Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Der Dieselskandal ist der größte Industriebetrug der Nachkriegszeit. Deutsche Autokonzerne, die Jahr für Jahr Milliarden scheffeln, haben nach Strich und Faden betrogen, die Gutgläubigkeit ihrer Kunden ausgenutzt und nach Auffliegen der Manipulationen die Verantwortung von sich gewiesen. Die Politik hat ihnen das aus Angst vor der wirtschaftlichen Macht der Konzerne durchgehen lassen.
Damit ist jetzt Schluss. Nach vielen Presse-Enthüllungen, nach Protesten von Autofahrern und massivem Druck der EU-Kommission sind sowohl die Politik als auch die deutschen Ermittlungsbehörden aufgewacht. Daimler wurde zu einem Massenrückruf verdonnert. VW zu einer Milliardenstrafe verurteilt. Und nun wurde Audi-Chef Stadler verhaftet. Offenkundig wollen die Staatsanwälte da ein Zeichen setzen: So wie bisher geht es nicht weiter. Gut so.
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Im deutschen Koalitionsdrama haben wir gestern die Peripetie erlebt: den Höhepunkt der Spannungskurve. Die Kontrahenten Merkel und Seehofer prallten aufeinander, führten dem Publikum ihren Konflikt in zwei parallel abgehaltenen Pressekonferenzen vor Augen. Im klassischen Drama sieht die Peripetie aber auch vor, dass die Handlung eine entscheidende Wendung erfährt. Wohin, ist in diesem Drama allerdings noch offen: zum Guten, also doch noch zu einem Kompromiss zwischen Schwarzen und Schwarzen? Oder zum Schlechten, dem Bruch der mühsam geschmiedeten großen Koalition? Nach Gesprächen im politischen Berlin und viel Lektüre würde ich sagen: Die Chancen stehen 50:50. Die gestern vermittelte Entspannung hält erst einmal nur auf Zeit, wie auch unser Parlamentsreporter Jonas Schaible bei der CSU in München beobachtet hat.
Merkel darf nun von Seehofers Gnaden zwei Wochen lang versuchen, eine europäische Lösung mit den anderen EU-Staaten auszuhandeln – und natürlich wird das in dieser kurzen Zeit ebenso wenig gelingen, wie es in den vergangenen drei Jahren gelungen ist. Ein einvernehmlicher, in Merkels Sinne liberaler Asylkompromiss mit Viktor Orban, Sebastian Kurz, Theresa May und der neuen Radikalen-Regierung in Italien? Illusorisch. Das weiß man auch im Kanzleramt. Deshalb wird Merkels Team wohl versuchen, mit einzelnen EU-Staaten bilaterale Abkommen über die Rückführung von Flüchtlingen auszuhandeln. So versucht die Kanzlerin den Schein zu wahren, sie habe als Chefin weiter das Heft in der Hand. In Wahrheit sind solche Abkommen genau das Gegenteil der viel beschworenen europäischen Lösung. Der Streit über Flüchtlinge und Migration vergiftet Europas Einheit ebenso wie das Klima der deutschen Regierungskoalition. Nicht ausgeschlossen, dass am Ende sowohl Merkel als auch Seehofer weichen müssen, wie der Kollege Stefan Braun in der "Süddeutschen Zeitung" schreibt.
Es wäre eine dramatische, aber keinesfalls unlogische Spätfolge eklatanter Fehler deutscher und weiterer westlicher Regierungen. Denn die Flüchtlingskrise hat ihre Ursprünge lange vor Merkels Entscheidung im Jahr 2015, die Grenzen offen zu halten. Ihre Gründe liegen zum Teil in den zerrütteten Herkunftsländern vieler Flüchtlinge. Sie liegen aber auch im kurzfristigen Handeln vieler Politiker:
- 2011 zerschoss die Nato das Regime des libyschen Diktators Gaddafi, hatte aber keinen Plan, was danach geschehen sollte, und überließ das Land rivalisierenden Milizen und Schlepperbanden. Deutschland sah dem Bombardement zwar nur zu. Aber dem anschließenden Chaos eben auch.
- Im Syrien-Konflikt schaute Europa ebenfalls viel zu lange weg. Zu Beginn des Krieges gab es ernst zu nehmende Stimmen, die eine Flugverbotszone im Norden des Landes forderten, in die sich Zivilisten und Assad-Gegner hätten flüchten können. Die UN und internationale Hilfsorganisationen hätten diese Menschen versorgen können. Das wäre nicht billig gewesen und angesichts der rivalisierenden Staaten in der Region auch politisch nicht einfach. Aber es hätte einen Bruchteil des Geldes, des politischen Einsatzes und der Menschenleben gekostet, die ohne eine solche Schutzzone seit dem Jahr 2011 zu beklagen sind. Die vielen Toten und Verwundeten in Syrien, Millionen Flüchtlinge in der Türkei, Schlauchboot-Dramen im Mittelmeer, der Marsch auf die deutschen Grenzen, der belastende Deal mit Erdogan, die Überforderung deutscher Behörden und Kommunen, die Wut vieler Bundesbürger über die chaotische und ungesteuerte Flüchtlingspolitik, auch die aktuelle Koalitionskrise: Alles hätte sich möglicherweise anders, weniger dramatisch entwickelt, hätten die damals Regierenden langfristig statt kurzfristig gedacht, hätten sie mehr Verantwortungsbewusstsein gezeigt. Und mehr Mut zu unpopulären, riskanten Entscheidungen. Ein Schröder hätte diesen Mut vielleicht gehabt. Merkel, die Kanzlerin der kleinen Schritte, und ihre Koalitionspartner hatten ihn nicht.
- Und schließlich Afghanistan: Nach dem 11. September 2001 marschierte Deutschland an der Seite der USA und vieler weiterer Staaten mit wehenden Fahnen in das zerrüttete Land ein. "Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt", meinte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck. Aber als die Taliban den ISAF-Staaten nicht den Gefallen taten, schnell aufzugeben, als es schwierig wurde, als immer mehr Amerikaner, Deutsche, Briten in diesem fernen, staubigen Land starben: erst politisches Herumlavieren, dann der desillusionierte Abzug. Heute herrschen in Afghanistan immer noch Chaos und Gewalt, die jedes Jahr Tausende Menschen in die Flucht treiben.
Was folgt daraus? Vielleicht diese Erkenntnis: Unsere globalisierte Welt ist so komplex und volatil geworden, dass langfristige Lösungen in Konflikten noch viel wichtiger geworden sind. Das bedeutet auch: Ein transnationales Problem wie die Flucht zigtausender Menschen kann nur transnational gelöst werden. Nationale Alleingänge – Schotten hoch! – mögen kurzfristig Linderung verheißen, langfristig funktionieren sie nicht. Es braucht auf kurz oder lang eben doch eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik. Dazu gehören die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern, die Sicherung der europäischen Außengrenzen, ein modernes Einwanderungsrecht und ein harmonisiertes EU-Asylrecht mit einer europäischen Asylagentur, die pro Asylbewerber EINE Entscheidung trifft – die dann in der gesamten Union gilt und durchgesetzt wird.
Handelte Deutschland jetzt auf eigene Faust, wie Seehofer es will, schickte es Flüchtlinge einfach zurück und ließe die europäischen Mittelmeerländer mit dem Problem allein, so wie es das jahrelang getan hat, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir ebenso allein gelassen werden, sobald es um die Verteilung bereits eingereister Flüchtlinge geht. Oder um die Finanzpolitik. Oder um die Schuldenpolitik. Oder um die internationale Verbrechensbekämpfung. Oder, oder, oder.
Im Kern braucht es jetzt eine Mischung aus Seehofers Entschlossenheit und Merkels Weitblick. Wenn dann noch strategisches Geschick und transparente, ehrliche Kommunikation hinzukommen, kann der Asylstreit klug gelöst werden und die Koalitionskrise einen glimpflichen Ausgang nehmen. Tja, wenn.
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WAS STEHT AN?
So viel gibt es zum Flüchtlingsstreit zu sagen, dass das Thema auch heute die Agenda der Bundesregierung bestimmt. Dabei wollte die Kanzlerin mit ihrem Gast Emmanuel Macron eigentlich zuvörderst über Außen- und Sicherheitspolitik, die EU-Reform und die Stabilisierung des Euroraums sprechen. Wir können aber davon ausgehen, dass sich die Gespräche bei der deutsch-französischen Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg bei Berlin immer wieder um die Asylpolitik drehen werden. Ein interessanter politischer Termin: Ein vor Kraft strotzender französischer Präsident trifft auf eine geschwächte Kanzlerin. Vielleicht kann der starke Mann der Gastgeberin dabei helfen, bis zum EU-Gipfel am 28. und 29. Juni eine europäische Asyllösung zu finden.
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Auch in Luxemburg geht es heute ums Asylrecht. Der Europäische Gerichtshof entscheidet am Morgen darüber, ob abgelehnte Asylbewerber noch vor Ablauf der Beschwerdefrist abgeschoben werden dürfen. Jede Wette: Da werden sowohl die Herrschaften aus der CSU als auch die Leute aus der CDU genau hinhören.
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Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen: Vor zwei Monaten attackierte ein aus Syrien stammender Palästinenser einen Israeli und einen Deutschmarokkaner in Berlin, beleidigte sie mit antisemitischen Sprüchen und schlug mit einem Gürtel auf sie ein – weil beide Männer eine Kippa trugen. Heute Morgen beginnt der Prozess gegen den 19-Jährigen. "Mein Mandant ist kein Antisemit", sagt seine Anwältin über ihn. Wir dürfen gespannt sein, was er denn dann ist.
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WAS LESEN?
Im Kanzleramt, im Fernsehen und auch hier im Tagesanbruch geht es oft um Weltpolitik. Dabei sind die Sorgen und Nöte vieler Menschen vor unserer Haustür nicht minder wichtig. Meine Kolleginnen von watson.de haben sich dieser Menschen angenommen. In ihrer Serie "Unter 1.000 Euro" porträtieren sie Menschen, die an oder unter der Armutsgrenze leben: Studenten, Rentner, Auszubildende, Selbstständige, Pfleger, Floristen, Friseure. Ich darf Ihnen diese Beiträge sehr empfehlen.
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Für die Freundlichkeiten an der Hotelrezeption kann man schon mal ein Trinkgeld geben. Das ist dann nett. Für eine beiläufige Auskunft an der Rezeption kann man aber auch den Hundert-Dollar-Schein rüberreichen. Das ist dann eine Botschaft. Geld spielt keine Rolle, sagt die Botschaft, ich habe es wie Heu. Und die Hunderter regneten nur so herab bei Anna Delvey, einem Society-It-Girl, wie das heute heißt, frisch eingetroffen in New York. Die es irgendwie schaffte, auf jeder wichtigen Party dabei und oft im Zentrum zu sein – ein Fisch im Aquarium der Reichen und Schönen, schillernd, ganz zu Hause im Biotop der High Society. Sie war so offenkundig der Spross einer immens wohlhabenden Familie, die irgendwie wichtig war irgendwo in Deutschland (so erzählte man sich), dass die ein oder andere geplatzte Rechnung nicht weiter auffiel – nicht die vom Nobelrestaurant, das seinem Geld hinterher lief, nicht die 3.000 Dollar vom Flugticket, die der aushelfende chinesische Kunstsammler am Ende einfach vergaß. Niemand hätte gedacht, dass Hochstapelei mitten im Herzen der Society so offenkundig, so einfach, so unbemerkt sein kann. Wie das geht? Hier erfahren wir es. (engl.)
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WAS AMÜSIERT MICH?
Das war wirklich nicht gut, was Jogi Löws Team gegen die Mexikaner zusammengekickt hat. Wäre vielleicht besser, unsere Jungs müssten gegen diesen unangenehmen Gegner nie mehr antreten. Vielleicht gäbe es da eine Lösung:
Ich wünsche Ihnen einen grenzenlos fröhlichen Tag.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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