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Tagesanbruch: Die Chemnitzer Krawalle als Ergebnis eines jahrelangen Politikversagens


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.08.2018Lesedauer: 8 Min.
ChemnitzVergrößern des Bildes
Chemnitz (Quelle: Matthias Rietschel/reuters)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Deutschland im August 2018: Ein rechter Mob attackiert Polizisten und Journalisten, macht Jagd auf dunkelhäutige Menschen, skandiert fremdenfeindliche Parolen. Die Staatsmacht ist überrumpelt, weiß weder sich noch die Journalisten noch die Ausländer zu schützen; Politiker brauchen Stunden, bis sie sich zu klaren Worten durchringen. Irgendwann verurteilen sie dann zwar die Gewalt, aber es ist ihnen anzumerken, wie schwer ihnen das fällt.

Wie sollte es auch anders sein? Jahrelang haben viele Landes- und Kommunalpolitiker in Sachsen weggesehen, wollten nicht wahrhaben, wie Rechtsradikale, Hooligans und Rockercliquen erstarkten. Wie sie begannen, sich im Internet zu vernetzen, wie sie Strukturen bildeten und Kampftrupps aufstellten, wie sie nachts in den Straßen patrouillierten und "national befreite Zonen" ausriefen. Was wir in Chemnitz sehen, ist nicht nur die schockierende Gewalt von Extremisten. Es ist auch das Ergebnis eines jahrelangen Politikversagens. Man wollte nicht wahrhaben, was dem Image des Landes und dem Wirtschaftsstandort schadete. Man sah lieber weg, wollte das Thema kleinhalten und überließ so den Scharfmachern das Feld. So ging das seit Jahren: Biedenkopf, Milbradt, Tillich, keiner stach da durch gesteigertes Problembewusstsein heraus, Kretschmer machte bislang ebenfalls nicht den Eindruck.

Dabei waren die Probleme augenfällig. Nicht nur in Sachsen, aber eben auch dort. Auch in Chemnitz, auch in jüngster Zeit. Immer wieder wurden im Stadtzentrum gewaltsame Auseinandersetzungen protokolliert. Das sächsische Innenministerium veröffentlichte kürzlich eine Liste von 61 "gefährlichen Orten" in dem Bundesland. Allein neun davon liegen in der Chemnitzer Innenstadt. Ein Brennpunkt, auch gestern Abend: Wieder Krawalle von Rechtsradikalen und ihren Mitläufern, wieder Verletzte, wieder bedrohte Journalisten, wieder eine überforderte Polizei, wie watson.de-Reporter Felix Huesmann berichtete. Es sind solche Bilder, die rechtschaffene, friedliebende Bürger an der Durchsetzungsfähigkeit der Staatsmacht zweifeln lassen.

Denn was viele Beobachter und auch mich schockiert, ist die Professionalität, mit der die rechte Szene sich inzwischen vernetzt. Militante scheinen geradezu auf einen Anlass zu warten – in diesem Fall eine Messerstecherei mit einem Toten in der Chemnitzer Brückenstraße, deren Umstände noch ungeklärt sind –, um diesen als Vorwand für ihre Gewalt zu nutzen. Sie streuen Gerüchte in den sozialen Netzwerken, schüren die explosive Stimmung weiter an, hetzen gegen Ausländer. Auch AfD-Seiten im Internet verharmlosten den Chemnitzer Gewaltausbruch als "Spontandemo der Trauernden und Wütenden", AfD-Bundestagsabgeordnete solidarisierten sich.

In dieser Stimmung geht jedes Maß verloren. Keine Frage: Gewalttaten – egal, von welcher Seite, von Deutschen genauso wie von Ausländern – müssen geahndet und bestraft werden. Aber dafür ist in Deutschland nur einer zuständig: der Staat mit seinen Sicherheits-, Ermittlungs- und Strafvollzugsbehörden. Selbstjustiz, Hass und Gewalt dürfen auf unseren Straßen keinen Platz haben. "Asylflut stoppen" war auf Plakaten von Aktivisten in Chemnitz zu lesen. Wohlgemerkt: In einer Stadt mit unter acht Prozent Ausländeranteil und weniger als drei Prozent Flüchtlingen. Aber Zahlen scheinen für diese Menschen keine Rolle zu spielen, es geht um gefühlte Wahrheiten, um das, was man glauben und andere glauben machen will.

Die Milieus von Neonazis, Pegida-Aktivisten und auch manchen AfD-Anhängern scheinen sich zu vermischen: auf Facebook, Stadtfesten und Rockfestivals, in Kneipen, Vereinshinterzimmern und auf den Straßen. Sie nutzen die Schwäche vieler Sicherheitsbehörden und die bräsige Ignoranz vieler Politiker in Kommunen und Bundesländern aus, und so werden sie stärker. Bei jedem aufrechten Demokraten in unserem Land müssen da die Alarmglocken klingeln.

Dabei geben die Rechten sich vordergründig oft umgänglich, zum Beispiel auf rechten Rockfestivals. Die israelische Journalistin Antonia Yamin kann viel darüber erzählen: Anfang Juni drehte sie für eine TV-Doku auf einem Rechtsrock-Festival im südthüringischen Themar und sprach dort mit führenden Aktivisten der rechten Szene. Die klingen vor der Kamera zunächst fast harmlos – aber wenn man dann hört, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre antisemitischen Verschwörungstheorien zum Besten geben, kann einem heiß und kalt werden. Hier ist das Video meiner Kollegen Martin Trotz und Arno Wölk, in dem Antonia Yamin auch berichtet, wie es sich anfühlt, als Israelin zwischen Rechtsradikalen zu recherchieren. ______________________________

WAS STEHT AN?

Endlich haben wir ein Thema gefunden, mit dem wir die Menschen erreichen! So mag man im Stab von SPD-Vizekanzler Olaf Scholz gedacht haben. Der Vorstoß des Finanzministers zur Rente war zwar inhaltlich unausgegoren: Wie genau er das Ruhegehalt auf dem jetzigen Niveau bis 2040 garantieren will, sagte er nicht. Aber das macht am Beginn einer politischen Debatte ja nichts. Wichtig ist der Impuls. Ein Problem bekommt man als Impulsgeber allerdings, wenn nicht nur der politische Gegner die eigene Idee als halbgares Zeug schmäht – sondern wenn es auch die eigene Parteichefin tut. So geschehen in der SPD, wo Andrea Nahles ein Machtwort gesprochen hat: Weil sie es sich mit der Union nicht verscherzen will, bleibt erst mal alles beim Alten, also bei der Rentengarantie bis 2025 – und auch auf alle anderen Punkte aus dem Rentenpaket von Arbeitsminister Heil sollen die Großkoalitionäre sich nun rasch einigen. Dafür wollen sie sich heute Abend treffen. Das Ergebnis innerhalb der SPD steht aber schon heute Morgen fest: 1:0 für Nahles.

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Bundeskanzler, Bundespräsident, Bundestagspräsident: Alles wichtige Ämter – aber um die Geschicke in unserem Land zu bestimmen, werden andere Ämter immer wichtiger. Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Beispiel,der in Frankfurt die Geld- und Zinspolitik macht, oder der EU-Kommissionspräsident, der in Brüssel Verordnungen und Leitlinien der Politik koordiniert, von Handel und Landwirtschaft über Außen- und Sicherheitspolitik bis zu Energie und Migration.

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Beide Ämter müssen in den kommenden 15 Monaten neu besetzt werden, und wie üblich in der EU, hat in den Hinterzimmern in Brüssel, Paris, Berlin und den anderen europäischen Hauptstädten schon jetzt ein eifriges Feilschen über die Nachfolger von Mario Draghi und Jean-Claude Juncker begonnen. Deutschland hat ein großes Interesse an beiden Posten, aber beide zu besetzen, das würden die EU-Partner nicht akzeptieren. Also muss sich Merkel entscheiden, für welchen der beiden Jobs sie einen Kandidaten ins Rennen schickt – und diese Wahl scheint sie nun getroffen zu haben: Lange sah es so aus, als favorisiere sie Bundesbankpräsident Jens Weidmann als künftigen EZB-Chef, aber nun mehren sich die Zeichen, dass es ihr wichtiger ist, einen Deutschen an die Spitze der mächtigen Behörde in Brüssel zu entsenden. Als heiße Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten gelten:

  • Ursula von der Leyen, die sich nicht nur (wie alle Verteidigungsminister vor ihr) im Geflecht aus Ministerialbürokratie, Rüstungskonzernen und Bundeswehr verheddert, sondern auch ihren Ruf bei der Truppe ziemlich gründlich ruiniert hat und deshalb wohl bei einem Angebot aus Brüssel gern zugreifen würde.
  • Europapolitiker Manfred Weber, der für einen CSU-Politiker in der Öffentlichkeit untypisch leise und besonnen auftritt, sich aber in Brüssel den Ruf erarbeitet hat, Probleme geräuschlos aus dem Weg räumen zu können.
  • Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der zu Merkels engsten Gefolgsleuten zählt und ihr zuliebe wohl jeden Job übernehmen würde, obwohl er sich im politischen Berlin eigentlich pudelwohl fühlt. Auf ihn könnte es am Ende hinauslaufen.

Und Weidmann? Ginge in diesem Fall leer aus. Das ist zwar feige – aber klug, findet unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld. Heute Vormittag erklärt Sie Ihnen, warum.

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Kunst kann uns erfreuen und entsetzen, inspirieren und irritieren, anregen und erregen, in jedem Fall aber Fenster in eine Welt öffnen, die wir vorher noch nicht kannten. Manchmal muss Kunst dazu auch eine Mauer errichten. Nicht nur in unseren Köpfen, sondern vor unseren Augen. In der Stadt, in der wir leben oder deren Straßen und Gebäude wir allabendlich in den Fernsehnachrichten sehen. Eine Schneise mitten durch unseren Alltag.

Geht nicht? Geht doch: Der russische Installationskünstler Ilya Khrzhanovsky will mit vielen Helfern in Berlin ein großes Areal rund um die Staatsoper Unter den Linden einmauern – und drinnen, hinter der Absperrung, mit zahlreichen Filmen und Installationen namhafter Künstler das Leben im stalinistischen Überwachungsstaat nachstellen lassen. Wer sich das ansehen will, braucht nicht nur starke Nerven, sondern muss auch eine Passkontrolle passieren. Am 12. Oktober soll es losgehen, am 9. November, dem Jahrestag des Mauerfalls, soll die Kunstmauer einstürzen. Heute stellt Khrzhanovsky in Berlin die Hintergründe und Details seines "Dau"-Projekts vor (hier die Website). Ich bin gespannt. Und empfehle Ihnen dazu diesen Artikel aus der "Süddeutschen Zeitung".

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In Amerika ist dieser Dienstag ein besonders spannender Tag: Heute finden die letzten Vorwahlen für die Kongresswahl statt. Das wichtigste und spannendste Rennen läuft in Arizona. Mit einem Sieg in dem Grenzstaat, dessen Bevölkerung sich rasant wandelt, könnten die Demokraten den Republikanern die hauchdünne Mehrheit im US-Senat abluchsen. Doch zunächst einmal müssen sich die Kandidaten in ihren eigenen Reihen durchsetzen. Bei den Republikanern gerät das Rennen besonders giftig – und typisch für die Entwicklung unter Donald Trump, wie es unser US-Korrespondent Fabian Reinbold beschreibt, der diese Woche vor Ort in Arizona recherchiert. Eine Ex-Kampfpilotin, ein von Trump begnadigter, früherer Sheriff und eine Ärztin, die sich als weibliche Trump-Version anbietet, schießen mit Giftpfeilen aufeinander, gut ausgestattet mit Millionenspenden aus dem ganzen Land. Den Bericht aus Arizona lesen Sie heute Vormittag auf unserer Seite.

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So, und nach all den ernsten Themen noch rasch ein Termin, der Ihnen hoffentlich runtergeht wie Öl: Im schönen Mainz treffen sich heute die deutschen Rotwein-Winzer, um den Jahrgang 2018 einzuschätzen. Sie machen sich große Hoffnungen: Der Sommer war so heiß, dass den deutschen Gewächsen schon jetzt lukullische Qualitäten zugetraut werden, wie man sie sonst nur von italienischen oder spanischen Tropfen kennt. Na, das klingt doch vielversprechend.

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WAS LESEN?

In den vergangenen Tagen ist viel über den verstorbenen US-Senator John McCain geschrieben worden. Berührende Nachrufe würdigten seine politische Karriere, seinen Einsatz im Vietnamkrieg, sein unbeugsames Einstehen für die Verfassung, wenn in der amerikanischen Politik wieder mal die Extreme überhandnahmen. Viele gute Texte, aber einer sticht heraus, dabei ist er schon 18 Jahre alt. Der ebenfalls bereits verstorbene Schriftsteller David Foster Wallace hat ihn für das Magazin "Rolling Stone" geschrieben, und er ist lang, sehr lang. Trotzdem – oder gerade deshalb – möchte ich ihn Ihnen empfehlen. Weil man in diesem Artikel mehr über amerikanische Politik lernen kann als in hundert Nachrichtensendungen.

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Wenn im Frühling die ersten Vögel zwitschern, ist das ein herrlicher Moment. Auch im Sommer freuen wir uns über ihre Konzerte, und im Winter stellen wir ihnen Häuschen und Futter hin. Vögel sind unsere Freunde. Fast alle. Ein paar aber nicht. Krähen zum Beispiel erscheinen gleich in Kompagniestärke und krächzen so laut, dass einem die Ohren dröhnen. Fressen die Felder kahl. Attackieren uns beim Spazierengehen (doch, ist mir passiert). Sind hässlich und erinnern an Unheil und Tod. Schwarz sitzen sie auf kahlen Bäumen vor einem leeren Novemberhimmel. Eine unsympathische Art, die kaum einer mag.

Gerade deshalb sollten wir Christophe Gaborit zu seiner Idee gratulieren. Er ist Falkner im französischen Freizeitpark "Puy du Fou", in der Nähe von Nantes. Immer, wenn eine seiner sechs dressierten Krähen ihm etwas bringt, belohnt er sie. Sie liefern: Müll. Zigarettenkippen, in die Landschaft geworfene Verpackungen – den ganzen Dreck, den die Besucher hinterlassen haben. In einer Dreiviertelstunde bringt eine Krähe einen ganzen Eimer an Abfall zurück. Die Tiere sind intelligent, sie machen ihren Job sehr gut. Auch den, mit den Vorurteilen gegenüber ihrer Spezies aufzuräumen. Zwar ist es schon klar, dass eine Art sich hier daneben benimmt. Die überall in Scharen auftaucht und enormen Krach macht. Die Krähen sind es aber nicht.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Um Sie mit etwas Amüsantem in den Tag zu entlassen, liefert Stephen King normalerweise nicht das richtige Material. Aber der Meister des Horrors hat sich über dieses schummrige Video aus der Lobby eines Hotels wahrscheinlich sehr gefreut. Nicht irgendein Hotel: das "Stanley Hotel" in Colorado, das für Kings Klassiker "The Shining" Pate gestanden hat. Nicht zu irgendeiner Uhrzeit: in den dunkelsten Stunden, als nur ein einsamer Nachtportier noch in den leeren Hallen wachte. Und vor ihm ein großer, dunkler Besucher mit großen, mächtigen Zähnen erschien. Die dreihundert Gäste schliefen süß und selig, während die Pranken des Wesens die Ledersofas befühlten. Zum Glück ist der Bär dann zur Tür wieder raus.

Kommen Sie sicher durch den Tag!

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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