Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Licht im Tunnel
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
30 Jahre sind eine lange Zeit. Die Welt dreht sich rasant, Tausende Kinder werden geboren, Städte entwickeln sich, es geht voran. 30 Jahre sind ein Klacks. Die Erinnerung an die Vergangenheit trübt die Gegenwart, früher war Leistung mehr wert, heute geht es bergab. Wir können zwar kaufen, was wir wollen, aber. Wir können reisen, wohin wir wollen, aber. Wir können sagen, was wir wollen, aber. Wer in diesen Tagen vor den Landtagswahlen durch Brandenburg und Sachsen fährt, hört dieses Wort sehr oft: aber, aber, aber. Aber die Lebensmittel schmecken nicht mehr wie früher, und teurer sind sie auch. Aber der Regionalverkehr fällt ständig aus, und der Schienenersatzverkehr funktioniert nicht. Aber es gibt keine echte Nachbarschaft mehr, die Leute leben aneinander vorbei statt miteinander. Aber es gibt zu viel Kriminalität, man ist ja auf der Straße nicht mehr sicher. Aber der Staat lässt uns im Stich. Aber die Medien lügen.
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Es ist eine seltsame Stimmung, die einem da vielerorts entgegenschlägt. Natürlich nicht überall. Natürlich keinesfalls von jedem. Aber die Klage über den Zustand der Republik begegnet einem in Ostdeutschland in zahlreichen Gesprächen. Und allzu viele Bürger ziehen daraus den Schluss, dass unser politisches System, die Bundes- und Landesregierungen und die sie tragenden Parteien die Probleme nicht lösen können. Dass sie deshalb abgelöst oder zumindest abgewatscht gehören. So wird der Stimm- zum Denkzettel und das Kreuzchen landet bei der AfD. Was genau die dann anders oder gar besser machen würde, bleibt meistens vage. Es ist ein ziemlich dunkler Tunnel, in den sich da viele Menschen begeben.
Die Proteststimmung ist brisant, und es ist nicht damit getan, die Sorgen und den Unmut der Leute zu ignorieren, wie es viele Westdeutsche tun. Ach, lass doch die da drüben in Dunkeldeutschland, die werden schon merken, was sie davon haben: Diese Haltung ist überheblich und riskant. Weil sie die real existierenden Probleme in gebeutelten Städten wie Eisenhüttenstadt oder Riesa verharmlost und zugleich die Gefahr unterschätzt, die von den rechtsextremen Kräften in der AfD um Björn Höcke, Andreas Kalbitz und Co. ausgeht.
Eine, die gegen die Tunnel-Haltung ankämpft, ist Franziska Giffey. Sie wurde in Frankfurt an der Oder geboren und erlebte mit elf Jahren den Mauerfall. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter verloren nach der Wende ihre Arbeit, wie so viele in der ehemaligen DDR. Später engagierte sie sich in der SPD und war eine beliebte Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Nach der letzten Bundestagswahl rückte sie als Familienministerin ins Kabinett der großen Koalition. Damals lästerten viele über die "Quotenfrau aus dem Osten". Heute sollte keiner mehr lästern. Frau Giffey muss zwar eine unangenehme Plagiatsaffäre durchstehen, aber im Unterschied zu anderen Spitzenpolitikern geht sie ehrlich damit um. Sollte die Universität ihr Schummelei nachweisen, will sie zurücktreten. Das Verfahren zieht sich hin, aber die Ministerin scheint die Belastung mühelos wegzustecken. Immer fröhlich, immer munter geht sie auf jeden zu, der nicht bei drei auf den Bäumen ist, plaudert, diskutiert, hört zu, kümmert sich. Das kommt an. Nicht umsonst wurde sie in der SPD für höhere Weihen gehandelt. Nicht jeder ist glücklich darüber, dass sie wegen der Plagiatsvorwürfe auf eine Bewerbung für den Parteivorsitz verzichtet.
In diesen Tagen tourt Frau Giffey durch den Osten und nimmt sich viel Zeit für Gespräche mit Bürgern. Überhaupt ist sie oft im Land unterwegs, im vergangenen Jahr waren es rund 500 Termine. Sie sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie an manchen Orten gefährdet, deshalb sucht sie das Gespräch, hört den Menschen zu – und verbreitet Zuversicht. Sie appelliert an die Leute, nicht nur die Probleme und Rückschläge zu sehen, sondern auch das Positive und Erreichte. Mir hat sie das so erklärt:
"Der Stolz vieler Menschen im Osten auf ihre Arbeit ist weggebrochen, als nach der Wende all die Betriebe geschlossen wurden. Das verletzt viele bis heute. Aber Jammern bringt uns nicht weiter. 30 Jahre nach der Wende sollten wir drei Dinge beherzigen: erstens Dankbarkeit für die friedliche Revolution; es fiel kein Schuss, es gab keine Toten. Zweitens Stolz auf das Erreichte, sowohl Ost- als auch Westdeutsche haben dabei mitgeholfen, die Infrastruktur aufzubauen. Drittens Geschichten der Zuversicht erzählen. Also nicht nur zu schauen, was nicht funktioniert."
Was sagt sie zu dem Vorwurf, die Bundesregierung tue zu wenig für die Menschen im Osten?
"Politik ist die Kunst des Möglichmachens. Leider ist die Bereitschaft, Kompromisse zu akzeptieren, in der Gesellschaft aus der Mode gekommen. Viele Menschen erwarten, dass ihre Anliegen hundertprozentig durchgesetzt werden – und wenn das nicht klappt, sind sie frustriert und werfen es der Politik vor. Ich finde es wichtig, dass die SPD das Signal aussendet: Wir stehen für eine verlässliche Regierung, auf nationaler wie internationaler Ebene. Wir müssen unsere Arbeit machen. Die Leute wollen nicht ständig nur von Streit in der Koalition hören."
Die Arbeit machen – im Falle von Frau Giffey heißt das: mehr Geld und Einsatz für Familien, Kitas, Pflegebedürftige und Rentner. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat gerade gezeigt: In den ersten 15 Monaten der Regierungsarbeit hat die große Koalition schon mehr als 60 Prozent ihrer Versprechen eingelöst oder angepackt – nur kommt das bei den Wählern nicht an. Die Politik müsse besser zuhören und genauer erklären, wie und warum sie welche Ziele verfolge, empfehlen die Autoren.
Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, sie hätten sich Franziska Giffey zum Vorbild auserwählt. Wenn man einen ganzen Tag lang in Ostdeutschland mit der Ministerin unterwegs ist, wenn man sieht, wie sie auf die Bürger zugeht, wie sie ihnen zuhört, Versäumnisse der Politik eingesteht, aber auch Mut macht und zum konstruktiven Einsatz für unsere Gesellschaft animiert, dann hat das etwas Erfrischendes. Wie ein Licht im Tunnel.
Wenn Sie das nächste Mal im Supermarkt das Gemüse in den Einkaufswagen legen, dann halten Sie doch mal einen Moment inne und freuen sich darüber, wie einfach das doch ist. Der beste Geschäftsmann der Welt hat es nämlich nicht so leicht. Der wäre gern auch so einfach zur Kasse gegangen, Einkauf aufs Band, ab nach Hause – aber nichts da. Gut, es war kein Gemüse, sondern ein etwas sperriges Objekt aus der Tiefkühltruhe: Präsident Trump wollte Grönland kaufen. Ja, einfach so, ein ganzes Land mit Mann und Maus bzw. Eisbär, ganz wie früher, als man noch mit dem Zaren oder einem angehenden Kaiser dealte und mal mit Louisiana, mal mit Alaska im Einkaufswagen von der Shoppingtour nach Hause kam. Inzwischen wird das Verschachern von Land und Leuten jedoch als anstößig empfunden. Die Grönländer und Dänen jedenfalls kratzen sich am Kopf, was in den US-Präsidenten wohl gefahren sein mag, oder ob er nun endgültig nicht mehr alle beieinander hat.
Die Episode könnte in ihrer Absurdität fast unterhaltsam sein, stellte sie nicht ein weiteres Mosaiksteinchen der politischen Strategie Donald Trumps dar, uns mit Skandalen, irrwitzigen Ideen, provokativen Frechheiten und katastrophalen Politikentscheidungen so lange zu überfluten, bis wir vor lauter Aufregern nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Der kurzlebige Irrsinn – wie der Versuch, im Vorübergehen Grönland zu shoppen – schwimmt im selben großen Strom wie die rhetorische Hetze gegen Minderheiten, die unmenschlichen Bedingungen in den Auffanglagern für Migranten aus Mittelamerika, die Ernennung eines mit Vergewaltigungsvorwürfen belasteten Juristen zu einem der höchsten Richter des Landes, dem rhetorischen Krieg gegen die Währungshüter aus der eigenen Zentralbank, und, und, und. In der Flut verflüchtigen sich die Empörung und der Widerstand. Das Erschütternde und das Triviale, alles ein Brei.
Herr Trump hält uns nach Belieben mit Trivia und seiner persönlichen Seifenoper in Atem. Komplett überraschend hat er seinen bevorstehenden Besuch in Dänemark abgesagt, beleidigt darüber, dass er mit seiner Einkaufsliste abgeblitzt ist. So schön hätte man die Bodenschätze Grönlands ausbeuten können, jetzt, wo der lästige Eispanzer darüber endlich vom schön warmen Klima weggeschmolzen wird. Auch tolle neue Schifffahrtswege in der auftauenden Arktis tun sich auf, worauf US-Außenminister Mike Pompeo schon vor Monaten in einer Rede erfreut hinwies. Aber ach, die sind so stur in dem dänischen Supermarkt. Jetzt gibt's wieder kein Eis. Nur das blöde Gemüse.
WAS STEHT AN?
In Berlin stellen Wissenschaftler heute den Teilhabe-Atlas Deutschland vor: Sie haben untersucht, wie unterschiedlich die Lebensverhältnisse bundesweit wirklich sind und wie die Bürger sie wahrnehmen.
Das Oberlandesgericht Dresden spricht heute voraussichtlich sein Urteil im Prozess zur tödlichen Messerattacke von Chemnitz. Dem syrischen Angeklagten werden Totschlag und versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vorgeworfen. Die Tat hatte Aufmärsche von Rechtsextremen und Angriffe auf Ausländer ausgelöst.
Nach dem Besuch bei Kanzlerin Merkel beehrt Boris Johnson heute den französischen Präsidenten Macron. Auch da will der britische Premier für seinen Brexit-Plan werben, der gar kein Plan ist. Wissenschaftler der Universität Leuven haben nun übrigens prognostiziert, wie schmerzhaft so ein ungeordneter EU-Austritt wird: Demnach könnten in Großbritannien und der EU mehr als 1,7 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen, davon 292.000 in Deutschland.
DIE GUTE NACHRICHT
Mehr, mehr, mehr: Diese kapitalistische Logik bestimmt seit Jahrzehnten die Weltwirtschaft. Sie verlangt, dass börsennotierte Konzerne ihre Prozesse immer weiter optimieren, Kosten senken, Gewinne steigern müssen, damit die Aktionäre noch höhere Dividenden einstreichen können. In einer Welt mit endlichen Ressourcen, kippendem Klima und wachsender Ungleichheit ist diese Logik längst unlogisch geworden. Sie ist schädlich. Das haben nun auch einige Unternehmenschefs begriffen – und beginnen umzusteuern. Die Bosse von 200 US-Großkonzernen haben der "Shareholder-Value-Doktrin" abgeschworen: Sie wollen künftig die Interessen ihrer Kunden, Beschäftigten, Lieferanten und des Gemeinwesens ebenso berücksichtigen wie die der Aktionäre. Nun müssen sie ihr Versprechen nur noch halten. Und dann sollten sich die Bosse in Deutschland ein Beispiel daran nehmen.
WAS LESEN?
Der Austausch mit unseren Leserinnen und Lesern ist uns sehr wichtig. Deshalb haben wir den t-online.de-Leserbeirat gegründet. Vergangene Woche haben 19 Mitglieder des Beirats uns in unserem Newsroom in Berlin-Mitte besucht. Wir Redakteure berichteten über unsere Arbeit und hörten aufmerksam zu, was unsere Gäste zu sagen hatten: Sie lobten, sie kritisierten und sie gaben uns viele wertvolle Anregungen – sei es zur Berichterstattung über die Klimakrise, über Donald Trump, über E-Autos oder über Atomkraft. Viele wünschen sich mehr vertiefende Artikel über die Hintergründe politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ereignisse, einige bitten um mehr Kulturthemen und alle waren sich einig, dass wir häufiger darüber berichten sollten, was gut läuft. Denn die Welt besteht ja nicht nur aus Problemen. Meine Kollegin Svenja Dilcher hat den Lesertag hier zusammengefasst.
WAS AMÜSIERT MICH?
So, der Soli ist also abgeschafft worden. Nur leider nicht für alle. Wer mehr als 74.000 Euro im Jahr verdient, muss ihn weiter berappen. Das ist doch eine schöne Steilvorlage.
Ich wünsche Ihnen einen couragierten Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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