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Deutsche Debatten und Realitätsverweigerung – alle mal aufwachen, bitte!


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Deutsche Realitätsverweigerung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.08.2019Lesedauer: 5 Min.
Das Reichstagsgebäude in Berlin, hier werden die wichtigsten Gesetze gemacht.Vergrößern des Bildes
Das Reichstagsgebäude in Berlin, hier werden die wichtigsten Gesetze gemacht. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Tagesanbruch-Freunde,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Ist es das schwüle Wetter? Ist es die Ferienstimmung? Oder was sonst? Die Kalenderwoche 32 mäandert merkwürdig dahin. Im Ausland brennt die Luft, sicher: El Paso, Kaschmir, Brexit, alles schlimm. Aber hierzulande tun Teile der Öffentlichkeit so, als gäbe es nichts Wichtigeres, als tagelang über den dämlichen Spruch eines Fußballmanagers, eine Falschaussage eines CDU-Politikers zu den Deutschkenntnissen von Grundschülern, höhere Steuern auf Fleisch und Frau Klums Kleid zu disputieren.

Klar, das kann man machen. Man kann es sich in seinem Weltanschauungsstübchen gemütlich machen und die Vorhänge zuziehen, damit man die wirklich großen Probleme nicht sehen muss. Die gefährdete Sicherheit Europas, seit der eine Atomwaffenabrüstungsvertrag (INF) gekündigt worden ist und der andere (New Start) auf der Kippe steht. Die marode gesparte Bundeswehr, die noch nicht einmal mehr ihre Hubschrauber hoch kriegt. Der kaum gebremste Mietwucher in vielen Großstädten. Der Pflegenotstand. Die Altersarmut. Die Kinderarmut. Das irrwitzige Niveaugefälle im Bildungswesen der Bundesländer. Die immer noch schwelende Euro-Schuldenkrise und die Nullzinspolitik, die unsere Ersparnisse auffrisst. Die Gewaltkriminalität junger Männer, wobei Zuwanderer aus Nordafrika eine überproportional große Rolle spielen. Die Machenschaften arabischer Clans. Die Hetze von Rechtsradikalen im Internet gegen Ausländer, Politiker, Publizisten. Die Trödelei der Bundesregierung beim Klimaschutz. Die vergrützte Digitalisierung der Behörden. Der Kniefall vor amerikanischen Tech-Konzernen, die hierzulande kaum Steuern zahlen. Bröckelnde Straßen, Brücken, Schulgebäude. Es gäbe noch mehr, aber das reicht ja schon an drängenden Themen.

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Sicher, auch diese Probleme werden hier und da angesprochen, aber zu selten mit dem Nachdruck, den es bräuchte, um sie schneller in den Griff zu bekommen. Nennt man das Sommerloch? Ich würde es eher Realitätsverweigerung nennen. Wer die großen Probleme nicht anpacken will, der ereifert sich eben über die kleinen. Das ist bequem, das kann jeder. Aber dann muss man sich nicht wundern, wenn Deutschland international den Anschluss verliert, die Spaltung im Land zunimmt und immer mehr Menschen sich frustriert von der Politik abwenden oder, schlimmer, den Scharfmachern und Schreihälsen hinterherlaufen. Deshalb heute Morgen ein Weckruf: Alle mal aufwachen, bitte!


WAS STEHT AN?

Wladimir Putin ist heute auf den Tag seit 20 Jahren an der Macht. Zum Feiern dürfte ihm angesichts schwerer Wirtschaftsprobleme und aufflammender Proteste gegen Rentenpolitik, Polizeigewalt und Korruption nicht zumute sein. “Dem Präsidenten entgleitet die Kontrolle über das autoritäre System”, schreibt Russland-Kenner Klaus-Helge Donath.

Der Weltklimarat veröffentlicht heute einen Sonderbericht zu den Folgen der Erderhitzung durch Massentierhaltung und Agrarindustrie. “Schon jetzt ist klar: Die Essgewohnheiten des Westens und die Lebensmittelverschwendung sind ein großes Problem”, schreibt die Deutsche Presse-Agentur.

Das Institut der deutschen Wirtschaft erklärt uns heute, welche Regionen in Deutschland abgehängt sind, und warum. Der Titel der Studie bringt es auf den Punkt: “Ohne Netz, Geld und junge Menschen”.


Folgen Sie mir bitte für einen Moment aufs schöne Land. Vielleicht in ein Dorf, vielleicht an einen Feldrand. Hier ist Frieden. Nur ein paar Piepmätze zwitschern, tiefe Ruhe senkt sich über die einsame Landstraße – bis ein knatterndes Geräusch sich in einem quälend langsamen Crescendo nähert: niiiiiiäääääääääng!! Ein Mofa. Wie ein Fingernagel kratzt es über die Tafel unserer friedliebenden Seele.

Die Deutschen und das motorisierte Zweirad, das war noch nie ein harmonisches Paar. Herumhängende, paffende, Bier schlürfende Fünfzehnjährige an der Dorfbushaltestelle haben manche Betrachtung über die Verlotterung der Jugend inspiriert – es sei denn, man hat seine Jugend selbst in einem Kaff auf dem Land und speziell an so einer Bushaltestelle verbracht. Was hätte manch einer dafür gegeben, wenigstens das nervtötende Geräusch der Kräder loszuwerden. Jetzt, im Jahre des Herrn zwotausendneunzehn, ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Der flüsterleise E-Scooter ist da. Und das Gezeter geht erst richtig los.

Denn die Empörung ist groß. Rasende Roller auf dem Gehsteig: verboten, klar, aber was nützt einem das, während man zur Seite hechtet und gerade noch einmal Glück gehabt hat? Weniger gefährlich, aber mindestens ebenso nervig: nicht rasende, sondern parkende Roller, ebenfalls auf dem Gehsteig und am besten quer. Großstädter kennen das, viele sind verärgert. Zu Recht weisen Blinden- und Sozialverbände darauf hin, dass das gedankenlose Kreuz- und Querparken für Sehbehinderte zur Stolperfalle werden kann und man die schnellen, lautlosen Flitzer nicht nahen hört.

Mit einer Hauruck-Aktion hat Verkehrsminister Andreas Scheuer von der CSU die Scooter eingeführt und ihre umweltfreundlichen, mobilitätsfördernden Vorzüge gepriesen. Schon Zwölfjährige hätten seiner Vorlage zufolge mit den Dingern herumrollern dürfen, auf dem Gehweg, völlig legal. Gut, man hätte darin auch ein Geschenk an die Industrie sehen können, die ein Riesengeschäft wittert und sich über eine möglichst große Zielgruppe freut, gern auch schon ab zwölf. Dass in der ersten heißen Phase der Pubertät nicht der Gipfel des verantwortlichen Fahrverhaltens erreicht wird, hätte dem Minister vielleicht mal jemand sagen sollen, wusste er bestimmt nicht. Im Bundesrat wurde die niedrige Altersgrenze schwupps kassiert und das Bürgersteigrollern auch. Zum Glück. Die Helmpflicht für Scooter-Fahrer, eine echte Umsatzbremse, hat man aber sausen lassen. Dafür legte Herr Scheuer lieber eine Kampagne mit Models in Dessous auf, die unverbindlich für die schützenden Helme werben. Der Mann setzt Prioritäten.

Dank dieser Prioritäten füllen sich jetzt die Notaufnahmen mit bösen Verletzungen. Und es hilft nicht, dass der Scooter gern auch gut betankt gefahren wird, mit Befüllungen im höheren Promillebereich. Dass das Ding kein Tandem ist und man zu zweit darauf wohl fahren kann, aber nicht sollte und schon gar nicht darf, hat sich auch noch nicht überall herumgesprochen. Es gibt also vieles zu bemäkeln bei dem neuen Vehikel, das bisher im Übrigen eher Fußgänger und Radfahrer zum Umstieg zu bewegen scheint, als den Berufspendler aus dem Auto zu locken.

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Dennoch: Die Aufregung darf sich gern ein bisschen legen. Wir könnten uns glücklich schätzen, wenn alle Probleme in unserem Land so einfach lösbar wären. Häufigere Kontrollen mit überaus lästigen Bußgeldern werden wohl genügen, um überschwängliche Scooter-Flitzer an die paar Regeln zu erinnern, die sie vom Radfahren schon längst kennen. Rücksichtnahme ist lernbar. Außer beim Mofa. Das knattert nun mal.


WAS LESEN?

Wie fühlt es sich an, wenn man in einer Brennpunktschule arbeitet, wenn man verhaltensgestörte Kinder vor sich sitzen hat, wenn man permanent Konflikten, Renitenz und chaotischer Bildungspolitik ausgesetzt ist? Mein Kollege Henning Seelmeyer wollte das wissen, also hat er eine Lehrerin zum Gespräch gebeten, die jahrelang an einer Grundschule in Berlin-Neukölln unterrichtete. Dieses Interview sollten Sie lesen.


Für meinen gestrigen Kommentar zu Clemens Tönnies habe ich neben Zustimmung auch viel Kritik geerntet. Die Meinungen dazu, was gesagt werden darf und was nicht, gehen stark auseinander. Meine Kollegin Charlotte Janus hat einige pointierte Leserstimmen zusammengefasst. Und was sagt Schalkes Fußballikone, unser Kolumnist Benedikt Höwedes, dazu? Er hat natürlich auch eine klare Meinung.


Ich könnte auf vieles verzichten, wenn es unbedingt, unbedingt sein müsste. Schokolade. Schinken. Sogar das Bierchen am Abend. Aber eines könnte ich nicht ertragen: einen Morgen ohne Kaffee. Die zwei Wochen in einer Kur, die mir vor einigen Jahren einen Totalentzug abverlangten, waren in dieser Hinsicht eine Tortur. Kaffee schmeckt nicht nur köstlich, er ist auch super gesund: hält wach, beugt Krankheiten vor, baut Giftstoffe im Körper ab und… Moment, stimmt das wirklich? Meine Kollegin Silke Ahrens hat mich aufgeklärt.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ach ja, diese E-Roller: Stehen nun allerorten in Innenstädten rum und rauben Fußgängern den Platz. Dabei wären sie auf der Straße doch viel sinnvoller platziert.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen schreibt mein Kollege Peter Schink den Tagesanbruch, ich bin ab Montag wieder für Sie da. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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