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Tagesanbruch: Fall Clemens Tönnies – was man sagen darf, was nicht


Meinung
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Was heute wichtig ist
Was darf man sagen, was nicht?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 07.08.2019Lesedauer: 6 Min.
Clemens Tönnies.Vergrößern des Bildes
Clemens Tönnies. (Quelle: Guido Kirchner/dpa)
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Guten Morgen, liebe Tagesanbruch-Freunde,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Was darf man sagen, was nicht? Der Fall Tönnies mag vordergründig banal erscheinen. In Wahrheit rührt er an die Grundfeste unserer Gesellschaft. Eine Woche nach dem Auftritt des Fabrikanten und Schalker Fußballmanagers auf dem Tag des Handwerks diskutiert Deutschland immer noch über seine Äußerung. Als Kritik an Steuererhöhungen im Kampf gegen den Klimawandel sagte er, es sei besser, jährlich 20 Kraftwerke in Afrika zu finanzieren. "Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn's dunkel ist, Kinder zu produzieren."

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An diesem Satz ist alles falsch. Er ist falsch, weil er Afrikaner diskriminiert, herabwürdigt und verletzt. Er ist falsch, weil er Afrikanern die Schuld an der Klimakrise gibt, statt die wichtigsten Verursacher zu nennen: Industrie, Verkehr, Energieverbrauch und Landwirtschaft in Industrie- und Schwellenländern. Er ist falsch, weil er suggeriert, die Klimakrise könne gelöst werden, indem Afrikaner keinen Nachwuchs mehr zeugen. Eines aber schafft der Satz: Er transportiert Ressentiments, die hierzulande viele Menschen hegen.

Clemens Tönnies ist ein Seismograph dieser Stimmungen – und ihr Lautsprecher. Dass er sein Hirn kurzfristig ausgeschaltet hat, ist nicht anzunehmen. Wir dürfen davon ausgehen, dass er wirklich so denkt. Zugleich sagen Spieler, Bekannte, Kollegen über den Manager, er sei alles andere als ein Rassist. Auch das dürfen wir glauben. Trotzdem hagelte es Rücktrittsforderungen, tobte die Empörung in den sozialen Medien, knöpfte sich der Ehrenrat des Schalker Fußballvereins den Delinquenten gestern Abend vor, machte der wichtigste Fanclub Druck: "Es wird auf jeden Fall Proteste geben, sollte alles beim Alten bleiben." Spät in der Nacht fiel die Entscheidung: Tönnies lässt sein Amt als Aufsichtsratsboss für drei Monate ruhen. Danach darf er weitermachen. Eine Strafe bleibt es trotzdem, der Verein beugt sich dem öffentlichen Druck.

Was darf man noch sagen? Die Entwicklung der Migration bereitet vielen Menschen Sorgen. Nirgendwo wächst die Bevölkerung so schnell wie in Afrika. Demografen prophezeien, dass sie sich in den kommenden 30 Jahren auf rund zweieinhalb Milliarden Menschen verdoppeln wird. Schon 2030 werden 440 Millionen zusätzliche Jobsuchende auf den Arbeitsmarkt drängen, das entspricht fünfmal der Bevölkerung Deutschlands. Es ist absehbar, dass die afrikanischen Staaten nicht alle diese Menschen ernähren und ihnen ein Leben in Würde, Sicherheit und mit gutem Auskommen ermöglichen können. Die Klimakrise wird weite Regionen unbewohnbar machen (nicht weil Afrikaner die Bäume umhacken, sondern aufgrund von Dürren und Naturkatastrophen). Es fehlt Industrie, vielerorts auch Rechtsstaatlichkeit. Hungersnöte, Armut, Terrorgruppen, Nepotismus und Kriminalität verschärfen die Konflikte.

Man muss weder Apokalyptiker noch Menschenfeind sein, um festzustellen: Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der Migrationsdruck nach Europa künftig nicht kleiner, sondern noch größer wird. Wer das riskant findet, ist nicht automatisch ein Rassist, sondern hat es verdient, dass seine Bedenken ernst genommen werden. Und dass sie ausgesprochen werden dürfen. Wenn dies in anständiger und respektvoller Weise geschieht, ist das vollkommen in Ordnung. Wenn es diffamierend daherkommt, ist es das nicht. Erst recht nicht, wenn es von einer einflussreichen, prominenten Persönlichkeit wie Clemens Tönnies kommt. Der Mann muss sich bewusst sein, dass er ein Vorbild für Arbeitnehmer, Fußballspieler und Fans ist.

Das hat Tönnies erkannt. Er hat sich bereits vor Tagen entschuldigt und beteuert, dass er für eine offene und vielfältige Gesellschaft einstehe. Vielen Menschen scheint das aber nicht zu genügen. Fast die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, dass Tönnies von seinem Fußballamt ganz zurücktreten sollte, hat eine repräsentative Umfrage von t-online.de ergeben. Mehr als ein Drittel sagt "nein" oder "eher nein".

Ich halte es hier mit der Minderheit. So unanständig Tönnies’ Äußerung war, mit seiner Entschuldigung hätte sie erledigt sein sollen. Der Mann muss aus dem öffentlichen Proteststurm eine Lehre ziehen und seine Worte künftig besser abwägen. Als Gesellschaft sollten wir uns aber auch fragen, ob wir bei jeder öffentlichen Entgleisung immer sofort ins lauteste Empörungshorn blasen müssen. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, dass Teile der Bevölkerung nur auf den nächsten Fehltritt eines Politikers, Unternehmers, Sportlers oder sonstigen Promis warten, um ihn sogleich mit größter Inbrunst zu geißeln. Als hätte dieses Land nicht gravierendere Probleme als den dämlichen Satz eines Managers.


WAS STEHT AN?

Die Landtagswahlen am 1. September werden zur Weichenstellung für die deutsche Politik. Sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg lassen die Umfragen einen großen Erfolg für die AfD erwarten. In Sachsen liefert sich die Partei ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU, in Brandenburg mit der SPD – und sie muss gar nicht viel dafür tun. Wahlkampfveranstaltungen, sicher, Plakate, klar. Aber ihre Kraft zieht die AfD vor allem aus der latenten Unzufriedenheit vieler Menschen: mit der politischen und mit ihrer persönlichen Lage. Hätte die große Koalition in Berlin die Grundrente bereits eingeführt, hätte sie die Angleichung der Renten auf Westniveau durchgezogen und früher eine konsistente Migrationspolitik betrieben, gäben in der SPD Klartextredner den Ton an statt Hasenfüße, die sich um den Parteivorsitz drücken, hätte die CDU sich früher um die Belange der Menschen im ländlichen Raum gekümmert, hätten nicht so viele junge Menschen und vor allem Frauen den Osten Richtung Westdeutschland verlassen, wären mehr Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen im Osten angesiedelt worden, würden mehr überregionale Medien ausführlich über Themen in den neuen Bundesländern berichten, statt sie wahlweise zu ignorieren oder zu belächeln, ja, dann könnten wir womöglich mit anderen Wahlergebnissen rechnen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

So aber werden die Landtagswahlen wohl zu Protestveranstaltungen umfunktioniert. Immer mehr Menschen scheinen den Eindruck zu haben, dass ihre Wünsche und Nöte nur ernst genommen werden, wenn sie einer Partei ihre Stimme geben, die sich noch nie in Regierungsverantwortung beweisen musste, die gesellschaftliche Entwicklungen grundsätzlich in Frage stellt, die ein verklärtes Bild der Vergangenheit zeichnet (ohne Euro, ohne Migranten, ohne Globalisierung, ohne Probleme), die anders als alle anderen Parteien meisterhaft die sozialen Netzwerke bespielt, um für sich zu werben und Gegner zu diskreditieren, die Rassisten in ihren Reihen duldet und eine Zerreißprobe zwischen Radikalen und Gemäßigten erlebt.

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So wie es aussieht, wird die Regierungsbildung nach den Wahlen sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg schwierig. Womöglich müssen sich die meisten oder gar alle anderen Parteien, die es über die Fünfprozenthürde schaffen (bei der SPD ist das in Sachsen keinesfalls ausgemacht) zusammentun, um eine Beteiligung der AfD zu verhindern – was den Wählerwillen konterkarieren würde. Zugleich würde der Druck auf die angeschlagene Koalition in Berlin steigen, womöglich fliegt sie sogar noch in diesem Jahr auseinander. Keine Frage: Der 1. September wird zur Weichenstellung für die deutsche Politik.


Erinnern Sie sich? Vor vier Monaten habe ich Ihnen an dieser Stelle von bislang unbekannten Schriften Franz Kafkas berichtet. Jahrelang lagerten sie in einem Banksafe in der Schweiz, nach einem Rechtsstreit entschied ein Gericht, dass sie der israelischen Nationalbibliothek übergeben werden müssen. Heute ist es soweit: Die Bibliothek will die Briefe und Notizen der Öffentlichkeit präsentieren. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Werden wir nun endlich erfahren, wie die unvollendeten Romane "Das Schloss" und "Der Prozess" ausgehen?


WAS LESEN?

Auch unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld widmet sich der Lage in Ostdeutschland. "Die Fehler der Wiedervereinigung sorgen dort bis heute für das Gefühl, abgehängt zu sein", analysiert sie. "Doch nur einen hätte man vermeiden können."


Der Mord an einem achtjährigen Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof hat Millionen Menschen erschüttert. Anschließend instrumentalisierten Rechtspopulisten das Opfer. Ein AfD-Kreisvorsitzender verpasste ihm kurzerhand einen falschen Namen, andere gaben ein Foto eines fremden Kindes als seines aus. Was sagen die Angehörigen dazu? Mein Kollege Lars Wienand hat mit dem Anwalt der Familie gesprochen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Was macht man mit einem Umweltsünder, der seinen ausrangierten Kühlschrank einfach in die Natur pfeffert? Die spanische Polizei weiß ziemlich genau, was man mit so einem macht.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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