Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Noch nicht mal ein Stück Seife
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Orte gibt es, die man nie vergisst. Die alle Sinne fesseln und sie nicht mehr loslassen. Der Suq von Aleppo war so ein Ort. Stimmengewirr, Gewürzdüfte, Goldfunkeln, Seifentröge und Eselskarren schufen im größten Hallenbasar des Orients in Nordsyrien eine Atmosphäre wie vor Jahrhunderten. Stundenlang konnte man durch die Gassen streunen, hierhin schnuppern und dorthin blicken, niemals gesättigt. Seit den späten neunziger Jahren zog der Ort mich immer wieder in seinen Bann, und jedes Mal entdeckte ich neue Facetten seiner Anmut. Es war ein Leben unter einer Kuppel, in jeder Hinsicht. Im Halbdunkel der Gewölbe ließ sich manches vertrauliche Wort mit kritischen Köpfen wechseln. Damals herrschte noch der alte Assad, später sein Sohn; wer aufmuckte, riskierte sein Leben unter beiden.
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Im Frühjahr 2011 brach der Bürgerkrieg aus, aber die reichen aleppiner Händler ließen sich lange nicht in die Kämpfe hineinziehen, sie fürchteten um ihr Geschäft und ihre Pfründe. Als der junge Assad es immer ärger trieb und die Kaufmannssippen sich schließlich doch aufrafften, dem Menschenschinder die Stirn zu bieten, wähnten viele den Krieg zugunsten der Opposition entschieden. Es kam anders. Die meisten Beobachter, auch im Westen, unterschätzten die Skrupellosigkeit der Staatsmafia, die Kampfkraft ihrer iranischen Söldner und vor allem die Kaltblütigkeit des Kremlchefs und seiner Luftwaffe. Die mähte alles nieder, was Beine oder ein Dach hatte, zurück blieben riesige Friedhöfe, die früher Städte gewesen waren. Auch große Teile Aleppos verwandelten sich in einen Friedhof.
Ende September 2012 brach während der Kämpfe ein Großbrand aus, binnen Stunden fraß der Feuersturm die jahrhundertealte Anmut der Geschäfte, Gewölbe und Gassen. Siebeneinhalb Jahre und Zigtausende Tote später herrscht in Aleppo wieder die Assad-Mafia. In der Luft brummen russische Helikopter, in der Stadt wird nicht mehr geschossen, aber es ist eine bleierne Ruhe. Wer den Mund aufmacht, dem wird er schnell gestopft. Wer das nicht hinnehmen will oder aus anderen Gründen um Leib und Leben fürchtet, der ist in die 50 Kilometer entfernte Enklave Idlib geflüchtet. Dort haben sich die verbliebenen Rebellen verschanzt; viele von ihnen kämpfen wohl eher aus Verzweiflung denn aus Überzeugung auf Seiten der Dschihadisten. Dazwischen hausen zwei Millionen Flüchtlinge aus Aleppo und anderen syrischen Städten in ausgebombten Häusern, Zelten oder unter Planen. Auch viele Alte, Kinder, Frauen und Kranke sind darunter. Die Lage ist dramatisch, aber die Welt nimmt seit Beginn der Corona-Krise keine Notiz mehr davon. Zwar haben sich Russland und die Türkei unlängst auf eine Waffenruhe geeinigt. Aber so gut wie jeder in der Stadt weiß, dass sie nur so lange halten wird, bis Assads Todesschwadronen und ihre russischen Komplizen die Gunst der Stunde nutzen, um die letzte Bastion der Opposition zu schleifen.
Und nun dringt auch noch das Coronavirus in die Lager der Geschwächten vor. Das internationale Rote Kreuz warnt vor einem der schwersten Ausbrüche weltweit, nur eines der 16 Krankenhäuser ist voll funktionsfähig. Es fehlt an Beatmungsgeräten und Masken, viele Menschen besitzen noch nicht einmal ein Stück Seife – ausgerechnet in der Region, in der die Seife vor 1.200 Jahren erfunden wurde. Viele Hilfsorganisationen haben die Enklave verlassen, aber nicht alle. Der Verein Syrienhilfe versorgt täglich 2.000 Flüchtlinge mit einer warmen Mahlzeit. An 200.000 weitere hat er Seife und Hygienepakete verteilt. Die jüngste Lieferung aus Berlin enthielt auch einige Kuscheltiere, über die Kinder sich freuten. Hilfsprojekte wie dieses retten Menschenleben. Aber sie können nur weitermachen, wenn sie Spenden bekommen. Das ist nicht schwer. Ich meine, wir dürfen Idlib nicht vergessen.
Die Kulturszene ist hart von der Corona-Krise getroffen. Noch immer sind Theater, Kinos und viele Museen geschlossen. Doch manche Künstler übertragen ihre Werke ins Web. Das mag blutleer klingen, ist es aber nicht. Wenn Sie sich ein Bild von einer besonderen Kunstform machen wollen, dann habe ich einen Tipp für Sie: Der Fotojournalist und Autor Lutz Jäkel zeigt am Sonntagabend um 20 Uhr im Internet seine Live-Reportage "Syrien. Erinnerungen an ein Land ohne Krieg." Ich habe sie schon gesehen und kann sie wärmstens empfehlen.
WAS STEHT AN?
Ein Wunsch vereint Arbeitnehmer und Arbeitgeber in diesen Tagen genauso innig wie Eltern und Kinder: Es möge doch bitte, bitte wieder losgehen mit dem normalen Betrieb in Schulen und Kitas. Nicht nur stundenweise und gelegentlich, sondern geregelt und ganztags. Denn die Betreuung zu Hause ist mit effizienter Arbeit und erfolgreichem Lernen nur bedingt vereinbar. Wer einmal versucht hat, während einer Videokonferenz beim Lösen einer kniffligen Rechenaufgabe zu helfen, der weiß, wovon ich rede. Entsprechend erwartungsfroh können wir auf ein Positionspapier schauen, das von einem Bündnis zahlreicher Verbände veröffentlicht worden ist. Die Autoren sind sich einig: Kitas und Grundschulen schnell wieder öffnen! Und zwar so richtig: "Ohne massive Einschränkungen durch Kleinstgruppenbildung und Barriereschutzmaßnahmen wie Abstandswahrung und Maskentragen" soll es wieder losgehen, möglichst sofort. Nur vermischen sollen sich die Gruppen nicht.
Der Grund für die überraschend weitgehende Forderung, die alle Warnungen vor neuen Viren-Hotspots in den Wind schlägt: Die Verbände halten es nach aktueller Datenlage für hinreichend erwiesen, dass das Übertragungsrisiko durch Kinder gering sei. Dafür sprächen "zahlreiche Erkenntnisse", die sich zu einem "schlüssigen Bild" zusammenfügen und nahelegen, dass Schul- und Kitaschließungen die Ausbreitung von Covid-19 kaum beeinflussen. Damit das nicht nur so in den leeren Raum hinein behauptet wird, senden die Autoren ihrer These ein ganzes Feuerwerk an Argumenten und Studien hinterher. Da ist er also, der Schlüssel zur Rückkehr ins normale Leben! Wir können also den Schampus und in Kürze auch die Bürotür wieder aufma... Oh, Moment.
Denn da stimmt etwas nicht. Je länger man den imposanten Argumentationsteil des hochgehandelten Positionspapiers unter die Lupe nimmt, desto klarer schält sich heraus, dass hier nicht der aktuelle Kenntnisstand unvoreingenommen bewertet wird, wie es wissenschaftlichen Standards entspräche. Stattdessen wird die Datenlage auf das gewünschte Ergebnis hin zurechtinterpretiert, dass sich die Balken nur so biegen:
- Es finden sich dort tatsächlich Erkenntnisse, die begründete Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Übertragung des Coronavirus durch Kinder eine nennenswerte Rolle spielt.
- Es finden sich dort außerdem Erkenntnisse, die zur Argumentation bei näherer Betrachtung nichts beitragen und lediglich den Anschein erwecken, die Position der Verbände zu stützen.
- Zu guter Letzt tauchen auch jene Studien auf, die den Autoren inhaltlich nicht in den Kram passen und akribisch zerpflückt werden – während das, was dem gewünschten Endergebnis zugutekommt, nicht einmal einer oberflächlichen Kritik unterzogen wird.
Anhand zweier Studien lässt sich das Stückwerk veranschaulichen. Eine Forschergruppe an der Berliner Charité unter Leitung des Coronavirus-Experten Christian Drosten hat im Rachen von Kindern ungefähr dieselbe Viruslast festgestellt wie bei Erwachsenen. Drosten & Co. leiten daraus ab, dass eine Übertragung durch Kinder möglich sein könne (weil die Viren aus dem Rachen sich beim Atmen, Sprechen und Herumtoben auf den Weg zum nächsten Infektionsopfer machen). Dieses Studienergebnis kommt ganz schön ungelegen, wenn man gerade die Öffnung der Kitas und Schulen fordert – entsprechend angefasst äußern die Verbände Zweifel daran: Sie verweisen darauf, dass die Vorauswahl der untersuchten Kinder der Berliner Studie eine Schlagseite gebe. Denn die meisten dieser Kinder sind getestet worden, weil sich bei ihnen Krankheitssymptome zeigten. Das ist nicht der Regelfall: Nur wenige Kinder erkranken sichtbar an Covid-19. Bei den wenigen, die krank geworden sind, könnten sich im Rachen ja möglicherweise mehr Viren tummeln als bei all den anderen, die trotz Infektion unbeeinträchtigt durch die Gegend toben. Die hätten dann vielleicht gar nicht so viele Viren zu verteilen. Ein nachvollziehbarer Einwand.
Denselben kritischen Scharfsinn darf man sich auch wünschen, wenn die Autoren andere Ergebnisse referieren, beispielsweise aus den Niederlanden. Dort haben 40 niedergelassene Ärzte statistisch Patienten erfasst, die sich auf Covid-19 testen ließen. Unter jenen mit einem positiven Befund war nicht ein einziges Kind. Was an der Charité gilt, ist hier genauso wahr: Die Stichprobe hat Schlagseite. Kinder zeigen selten Symptome – und wenn doch, dann meistens nur leichte. Solche Kinder landen nicht beim Arzt. Deshalb werden Ärzte die Kleinen nicht in ihrer Statistik wiederfinden. Ob sich Kinder selten oder häufig infizieren, erfahren wir so also nicht.
Auf diese Weise werden selbst bemerkenswerte Beobachtungen zur bloßen Untermauerung einer vorgefassten Position verheizt. In Frankreich etwa hatte ein neunjähriges Kind, das nur leicht an Covid-19 kränkelte, Kontakt zu sage und schreibe 174 Personen – steckte aber keine einzige an. Kann man daraus also den Schluss ziehen, dass von Kindern keinerlei Infektionsgefahr ausgeht? Von wegen. Denn nicht jeder Infizierte steckt gleich viele Menschen an. Inzwischen häufen sich die Anzeichen, dass ein erheblicher Teil der Infizierten das Virus gar nicht weitergibt, einige wenige dafür aber umso ansteckender sind. In diesem Licht erscheint das französische Wunderkind noch immer als aufschlussreicher Fall – aber für eine ganz andere Hypothese.
Die Frage jedenfalls, ob Kinder zur Verbreitung von Covid-19 beitragen oder nicht, können wir noch nicht als gelöst zu den Akten legen. Dafür sind wir um ein Paradebeispiel reicher, wie man mit aktueller Forschung auf keinen Fall umgehen sollte. Wissenschaft ist kein Selbstbedienungsladen, wo man sich aus den Regalen nimmt, was einem am besten schmeckt. Für gebeutelte Eltern und hoffnungsfrohe Arbeitnehmer war der Schampus zum Anstoßen diesmal also leider nicht im Einkaufswagen.
In Peking hat die Jahrestagung des chinesischen Volkskongresses begonnen. Dabei sollen heute nicht nur Hilfen für die angeschlagene Wirtschaft beschlossen werden, sondern auch ein "Sicherheitsgesetz" für Hongkong, das Proteste der demokratischen Opposition als "Terrorismus" brandmarkt. Das könnte zu neuen Massendemonstrationen führen – oder zu ihrer blutigen Niederschlagung.
WAS LESEN UND ANSCHAUEN?
Am Mittwochabend diskutierte sie bei "Maischberger", heute schreibt sie wieder für Sie: Unsere t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor beleuchtet das Hoffnungsvolle an der gegenwärtigen Krise. Das Bundeskabinett kommt auf Zack, wichtige Berufe erhalten endlich Wertschätzung und Populisten werden entzaubert.
Die Corona-Krise verändert den Globus, schon ist von einer neuen Weltordnung die Rede. Doch die nahm ihren Anfang schon lange vor dem Virusschock. Unser Außenpolitikexperte Patrick Diekmann erklärt Ihnen die Koordinaten des neuen Machtkampfs.
Die schrittweise Rückkehr in den Alltag darf nicht über die Risiken des Virus hinwegtäuschen, meint der Lungenfacharzt Jan Heyckendorf. Im Gespräch mit meiner Kollegin Nicole Sagener erklärt er, warum auch Menschen ohne Vorerkrankungen Covid-19 keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen sollten.
Die WHO, Bill Gates, Jens Spahn, Impfungen, Überwachung, Diktatur: Wann wird aus einer kritischen Meinung ein Verschwörungsmythos? Mein Kollege Martin Trotz hat es sich von zwei führenden deutschen Forschern erklären lassen. Wenn Sie dieses Video gesehen haben, kann Ihnen keiner mehr etwas vormachen.
WAS AMÜSIERT MICH?
ENTHÜLLT! DIE GEHEIMEN PLÄNE VON SCHOLZ UND MERKEL!!
Ich wünsche Ihnen einen weitsichtigen Tag. Wenn Sie den Tagesanbruch abonniert haben, bekommen Sie morgen die Wochenendausgabe geschickt. Diesmal ist auch unser Amerika-Korrespondent Fabian Reinbold mit im Studio.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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