Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Schluss mit lustig
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Monatelang war Stillstand – dann ging auf einmal alles ganz schnell.
Gestern um 11.34 Uhr und nach ewig langen Verhandlungen in den letzten Tagen, Wochen und Monaten gab EU-Kommissionspräsident Jean-Claude-Juncker via Twitter bekannt: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal – wir haben einen! Es ist ein faires und ausgewogenes Abkommen für die EU und das Vereinigte Königreich und ein Beweis für unser Engagement, Lösungen zu finden."
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Eine Minute später setzte Großbritanniens Premierminister Boris Johnson seinen Tweet ab: "Wir haben einen großartigen neuen Deal, der uns die Kontrolle zurückgibt – jetzt sollte das Parlament den Brexit am Samstag besiegeln, damit wir uns anderen Prioritäten wie den Lebenshaltungskosten, dem nationalen Gesundheitssystem, Gewaltverbrechen und unserer Umwelt widmen können."
Die EU und Großbritannien haben sich geeinigt und damit einen nie enden wollenden Brexit-Streit beigelegt. Am Abend stimmten die anderen 27-EU-Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel dem Deal einstimmig zu. Ein Riesenschritt in Richtung geordneter Brexit.
Was bei Johnson und seinem Tweet allerdings wie eine Formalie klingt, wie eine kleine Hürde, die der Premier mit einem Handstreich beiseite räumen kann, um dann flink andere Themen anzupacken, das ist in Wahrheit die nächste gigantische Herausforderung.
Das Lachen und die Erleichterung dürften Johnson schon über Nacht wieder vergangen sein.
Denn das britische Unterhaus entscheidet am Samstag um 11 Uhr, ob dieser Deal in die Tat umgesetzt wird und Großbritannien mit ihm zum 31. Oktober aus der EU ausscheidet. Für Johnson bedeutet das: Schluss mit lustig. Ihm fehlen nämlich derzeit rund 30 Stimmen für eine Mehrheit. Die nordirische Kleinpartei DUP kündigte sofort an, gegen den Deal zu stimmen. Die European Research Group innerhalb der Tory-Partei von Johnson hat versichert, der DUP zu folgen. Johnson bleiben weniger als 30 Stunden, um mindestens 30 Stimmen zu gewinnen. Im Schnitt: jede Stunde eine Stimme.
Was, wenn das Parlament den Deal ablehnt? Juncker kündigte an, dass es keine weitere Verschiebung geben werde. Das kann er zwar gar nicht entscheiden, aber vielleicht hilft es Johnson beim Versuch, das Parlament zu erpressen. Motto: mein Deal oder kein Deal. Johnson betonte mehrfach, dass das Ausscheiden aus der EU zum 31. Oktober für ihn alternativlos sei. Trotz des neuen Gesetzes, das besagt, dass der Premier eine Verschiebung beantragen muss, wenn das Parlament Nein zum Deal sagt. Eine weitere Verschiebung müsste er bei den anderen EU-Staats- und Regierungschefs beantragen, die einstimmig zustimmen müssten. Das wäre nicht selbstverständlich, aber alles andere als unmöglich.
Noch eine nicht unwahrscheinliche Möglichkeit: Das Parlament stimmt dem Deal zu – unter der Bedingung, dass es noch ein zweites Referendum gibt. Das könnte dann den Brexit kippen.
Aber erst mal kommt es jetzt am Samstag zum großen Showdown und der nächsten Etappe in diesem Krimi.
Erst mal rückt der Brexit näher – doch bei all der Erleichterung auf beiden Seiten über die Einigung darf nicht vergessen werden: Gut für Europa und insbesondere Deutschland ist der EU-Austritt damit noch lange nicht, wie Peter Riesbeck analysiert. Er ist für t-online.de in Brüssel, beim EU-Gipfel vor Ort und stellt fest: Mit den Briten verliert Deutschland einen stillen Partner bei zahlreichen Anliegen.
Die EU verliert, Deutschland verliert, Großbritannien auch. Da stellt sich die Frage: Gibt es eigentlich auch Gewinner?
Die Antwort: Ja, und zwar ausgerechnet Boris Johnson. Zumindest bis Samstag. Johnson erlangte eigentlich Berühmtheit durch seine Lügen, faule Tricks und vor allem seine auffallend vielen Niederlagen in einer daran gemessen extrem kurzen Amtszeit. Zunächst holte er sich bei jeder Reise in die Nachbarländer eine blutige Nase beim Versuch, sie auf seine Seite zu ziehen. Sein Antrag auf Neuwahlen wurde abgelehnt. Johnson schickte das Parlament in eine Zwangspause, doch Schottlands höchstes Gericht, der Court of Session in Edinburgh, erklärte diesen Schritt für "nicht rechtmäßig, weil er die Absicht hatte, das Parlament zu behindern". Dann verabschiedete das Parlament noch das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit, den Johnson fest einkalkuliert hatte.
Johnson, der Verlierer. So schien es.
Trotzdem tönte er unentwegt, dass er Großbritannien zum 31. Oktober aus der EU führen werde und dass sich die EU bewegen müsse für einen neuen Deal. Nun hat sich die EU bewegt, Großbritannien noch ein bisschen mehr. Die Hürde am Samstag ist nun gewaltig, aber auch einen neuen Deal mit der EU hätten Johnson zuletzt die wenigsten zugetraut.
Ein geregelter Brexit zum 31. Oktober – er wäre das kleinere Übel für Großbritannien und ein Sieg für Johnson. Der behauptet, ein "goldenes Zeitalter" außerhalb der EU einläuten zu können und "Kontrolle wieder zu gewinnen". In Wahrheit wird Großbritannien ohne die EU natürlich schwächer. Viel schlimmer wäre nach wie vor der No-Deal-Brexit und diese Gefahr ist trotz der neuesten Entwicklung offenbar immer noch nicht gebannt. Johnson jedenfalls scheint weiterhin notfalls lachend ins Verderben rennen zu wollen, sollte das Parlament am Samstag den Deal ablehnen.
Endlich mal eine gute Nachricht aus dem Konflikt in Nordsyrien. Nach Gesprächen mit US-Vizepräsident Mike Pence hat die Türkei gestern Abend überraschend mitgeteilt, ihren Militäreinsatz im Nordosten Syriens fünf Tage lang zu stoppen. Ziel sei, dass die Kämpfer der YPG-Miliz abziehen können. Diese Phase habe bereits begonnen. Nach dem vollständigen Abzug der Kurdenmilizen solle die Offensive ganz beendet werden. Die kurdischen Kräfte erklärten sich bereit, diese Feuerpause zu akzeptieren. Der Kommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Maslum Abdi, verkündete am Abend im kurdischen Fernsehsender Ronahi TV: "Wir werden alles tun, damit die Waffenruhe ein Erfolg wird". Hoffentlich reicht das.
WAS STEHT AN?
Das Attentat von Halle und seine Folgen.
Gestern stellte Bundesinnenminister Horst Seehofer im Bundestag ein Sechs-Punkte-Programm vor, um die Sicherheit in Deutschland nach der Tötung von zwei Menschen und der Planung eines Massakers in einer Synagoge zu verbessern. Zum Plan gehört ein besserer Schutz jüdischer Einrichtungen, mehr Personal der Sicherheitsbehörden. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen geht es um insgesamt gut 700 Stellen. Seehofer will auch eine Meldepflicht von Hass und Hetze im Netz, Vereinsverbote, ein schärferes Waffenrecht und mehr Prävention.
Sechs Punkte sind es bei Seehofer – bei den SPD-Innenministern sind es gleich neun. Laut Redaktionsnetzwerk Deutschland (heute) haben die ein Neun-Punkte-Papier entworfen. Die Inhalte ähneln sich an einigen Stellen. Dazu sollten sich Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren bei bestimmten Onlinespielen einer Identitätsprüfung unterziehen, um nicht "teilweise unkontrolliert mit extremistischen und gewaltverherrlichenden Weltbildern konfrontiert zu werden". Die SPD-Ressortchefs bringen auch Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Hasskriminalität im Netz ins Spiel.
Heute beraten die Innenminister der 16 Bundesländer mit Seehofer (CSU) gemeinsam über die Konsequenzen aus dem Anschlag von Halle. Ob es sechs, neun oder elf Punkte werden: Hauptsache, die Maßnahmen helfen am Ende wirklich, um zu verhindern, dass so eine Schande wie in Halle noch einmal passiert.
Der Bundestag will ab 9 Uhr die Reform der Grundsteuer verabschieden. Dafür ist eine Grundgesetzänderung nötig, die möglich wurde, weil die Koalitionsfraktionen auf Forderungen der FDP eingegangen sind und nun auch die Grünen zustimmen wollen. Damit ist die für eine Grundgesetzänderung nötige Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Abstimmung wohl sicher.
Neun Monate ist CSU-Chef Markus Söder im Amt. Auf einem Parteitag heute und morgen stellt er sich in München zur Wiederwahl. Eine Formsache – und trotzdem spannend. Die Frage ist nämlich, ob er sein Ergebnis aus dem Januar steigern kann. Damals war Söder mit 87,4 Prozent zum Nachfolger von Horst Seehofer gewählt worden, der nach massivem Druck aus der Partei das Vorsitzenden-Amt an seinen langjährigen Rivalen abgeben musste.
Am Sonntag ist – passend zum Wochenende – Faultiertag. Seit 2010 macht der Weltfaultiertag am 20. Oktober auf die zahnarmen Säugetiere und ihre Gefährdung durch die Vernichtung des Regenwaldes in Süd- und Mittelamerika aufmerksam. Warum heißen Faultiere überhaupt Faultiere? Weil sie Energiesparmeister sind, ihr Körper auf Sparflamme läuft und sie bis zu 20 Stunden pro Tag schlafen. Dank ihrer langsamen Verdauung müssen sie auch nur ein Mal pro Woche ihren Platz in luftiger Höhe verlassen – zum Koten am Boden, wie es fachlich korrekt heißt. Pünktlich zum Faultiertag hat es übrigens ein Faultier namens Paula aus dem Bergzoo Halle (Saale) ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft – als ältestes bekanntes Faultier der Welt mit 50 Jahren. Herzlichen Glückwunsch.
DIE GUTE NACHRICHT
Fußball kann Leben retten – auch wenn man gar nicht selbst spielt. Elton John berichtet in seinen neuen Memoiren "Me", wie der britische Klub FC Watford den 72-Jährigen während der "schlimmsten Phase" seines Lebens in den 80er-Jahren gerettet habe. In all den Jahren, in denen er mit "Drogenabhängigkeit, Traurigkeit, gescheiterten Beziehungen, miesen Geschäften, Gerichtsprozessen und endlosem Aufruhr" zu kämpfen gehabt habe, sei Watford, dessen Präsident er damals war, eine "ständige Quelle des Glücks" gewesen.
Während Elton Johns erster Zeit als Vorstandschef schaffte es der Klub von den unteren Rängen der vierten Liga bis fast an die Spitze der First Division. Besonders ein Sieg über Manchester United habe ihn damals sehr stolz gemacht, schreibt Elton John: "Zeitungen, die sich bis dato niemals mit Watford befassten, sprachen am nächsten Morgen von Elton Johns Rocket Men".
WAS ANHÖREN?
Unser Kolumnist Stefan Effenberg hat in seiner Karriere alles erlebt, vom Champions-League-Sieg mit dem FC Bayern bis zum Rauswurf aus der Nationalmannschaft nach der Mittelfinger-Affäre und einem bitteren Engagement als Trainer des SC Paderborn. Umso spannender ist es, ihm in unserem Podcast "Königsklasse" mit Moderator Florian König zuzuhören. Effenberg spricht entspannt und reflektiert über vermeintliche Fehler, seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und die Dinge, die ihm wirklich wichtig sind. Er verrät, warum er zu Beginn seiner Karriere in Mönchengladbach heulen musste und was er sich für seine neue Herausforderung als Manager des Fußball-Drittligisten KFC Uerdingen von seinem früheren Chef Uli Hoeneß abgeschaut hat. Hören Sie gern mal rein und abonnieren Sie den Podcast doch gleich kostenlos.
WAS AMÜSIERT MICH?
Kommt hier raus, warum die EU sich doch noch einmal bereit erklärt hat, einen neuen Deal auszuhandeln?
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Freitag und ein schönes Wochenende.
Ihr
Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Twitter: @florianwichert
Mit Material von dpa.
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