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Lehrerin einer Berliner Brennpunktschule: "Die Kinder der Clans sind bei uns"


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Lehrerin einer Brennpunktschule
"Die Kinder der Clans sind bei uns an der Schule"

InterviewVon Henning Seelmeyer

Aktualisiert am 11.08.2019Lesedauer: 6 Min.
Grundschüler melden sich im Unterricht: Sozialarbeiter unterstützen Lehrer in Brennpunktschulen bei schwierigen Situationen. (Symbolbild)Vergrößern des Bildes
Grundschüler melden sich im Unterricht: Sozialarbeiter unterstützen Lehrer in Brennpunktschulen bei schwierigen Situationen. (Symbolbild) (Quelle: skynesher/getty-images-bilder)
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Sie hat viele Jahre an einer Grundschule in Berlin-Neukölln unterrichtet. Im Interview erzählt die Lehrerin, was den Job an einer Brennpunktschule so herausfordernd macht.

In Berlin sind die Sommerferien vorbei und in den Schulen tobt der Unterricht. Besonders in Brennpunktschulen geht es wieder hoch her. "Erfahrungsgemäß werden die Kinder immer schwieriger", sagt Kathrin Müller*.

Sie sollte es wissen, schließlich hat sie 35 Jahre lang als Lehrerin gearbeitet, viele davon an einer Grundschule in Berlin-Neukölln. Im Interview schildert sie die Schwierigkeiten beim Unterrichten an einer Brennpunktschule und erklärt, wie man die Quote von Schulabbrechern reduzieren könnte.

t-online.de: Sie haben bis zu Ihrer Pensionierung im Februar 2019 an einer Grundschule in Berlin-Neukölln gearbeitet. Können Sie erklären, warum sie als eine Brennpunktschule gilt?

Kathrin Müller: Entscheidend ist die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe oder Transferleistungen. Bei uns kommen immer über 90 Prozent der Schüler aus solchen Familien. Sprich: Die wenigsten Eltern der Schüler haben eine Arbeit.

Welche besonderen Herausforderungen kommen in Brennpunktschulen auf die Lehrer zu?

Das soziale Umfeld ist einfach sehr schwierig. Nicht, weil die Eltern Migranten sind, sondern, weil sie einem bestimmten sozialen Umfeld entstammen, das prekär geprägt ist. Man liest ja immer wieder von Clans – die Kinder der Clans sind bei uns an der Schule. Sie kommen zum Teil aus sehr großen Familien mit bis zu elf Kindern. Man kann sich die Problematik für das neunte von elf Kindern gut vorstellen: Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist hoch, vor allem, wenn dazu noch ein Säugling im Haus ist.

Wie fordern diese Kinder die Aufmerksamkeit im Unterricht ein?

Viele der Kinder sind sehr anhänglich, besonders die Mädchen. Sie klammern sich richtig an einen, geben aber auch viel Zuwendung. Bei den Jungs ist es nach der klassischen Rollenverteilung nicht die positive Zuwendung, sie stören eher den Unterricht. Sie wollen andere ärgern, rennen herum, wollen Remmidemmi machen und können sich nicht selbst regulieren. Die Sozialarbeiter in der Schulstation geben dann Unterstützung, können aber den Massenandrang oft gar nicht stemmen.

Das bestätigt ja viele Klischees.

Ich pauschalisiere hier sehr, das muss ich dazu sagen.

Gelegentlich liest man auch von Gewalt gegen Lehrer. Wurden Sie von Schülern auch mal körperlich bedroht?

Nein, Gewaltandrohungen habe ich nicht erlebt. Ganz im Gegenteil: Die Schüler haben Respekt, weil sie uns Lehrer kennen. Früher gab es eine ganze Menge Jugendgangs wie die "44 Boys". Wenn ich erst spät abends aus der Schule rauskam, dann haben die sich noch schnell die Jacken zugemacht, um ihre Gang-T-Shirts zu verstecken. Dabei wusste ich doch längst, wer die Eckensteher sind! Das mussten die gar nicht verbergen! (lacht)

Wenn die Gangs heute nicht mehr so stark in Erscheinung treten, ist das doch eine positive Entwicklung.

Erfahrungsgemäß werden die Kinder aber immer schwieriger – es gibt immer mehr gestörte Kinder. In Neukölln liegt das sicher auch an der Struktur des Bezirks, doch auch in bürgerlicheren Bezirken in Berlin ist das so. Hier in Neukölln sind schon viele Kindergartenkinder in therapeutischer Behandlung, gehen zum Logopäden oder machen eine Ergotherapie.

Woran liegt es, dass die Kinder schwieriger werden?

Die frühkindlichen Erfahrungen sind heutzutage einfach andere. Die Kinder sind weniger draußen und können sich körperlich und auch geistig weniger entwickeln, machen einfach weniger kindgerechte Dinge. Heute wird in der U-Bahn dem zweijährigen Schreihals schon das Telefon gereicht, um ihn zu beruhigen.

Dem könnte eine gute Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern entgegenwirken. Funktioniert das?

Nein. Denn die Erziehungsvorstellungen der Eltern entsprechen meist nicht den mittelschichtsorientierten der Lehrer. Sie wollen natürlich das Beste für ihr Kind, das steht außer Frage. Aber oft wissen sie gar nicht, was das ist.

Solche unterschiedlichen Vorstellungen in Erziehungsfragen können großes Konfliktpotenzial bergen. Kommt es oft zum Streit?

Grundsätzlich sind die Eltern uns Lehrern gegenüber wohlwollend eingestellt, auch die türkischstämmigen und arabischen Männer. Wir werden akzeptiert, da gab es nie ein Problem. Wenn die Eltern mal überreagieren, dann, weil sie bekifft sind oder etwas Anderes genommen haben. Wenn sie die Kinder morgens zur Schule bringen, dann merken wir bei einigen schon manchmal, dass die einen Knall haben und irgendwas nicht stimmt.

Eltern auf Droge, störende Kinder – kommen Lehrer dann überhaupt noch zum Unterrichten?

Ich kann morgens nie sicher sein, dass ich meinen Unterricht wie geplant durchziehen kann. Das hat auch was Interessantes: Ich liebe die Stunden, in denen die Kinder zunächst abseitig erscheinende Fragen stellen, die den Unterricht in eine ganz andere Richtung lenken, als ich ursprünglich dachte.

Gibt es solche guten Stunden häufig?

Es reicht ja immer schon, wenn einer austickt, um den Unterricht zu stören. Wenn das aber potenziell bei einem Drittel der Klasse passieren kann und ein weiteres Drittel sehr lernschwach ist, dann hat das letzte Drittel natürlich ziemlich schlechte Karten, gut zu lernen. Ich bin immer glücklich, wenn ich mal eine Stunde ohne Störung habe.

Das klingt nach einem sehr anstrengenden Alltag.

Ja, das ist er auch. Im Laufe der Jahre sind zudem immer mehr administrative Aufgaben dazugekommen. Ständig werden irgendwelche Reformen übers Knie gebrochen, die einfach nicht durchdacht sind – geschweige denn materiell, personell und finanziell unterfüttert.

Gibt es da eine besondere Reform, an die Sie denken?

Zum Beispiel wurde der Ganztagsbetrieb eingeführt. Allerdings hatten wir dafür nicht genug Platz und es musste umgebaut werden. Wir mussten auf einer Baustelle unterrichten – das war eine Katastrophe! Ein Wahnsinnsdreck, ein Wahnsinnslärm – und das über sechs Jahre. Mir kam es so vor, als wäre die Schulleiterin auch gleichzeitig Bauleiterin gewesen. Wir Lehrer mussten oft schwere Schränke räumen und die vom Baustaub verdreckten Lampen saubermachen.

Die Schule wurde also saniert. Das ist doch eine gute Sache.

Dass die Schule saniert wurde, heißt nicht, dass sie seitdem für den Ganztagsbetrieb geeignet ist. Es fängt schon an bei den Toiletten: Es wurden welche rausgerissen, weil für die Anzahl der Schüler nur weniger Toiletten zugelassen sind. Jetzt müssen auch die Kleinen um den halben Bau laufen, bis sie am Klo sind. Das kostet unheimlich viel Zeit. Außerdem platzt die neue Farbe schon von den Wänden.

Was müsste passieren, damit die Bedingungen an Brennpunktschulen besser werden?

Lehrermangel ist das große Thema. Da ist seit so vielen Jahren so viel falsch gemacht worden. Als ich in den siebziger Jahren studiert habe, da wusste man schon, dass es zu einem Lehrermangel kommen wird. Das ist ein Problem, das seit 40 Jahren bekannt ist und die Senatsverwaltung hat die Augen davor verschlossen.

Gibt es an Ihrer Schule immer ausreichend Lehrer?

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Nein. Um vernünftig und verlässlich Teilungsunterricht machen zu können, sind es zu wenige. Die Schulleitung berechnet einen Bedarf, aber wenn das Bezirksamt anders rechnet, bekommen wir halt weniger Kollegen. Zu viele Leute hatten wir noch nie. (lacht)

Das Land Berlin hat viele Lehrkräfte angestellt, die kein Lehramtsstudium absolviert haben. Das soll die Personallücke schließen. Was halten Sie vom Quereinstieg?

Die Quereinsteiger, die von draußen kommen, sind sicherlich eine Chance, weil sie noch mal einen anderen Blick haben. Das Problem ist nur, dass sie auf die Kinder losgelassen werden, bevor sie überhaupt wissen, wie es geht. Die zwei Wochen Einführung, die sie bekommen, ersetzen ja kein Studium von acht Semestern.

Was glauben Sie, wie sich Ihre Schule in Zukunft entwickeln wird?

Als ich damals an die Schule in Neukölln kam, bin ich richtig in einem Ghetto gelandet: Kriminalität, Drogenhandel und Polizeieinsätze. Durch die Gentrifizierung in den vergangenen Jahren gibt es aber auch bei uns an der Schule einen Wandel.

Wie wirkt sich die Gentrifizierung konkret aus?

Vor sieben Jahren hat die Konrektorin der Schule Kontakt zu einer evangelischen Gemeinde aufgebaut und es irgendwie geschafft, dass die Eltern der evangelischen Kita ihre Kinder bei uns eingeschult haben. Die Hälfte der Kinder kam aus einem sozial stabileren Milieu. Mit ihrem Vorwissen, ihrer Allgemeinbildung und vor allem ihrem Sozialverhalten hatten die in ihrer Klasse viel positiven Einfluss auf die anderen Kinder. Sprich: Durchmischung ist das A und O. Wenn wir nur Clankinder in einer Klasse haben, dann durchmischt sich nichts. Das ist die einzige Chance für Berlin, nicht so viele Abbrecher und Aussteiger aus Bildung und Kultur zu haben.

Seit Februar 2019 sind Sie Pensionärin. Vermissen Sie die Schule?

Nein. Ich bin sehr froh, frei zu sein und nicht mehr vor sechs aufstehen zu müssen. Ich bin guten Gewissens in Pension gegangen, weil ich wusste, dass ich all die Jahre mit Freude mein Möglichstes getan habe. Ich kann sagen, dass ich ein erfülltes Berufsleben hatte – dann kann ich auch mal aufhören.

Vielen Dank für das Gespräch!

*Name von der Redaktion geändert

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