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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Europa nach dem Brexit Warum Deutschland den Briten noch hinterhertrauern wird
Mit der Brexit-Einigung rückt Großbritanniens Abschied ein gutes Stück näher. Vor allem Deutschlands Stand in der EU wird schwieriger werden. Andere Staaten profitieren stark. Ein Überblick.
Der Brexit-Deal steht. "Ein Vertrag, der den Ausstieg zum Ziel hat", lobte der britische Premier Boris Johnson die Übereinkunft mit der EU. Noch hat das Abkommen parlamentarische Hürden zu überwinden. Aber: Mit Großbritannien verlässt erstmals ein Staat die Europäische Union. Das verändert auch das Machtgefüge. Im bislang fein austarierten Gleichgewicht zwischen London, Paris und Berlin klafft bald eine Lücke.
Ein Überblick mit Gewinnern, Verlierern und neuen Machtzentren im schrumpfenden Europa:
Boris Johnson: Noch ist der britische Regierungschef nicht am Ziel. Aber ob mit oder ohne Vertrag – sein Land ist auf dem Weg raus aus der EU. "Ein großartiger, neuer Deal – wir haben die Kontrolle zurück", frohlockte Johnson. Er hoffe, das Abkommen im Parlament "über die Linie" zu kriegen. Selbst zu einem Lob für Jean-Claude Juncker konnte sich Johnson durchringen.
Beifall aus London für die EU, das ist selten. Johnson ist einer der Gewinner des Brexit-Spiels. Aus taktischen Gründen stellte sich der voltenreiche Politiker vor drei Jahren vor dem Brexit-Referendum auf die Seite der Austrittsbefürworter. Ebenso aus taktischen Gründen stellte er sich in diesem Frühjahr wiederum gegen das Brexit-Abkommen von Parteifreundin Theresa May. Die trat entnervt ab.
Der Lohn: Johnson stieg auf zum Premierminister. In den Verhandlungen mit der EU konnte er sich endlich als verantwortungsvoller Politiker präsentieren. Und fällt das Abkommen durch? Dann kann Johnson immer noch bei den vorgezogenen Neuwahlen punkten, nämlich mit dem Versprechen, das Land aus der EU führen zu wollen. Klassische Win-Win-Situation.
Angela Merkel: Es herrscht stille Trauer um einen heimlichen Verbündeten. Denn die Machtverschiebung durch den britischen Abgang bekommt auch Deutschland zu spüren. Mit den Briten verliert Deutschland einen stillen Partner – in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, freier Markt, Sparen. Alles Positionen, die Großbritannien gern stützte.
Schon in den Beratungen über den neuen Etatrahmen der EU für die Jahre bis 2027 wird Merkel auf dem Gipfel mit den Konsequenzen konfrontiert. Merkel will die Ausgabenwünsche der EU-Kommission einhegen. Ein Prozent der jährlichen EU-Wirtschaftskraft für den EU-Haushalt soll es geben. Mehr nicht, sagt die "schwäbische Hausfrau". Die Etatdiskussion wird das nächste große Streitthema in der EU. Nach dem Brexit ist vor der Haushaltsdebatte. Europa, immer was los.
Emmanuel Macron: Dem Erneuerer gelingt auch nicht alles. Der junge französische Präsident will erneuern. Erst Frankreich, dann Europa. Gegen den Widerstand aus dem Europäischen Parlament setzte Macron Ursula von der Leyen als neue Kommissionspräsidentin durch. Die Abgeordneten revanchierten sich und ließen Macrons Kandidatin für die EU-Kommission, Sylvie Goulard, durchfallen.
Im Gegensatz zu manch anderem begreift Macron den Brexit auch als Chance. Schließlich hatte schon sein Vorgänger Charles de Gaulle das erste britische Gesuch zur Aufnahme in die EU torpediert. Der Abgang der freihandelsorientierten Briten bietet neue Möglichkeiten für Frankreichs dirigistisches Wirtschaftsmodell.
Nicht umsonst träumt Macron von europäischen Wirtschaftschampions nach dem Vorbild von Airbus. In der Militärpolitik ist Frankreich die einzig verbleibende europäische Macht mit Schlagkraft. Der Einfluss der "Grande Nation" steigt. Das demonstriert Macron auch: Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien hat er auf dem Gipfel erstmal gestoppt.
Mark Rutte: Seit neun Jahren ist der niederländische Premier im Amt. Er ist so etwas wie die graue Eminenz in der EU. Rutte kann mit dem Neuling Macron, besonders was das Thema Erneuerung angeht. Und er kann mit der ewigen Kanzlerin Merkel, denn auch Rutte will die Ausgaben für die EU auf ein Prozent der Wirtschaftskraft beschränken. Effizienz, Pragmatismus, gegen zu viel Brüsseler Regelungswut – die Niederländer sind so etwas wie das neue Großbritannien in Europa.
Seit dem Brexit-Referendum hat Rutte Gleichgesinnte gesammelt, in Dänemark und Schweden und im Baltikum. Vom Hanse-Bund ist die Rede. Es ist ein Bündnis der Kleinen, das gerne mal die Koalitionen wechselt. Die neue EU ohne das Schwergewicht Großbritannien wird unübersichtlicher. Das macht es nicht einfacher für Europa.
Jean-Claude Juncker: Es dauerte am Donnerstagnachmittag, bis Juncker gemeinsam mit Boris Johnson vor die Presse trat. Der Deal ist auch Junckers Erfolg, und so wollte er ihn auch auskosten. Während drüben im Brüsseler Ratsgebäude "Justus Lipsius" schon die ersten Staats- und Regierungschefs der EU zum Gipfel anrollten, posierte Juncker im Berlaymont-Gebäude der EU-Kommission mit Johnson.
Europas Institutionen – die Kommission steht als oberste EU-Behörde für die Gemeinschaft, der Rat für die Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten – sind stets auch auf ihre Eigenständigkeit bedacht. In wenigen Wochen gibt Juncker sein Amt an Ursula von der Leyen ab. Juncker, 64, saß in Europa schon mit Helmut Kohl und Francois Mitterrand am Tisch.
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Als Kommissionspräsident hielt er 2015 Griechenland im Euro und half später, in der Flüchtlingspolitik wenigstens minimale Kompromisse zu erzielen. Das Brexit-Abkommen war sein Abschlussmeisterstück. "Ich bin glücklich über das Abkommen, aber traurig über den Brexit", sagte Juncker. So spricht ein großer Europäer.
- Eigene Recherchen
- Beobachtungen vor Ort