna-Lena Janzen haben die Ereignisse für Sie zusammengefasst.
Nächstes Thema, anderer Ort: Auf dem Weg zum Bäcker schlenderte ich gestern durch eine Einkaufsstraße. Fast alle Passanten trugen eine Maske, und niemandem schien das körperliche Schmerzen zu bereiten. Lockdown eben, muss wohl sein, also macht man mit. Schüler ab der fünften Klasse sollen nun auch im Unterricht Mund und Nase bedecken. Gab mancherorts Gemaule, aber die meisten sind einsichtig. Überall in Europa steigen die Corona-Infektionszahlen, überall hat man verstanden, dass Prävention das wichtigste Mittel gegen die Seuche ist.
Embed
Überall? Nicht ganz. Man sollte meinen, es sei ein gesellschaftlicher Konsens, alles zu tun, um sich und andere vor dem Virus zu schützen. Doch seltsamerweise gibt es immer noch unbelehrbare Gegner der Hygieneregeln. Und einige belassen es nicht bei Kritik, die ja legitim wäre. Sie widersetzen sich den Vorschriften oder torpedieren sie. Da sind die Verschwörungsjünger, die mit rationalen Argumenten nicht mehr zu erreichen sind. Da sind die Verdrossenen, die eh gegen alles sind, was von der Regierung kommt. Da sind die Esoteriker, die Krankheiten für körperliche Prüfungen halten. Da sind manche Anthroposophen, die um das Seelenheil von Kindern bangen, wenn diese eine Maske aufsetzen sollen. Die Befindlichkeiten all dieser Leute wären verkraftbar, würden sie ihre Renitenz nicht auf Kosten ihrer Mitmenschen ausleben. Mehrere Schulen berichten von Eltern, die Lehrer beschimpften und diffamierten. Auch die AfD agitiert gegen die Maskenpflicht. Beinahe täglich bekommen es Polizisten mit wütenden Bürgern zu tun, die sich in Bus, Bahn oder Geschäft partout nicht an die Hygieneregeln halten wollen. Und im Internet keifen die Ewigempörten.
Gestern habe ich Ihnen an dieser Stelle einen Artikel empfohlen, der erklärt, was geschieht, falls die Intensivstationen überfüllt sind und nicht mehr alle Patienten behandelt werden können. Daraufhin erreichten mich mehrere Zuschriften von Lesern, die eine scharfe Meinung vertreten: Wer das Leben anderer vorsätzlich und leichtfertig gefährde, habe seinen Anspruch auf Hilfe verwirkt. Wer sich also den Corona-Schutzregeln widersetze und andere dazu anstifte, solle keinen Krankenhausplatz erhalten, falls er selbst gravierend an Covid-19 erkrankt. Vermutlich fände diese Forderung viele Unterstützer, stellte man sie zur Abstimmung.
Aber so funktioniert unsere Demokratie nicht, der Staat hat die Pflicht, auch seine Gegner vor Gefahren zu schützen. Er kann Rechtsbrecher bestrafen, aber er kann nicht ihre Gesundheit geringer schätzen als diejenige gesetzestreuer Bürger. Das ist richtig so. Trotzdem sollten sich die Corona-Verharmloser mal selbst eine Frage stellen: Was würden sie wohl denken, falls ihr Kreislauf nach einer Corona-Erkrankung zusammenbräche und eine Beatmungsmaschine ihre letzte Rettung wäre? Was würden sie denken, falls es dann leider keinen Platz auf einer Intensivstation für sie gäbe? Würden sie dann immer noch Zeter und Mordio schreien, weil wir uns jetzt alle ein paar Monate lang ein Stück Stoff vors Gesicht spannen müssen? Ehrlich, das würde mich interessieren.
WAS STEHT AN?
Falls Sie zu jenen zwei Dritteln der Bevölkerung zählen, die ein gesteigertes Interesse an der amerikanischen Präsidentschaftswahl haben, sind Sie in den vergangenen Tagen gut bedient worden. Kaum ein Radio- oder Fernsehsender, kaum eine Zeitung und erst recht keine Nachrichten-Website, die nicht ausführlich über den Wahlkampf berichtet hat. Heute ist es soweit: Alle stimmberechtigten Amerikaner, die noch nicht vorab gewählt haben, werden an die Urnen gerufen, und das sind trotz aller Winkelzüge, mit denen die republikanische Partei Schwarze und andere Minderheiten fernzuhalten versucht, immer noch rund 100 Millionen. Wenn Sie die Berichterstattung verfolgt haben, wissen Sie, was auf dem Spiel steht, ich muss das hier nicht noch einmal wiederholen. Sie wissen dann ebenfalls, dass im Falle eines knappen Ausgangs mit einer juristischen Schlacht, politischem Chaos und womöglich auch gewalttätigen Unruhen zu rechnen ist. Rechte Milizen bereiten sich auf Straßenkämpfe vor, aber auch Antifa-Gruppen mobilisieren ihre Leute. Im besten Fall gewinnt Joe Biden mit deutlichem Vorsprung und kann seinen Sieg morgen früh unserer Zeit ausrufen. Doch sollte man Donald Trump und seine Anhänger – vor allem jene, die sich in Umfragen nicht zu ihm bekennen, ihn aber trotzdem wählen – nicht unterschätzen. Diese "heimliche Fangemeinde" könnte eine größere Rolle spielen, als es mancher vorschnelle Kommentator erwartet: als Trumps Joker.
So oder so: Es wird eine spannende Wahlnacht, und wir haben keine Mühen gescheut, um Sie detailliert zu informieren. In der Nacht zu morgen lesen Sie in unserem Newsblog alle Nachrichten, dazu liefern wir Bilder und Beobachtungen. Sobald sich erste Ergebnisse abzeichnen, versorgen wir Sie mit Analysen und Hintergründen. Um 7.30 Uhr beginnt unsere Video-Livesendung mit meinen Kollegen Philip Friedrichs, Sven Böll, Hanna Klein, Sandra Sperling und Lukas Martin. Unser Korrespondent Fabian Reinbold berichtet live aus Washington. Die politische Einordnung liefern unsere Studiogäste: Grünen-Chefin Annalena Baerbock, SPD-Chef Norbert Walter-Borjans, die CDU-Chefanwärter Friedrich Merz und Norbert Röttgen, FDP-Chef Christian Lindner, die Aktivistin Sarah Lenti und die Amerika-Expertin Constanze Stelzenmüller. Sie alle werden live auf t-online analysieren und kommentieren.
Drei Gedanken möchte ich Ihnen aber schon heute Morgen mitgeben:
Erstens: Selbst wenn Herr Biden gewinnt, wird Amerika danach nicht befriedet sein. Vier Trump-Jahre haben das Land aufgewühlt und die gesellschaftlichen Gräben vertieft. Die beiden Parteien stehen sich nicht als Kontrahenten, sondern als Feinde gegenüber. Beide Seiten werden weiter ihre Schlachten schlagen, da hätte es selbst ein Präsident schwer, der sich die Versöhnung auf die Fahnen schreibt.
Zweitens: Die Gründe für den amerikanischen Aufruhr sind keinesfalls nur bei dem Rambo im Weißen Haus zu suchen. Auch seine Vorgänger haben fatale Fehler begangen. Bill Clinton liberalisierte die Finanzmärkte und bereitete so der Schulden- und Finanzkrise den Boden. George W. Bush stürzte das Land in sündhaft teure Kriegsabenteuer und verspielte Amerikas Glaubwürdigkeit. Barack Obama ignorierte die Probleme der Arbeiter in den krisengeschüttelten Industrie-Bundesstaaten. Die Folgen sind vielerorts in Amerika zu sehen: aufgegebene Dörfer, heruntergekommene Innenstädte, bröckelnde Schulen, Brücken und Fabriken, drogenabhängige Familien, hungernde Kinder, überschuldete Väter, verbitterte Mütter. Die Infrastruktur ist ähnlich schlecht wie das Bildungssystem, und dem Staat fehlt es an den Mitteln, das zu ändern, weil die Reichen jahrelang mit Steuersenkungen beschenkt wurden. All das zu ändern wird viel Zeit brauchen. Mit Sicherheit mehr als eine vierjährige Amtsperiode.
Drittens: Wir können uns ein Beispiel an den USA nehmen, im Guten wie im Schlechten. Der unerschütterliche Optimismus, die anpackende Selfmade-Mentalität und die vorurteilslose Nettigkeit, die viele Amerikaner auszeichnen, täten auch hierzulande manchen Zeitgenossen gut. Zugleich sollten wir uns davor hüten, unsere Demokratie ebenso von Profitgeiern, Extremisten und Narzissten untergraben zu lassen, wie es im Land der unbegrenzten Extreme geschehen ist. Und wir sollten nicht vergessen, dass ein Staat nicht nur aus der hippen Szene in den Großstädten und der politischen Elite im Regierungsviertel besteht. Wer die Provinz vernachlässigt, der riskiert den gesellschaftlichen Frieden. Dazu passt eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, über die ich in der "FAZ" gelesen habe. Der Autor Matthias Diermeier hat herausgefunden, dass Populisten wie die AfD an bestimmten Orten besonders viel Zulauf finden: in mittelgroßen Städten, aus denen viele Menschen abgewandert sind, weil die öffentliche Infrastruktur ausgedünnt worden ist. Also: schlechte Bus-, Bahn- und Internetverbindung, geschlossene Schulen, Apotheken und Kneipen, kein Krankenhaus in der Nähe. Von solchen Orten gibt es auch in Deutschland inzwischen eine ganze Menge, trotz Milliardenförderung für den ländlichen Raum. Wo es der Staat aufgibt, die Rahmenbedingungen für ein attraktives Leben zu schaffen, gedeihen das Ressentiment und die Wut. Amerika ist uns bei dieser Entwicklung wie in allen Dingen voraus. Aber sie kann auch uns ereilen. Das sollten wir vermeiden, wenn wir nicht irgendwann einen Typen wie Trump im Kanzleramt sehen wollen.
Ob nun Trump gewinnt oder Biden, eines passiert in der kommenden Nacht auf jeden Fall: Die USA verlassen offiziell das internationale Klimaabkommen von Paris. Ein verheerendes Signal. Irgendwann werden sie es bereuen. Und dann zurückkehren.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) informiert gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut und Intensivmedizinern über die aktuelle Corona-Lage.
Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag in Halle werden die letzten Zeugen verhört. Heute erwartet das Gericht das psychiatrische Gutachten über den Angeklagten, davon hängt ab, ob er schuldfähig ist.
Der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, stellt das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum CDU-Parteivorsitz vor. Dürfte wohl auf Friedrich Merz hinauslaufen, ist aber bisher nur die Meinung des CDU-Nachwuchses.
WAS LESEN?
Es ist leicht, Donald Trump die Schuld am Niedergang der USA zu geben. Dabei war das politische System schon vor ihm auf Lug und Trug gebaut, er hat es nur auf die Spitze getrieben. Unser Kolumnist Gerhard Spörl, der selbst jahrelang aus Amerika berichtet hat, erklärt Ihnen die Hintergründe. Sehr lesenswert.
In den Umfragen liegt Donald Trump hinten, deshalb hat er in einem hektischen Wahlkampf-Endspurt versucht, auf den letzten Metern Boden gutzumachen. Unser Korrespondent Fabian Reinbold war dabei.
Immer mehr Betten in deutschen Kliniken sind mit Covid-19-Patienten belegt. Noch gibt es genügend Kapazitäten – doch das Pflegepersonal ist vielerorts schon jetzt am Limit. Müssen Mitarbeiter in Krankenhäusern deshalb bald auch dann arbeiten, wenn sie selbst mit Corona infiziert sind? Meine Kolleginnen Melanie Weiner und Sandra Simonsen haben nachgefragt.
Warum gibt es in Frankreich immer wieder islamistische Anschläge? Bei der Ursachensuche schlägt die Stunde der Vereinfacher, kommentiert Christiane Florin im "Deutschlandfunk". Dabei ist genau jetzt Differenzierung gefragt.
Schrieb ich gestern, der Kaukasuskrieg komme in den meisten Medien kaum vor? Die "Süddeutsche Zeitung" ist eine Ausnahme. Wenn Sie den Konflikt und seine geopolitischen Hintergründe verstehen wollen, sollten Sie diese beiden Artikel lesen: hier und hier.
WAS AMÜSIERT MICH?
Alle Welt macht sich in diesen Tagen über den Mann lustig, der heute womöglich abgewählt wird. Ich erspare Ihnen den 95. Witz über Herrn Trump und nehme Sie stattdessen auf eine kurze Tour des Staunens mit.
Ich wünsche Ihnen (und uns allen) heute eine schöne Überraschung.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.