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Tagesanbruch: Ergrünt die Bundesrepublik?


Meinung
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Was heute wichtig ist
Grüne Scheinriesen

MeinungFlorian Harms

Aktualisiert am 12.06.2019Lesedauer: 6 Min.
Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock, Robert Habeck.Vergrößern des Bildes
Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock, Robert Habeck. (Quelle: Hendrik Schmidt/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Die Republik ergrünt. Getragen von den Schwingen der Klimaschutzproteste, fliegen die Grünen von einem Umfragegipfel zum nächsten. Am Küchentisch debattieren Familien darüber, wie sie ihren Plastiktütenverbrauch drosseln und den Balkon bienenfreundlich aufmöbeln können. Leitartikler überschlagen sich in Lobpreisungen des knuffigen Herrn Habeck. Die CDU stürzt sich verängstigt in eine Kanzlerkandidatendebatte. Und in den allabendlichen TV-Talkshows beobachten wir gebannt den neuen Diskussionsstil: Haudrauf war gestern, heute zählen Verständnis, Empathie und – hoppla! – Sachargumente.

Ergrünt die Republik? In Zeiten grenzenloser Euphorie empfiehlt es sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Fieberkurve der politischen Stimmungen mag uns derzeit mit starken Ausschlägen überraschen, aber die Volatilität der dauererregten Mediengesellschaft bringt es mit sich, dass kein Hype von langer Dauer ist. Vorgestern war es die Wiederauferstehung der FDP, gestern der Durchmarsch der AfD, heute ist es der Höhenflug der Grünen. Was kommt morgen – die Gründung eines deutschen Pendants zur französischen En-Marche-Bewegung? Selbst wenn uns Auguren anderes weismachen wollen: Parteipolitische Prognosen sind in diesen Tagen nur so zuverlässig wie der Blick in die Glaskugel. Die Schwäche der SPD-Politiker muss nicht das Ende der Sozialdemokratie bedeuten. Die Unsicherheit der CDU-Chefin macht ihre Chancen auf die Kanzlerkandidatur nicht zunichte. Die Einfallslosigkeit der FDP-Spitze macht liberale Politik nicht irrelevant.

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Dennoch beobachten wir große Trends: Den Volksparteien gelingt es erstens immer weniger, die divergierenden Kräfte der Gesellschaft unter ihrem Mantel zu vereinen. Zweitens fehlt Ihnen sowohl das Know-how als auch das Personal, um alle Revolutionen unserer Zeit – Klimakrise, Digitalisierung, Migration, Landflucht in die Städte – gleichzeitig zu bewältigen. In die programmatischen und kommunikativen Lücken stoßen von links und rechts des Spektrums Akteure vor, die sich kurzerhand von Zwergen zu Riesen aufplustern. Sie jagen den verunsicherten Platzhirschen so viel Angst ein, dass diese noch viel schneller schrumpfen als ohnehin schon.

Die neuen Riesen stehen allerdings nur auf einem Bein: die AfD im Osten, die Grünen im Westen. Ebenso wenig wie die Sachsen, Thüringer und Brandenburger im Herbst mehrheitlich grün wählen würden, würden Westdeutsche die AfD zur Wahlsiegerin küren. Die Grünen sind de facto eine westdeutsche Partei, die AfD kann sich nur in den neuen Bundesländern Hoffnungen auf eine Regierungsübernahme machen.

Nicht nur ihre Einbeinigkeit entlarvt die beiden Riesen als Scheinriesen. Weder die AfD noch die Grünen haben derzeit das Profil und die Kraft, eine Bundesregierung anzuführen und die Geschicke des Landes zum Wohle aller Bevölkerungsgruppen zu lenken. Die AfD ist im Kern eine Protestpartei, die Rechtsradikale in ihren Reihen duldet und für entscheidende Themen wie die Rente kein klares Konzept hat. Die Grünen mögen die größte Kompetenz in Klima- und Umweltfragen besitzen, aber in der Sozial-, Finanz- oder Wirtschaftspolitik klaffen bei ihnen große Lücken.

"Die Grünen trauen dem System 'Leitplanke der Marktwirtschaft' nicht", analysiert unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld. "Solange man nur als kleiner Koalitionspartner infrage kommt, kann das funktionieren: Das David-gegen-Goliath-Narrativ ist mächtig. Als Kanzlerpartei sind die Grünen aber nicht mehr David. Sie wären groß. Sie müssten große Themen groß schreiben. So weit aber sind die Grünen bisher nur in ihren Kerngebieten Umwelt und Klimaschutz." Und: "Das neue Grundsatzprogramm der Partei, das alle offenen Fragen beantworten wird, wird erst im kommenden Jahr fertig. Die Grünen sollten sich damit beeilen."

Ergrünt die Republik? Noch sehen wir nur grüne Knospen. Ob sie wirklich irgendwann aufblühen, wird nicht der Sommer, sondern frühestens der Herbst zeigen.


Das Schrecklichste, überlegte er zum zehntausendsten Mal, während er seine Schultern mit schmerzender Anstrengung zurückriss ... – das Schrecklichste war, dass einfach alles wahr oder falsch sein konnte. Wenn die Partei sich so in die Vergangenheit einmischen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, es habe nie stattgefunden – war das nicht wirklich furchtbarer als Folter und Tod?

Schauderhafte Sätze aus einem weltbewegenden Werk, das vor siebzig Jahren erschien. Ein Roman, vielzitiert, bis zur Unkenntlichkeit ausgeschlachtet, über Jahrzehnte für mannigfache Vergleiche bemüht. Die Geschichte spielt in einer Welt, die uns heute fremd vorkommt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aber hochaktuell erschien: kaputte Häuser mit Pappe in den Fenstern, der allgegenwärtige Geruch von Kohl und Zigaretten, die man waagerecht halten muss, damit der billige Tabak nicht herausrieselt. Ab und zu ein dumpfer Donnerschlag, wenn irgendwo in der Stadt eine feindliche Rakete einschlägt.

Das London der Kriegsjahre kann man darin wiedererkennen oder eine andere europäische Stadt, von Krieg und Mangel schwer mitgenommen. Und überall die Plakate, Poster, Fotos eines immergleichen Gesichts, eines "Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren, mit dickem schwarzem Schnauzbart ... Es gehörte zu den Bildnissen, die so gemalt sind, dass einen die Augen überallhin verfolgen. 'Der Große Bruder sieht dich an!', lautete die Schlagzeile darunter."

Spätestens jetzt wissen Sie vermutlich, von welchem Buch ich spreche. Lesen wir George Orwells "1984" heutzutage, tauchen wir in eine Welt ein, in der sinnlose Jubelparaden, Militarismus, Mangelwirtschaft und ein allgegenwärtiger Geheimdienst uns am ehesten an Nordkorea denken lassen, falls wir unseren Blick nicht in die totalitäre Vergangenheit des 20. Jahrhunderts zurückwenden wollen. Zum Glück haben wir die hinter uns. Für nachfolgende Generationen war deshalb eher die allgegenwärtige Überwachung relevant, im Roman vom "Televisor" verkörpert: einem Bildschirm, der zeigt und zugleich sieht, der Propaganda präsentiert und jeden Mucks vermeldet. Überall ist er zu finden, auf jeder Straße, bei der Arbeit, im Wohnzimmer. Wir können ihn uns als ein an die Wand genageltes Smartphone vorstellen, aber in unendlicher Zahl.

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Doch obwohl wir heutzutage unsere Überwachungstechnik freiwillig und begeistert in jeden Winkel mit uns herumschleppen, ist Orwells Schreckensvision nicht wahr geworden. Selbst Staaten wie der Iran, die ihr Volk nur zu gerne in den Würgegriff nehmen würden, beißen sich an ihren vernetzten Bürgern die Zähne aus. Das Internet in der Hosentasche nützt ihren Opponenten vielerorts mehr als der staatlichen Repression. Warum? Die Daten über jeden Schritt und Tritt sind durchaus vorhanden – nur eben außer Reichweite, auf Servern im fernen Kalifornien. Nur in China ist das anders, dort hat die Staatsmacht alles: das Wissen, die Daten, den Zugriff. Und nutzt sie ohne Skrupel.

Trotzdem ist die Welt nicht mehr so wie in Orwells Tagen. Die Zeit der großen Ideologien ist vorbei. Populismus: ja. Politclowns: ja. Diktaturen: ja. Bedingungsloser Wille zur Macht: aber sicher, all das ist noch da. Doch selbst in China ist der Kommunismus zum Ritual und das Geschäft zum Betriebsprinzip geworden. Die Repression ist schlimm, aber pragmatisch. Der Große Bruder schaut uns nicht mehr an. Ist abgelenkt. Wahrscheinlich liked er gerade was auf Instagram.


WAS STEHT AN?

Das Rennen um Theresa Mays Nachfolge hat begonnen. Zehn Kandidaten treten an. In allen Umfragen liegt Boris Johnson vorn, der Brexit-Hardliner startet heute seine Wahlkampagne. Bis er (oder doch jemand Vernünftigeres) in 10 Downing Street einziehen darf, dauert es allerdings noch ein Weilchen, wie mein Kollege Stefan Rook anschaulich beschreibt: Am Ende werden gerade mal 160.000 Menschen über die Frage entscheiden, ob Großbritannien im Brexit-Prozess doch noch die Kurve kriegt – oder eben nicht.


Jeden Tag jähren sich die Geburtstage von Verstorbenen. Die meisten dieser Jahrestage erfahren keine große Aufmerksamkeit. Der heutige schon. Heute vor 90 Jahren wurde in Frankfurt Anne Frank geboren. 15 Jahre später starb sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Das Anne-Frank-Haus in Amsterdam hat gerade seine Website überarbeitet und zeigt uns Fotos und Dokumente der Familie, die sich auf einem Dachboden versteckte, bis sie von den Häschern der Nazis entdeckt und verschleppt wurde. Auch Annes Tagebuch ist darunter. Wenn Sie heute nur Zeit für einen einzigen Link-Klick haben: Es sollte dieser sein.


WAS LESEN?

Beim Relegationsspiel des VfB Stuttgart im Stadion von Union Berlin erlebte ich kürzlich einen Schreckensmoment: Die beiden Innenverteidiger Ozan Kabak und Holger Badstuber prallten mit den Köpfen zusammen und blieben minutenlang wie betäubt liegen. Nur mit Kopfverbänden konnten sie weiterkicken. Szenen wie diese hinterlassen im Profifußball ihre Wirkung, Gehirnerschütterungen werden endlich ernster genommen. Die Uefa schlägt nun sogar eine vierte Auswechselmöglichkeit während des Spiels vor, damit die Vereine bei Kopfverletzungen schneller reagieren können. Doch bis so eine Regel umgesetzt wird, vergeht viel Zeit. Wie können sich die Spieler schneller und besser schützen? Laufen Fußballer bald mit Helmen auf? Mein Kollege Benjamin Zurmühl ist der Frage nachgegangen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Was gibt es Schöneres in unserem schönen Lande als die Sprache? Besonders ist sie, unsere Sprache, insbesondere besonders verlängerbar. Das Verlängerbarkeitspotenzial deutscher Wortschöpfungen ist weltweit legendär, auch wenn wir unsere Begriffszusammenfügungsbegeisterung niemals über die Wortlängenerträglichkeits-Maximalschwelle hinaustreiben sollten, denn sonst ... Ach, sehen Sie doch selbst, was dann passiert.

Ich wünsche Ihnen einen fidelen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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