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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kann das gutgehen? In Scholz' Kabinett lauert eine große Gefahr
Die Ampelregierung verspricht eine neue Politik und neue Gesichter. Unverbraucht und voller frischer Ideen will sie starten. Rächt sich das? Die ersten Kabinette von Schröder und Merkel hatten der neuen Regierung jedenfalls etwas voraus.
Die ein oder andere Personalentscheidung für die neue Bundesregierung sorgte bereits vor der Kanzlerwahl für Stirnrunzeln: Agrarminister Cem Özedmir ist bisher nicht als Landwirtschaftspolitiker aufgefallen. Annalena Baerbock war in der Vergangenheit nicht als profilierte Außenpolitikerin erkennbar. Nicht anders ist es bei Christian Lindner, der nicht zu den Finanzexperten seiner Partei gehörte. Und auch die bisherige Justizministerin Lambrecht ist keine Fachfrau für Verteidigungspolitik.
Dass sie trotzdem ausgewählt wurden, hängt mit den Regeln zusammen, nach denen Minister bestimmt werden. So kommt es auch darauf an, dass diese Personen das politische Handwerk besonders gut verstehen. Wichtig ist, dass sie Interessen vertreten und durchsetzen können, mit Medien umgehen und Menschen begeistern können. Und wenn Parteien das Kabinett zu einem Abbild der Gesellschaft machen wollen, dann spielen auch noch weitere Faktoren eine Rolle. Etwa wie viele Frauen, wie viele Ostdeutsche und wie viele Personen mit Migrationshintergrund im Kabinett sind.
Dabei tritt in den Hintergrund, dass noch eine ganz andere Kompetenz für Kabinettsmitglieder von Bedeutung ist: Erfahrung. Es geht schließlich darum, eine große Behörde mit vielen Hundert Beamten führen zu können. Auch Kenntnisse im Umgang mit der Bürokratie und Verwaltungsprozessen sind unverzichtbar. Weiter müssen sich Minister laufend mit konkurrierenden Ressorts abstimmen. Etwa das Wirtschafts- mit dem Arbeitsministerium, oder das Verkehrs- mit dem Umweltministerium.
Dazu kommt die Fähigkeit, einen Ausgleich zu schaffen zwischen den unterschiedlichen, teils gegenläufigen Interessen. Hierzu zählen neben den Belangen des jeweiligen Ministeriums die Wünsche der Fraktion, der Partei, der eigenen Klientel und der Gesamtbevölkerung.
SPD-Minister haben meiste Erfahrung
Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreiche Parteipolitiker wie Christian Lindner, Annalena Baerbock und Cem Özdemir den Rollenwechsel zu einer Leitungsfunktion in einer Behörde hinbekommen. Denn Parteien lassen sich anders führen als Ministerialbürokratien.
Regierungserfahrung können Politiker bekommen, wenn sie bereits im Bund oder in einem Bundesland einmal Minister oder Staatssekretär gewesen sind. Bei der Betrachtung des Kabinetts von Olaf Scholz fällt allerdings auf, dass viele Minister über solche Erfahrung gar nicht verfügen.
Bei den Sozialdemokraten im Kabinett ist diese noch mit am stärksten ausgeprägt. Olaf Scholz selbst hat Regierungserfahrung im Bund als Minister und auf Länderebene als Regierungschef. Die Ministerinnen Svenja Schulze und Christine Lambrecht haben ebenfalls vorher schon Ressorts geleitet. Gleiches gilt für Arbeitsminister Hubertus Heil. Ohne Erfahrung in der Leitung von Regierungsbehörden kommen Karl Lauterbach als Gesundheitsminister, Nancy Faeser als Innenministerin und Klara Geywitz als Bauministerin in ihre Ämter.
Nur ein FDPler kennt das Regieren
Alle drei dieser Ministerien sind besonders wichtig: Das Innenressort ist eines der größten Häuser und das Bauministerium steht vor der Aufgabe, die städtische Wohn- und Mietenproblematik zu lösen. Das Gesundheitsministerium hat in der Corona-Krise sowieso eine herausgehobene Bedeutung.
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Unter den grünen und liberalen Ministern ist noch weniger Regierungserfahrung vorhanden. Bei den Grünen haben zwar Robert Habeck in Schleswig-Holstein und die neue Familienministerin Anne Spiegel in Rheinland-Pfalz ein Ministerium geführt. Doch ihre Kabinettskollegen Annalena Baerbock, Steffi Lemke und Cem Özdemir können keine solche Erfahrung vorweisen.
Bei den Liberalen hat allein Volker Wissing als ehemaliger Minister in Rheinland-Pfalz bereits einmal ein Ressort geleitet. Für seine liberalen Kabinettskollegen Christian Lindner, Marco Buschmann und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ist ihr neues Amt die erste Tätigkeit in einer Regierung überhaupt. Insgesamt hat somit sogar die Mehrheit der Minister, die Grüne und FDP im Kabinett Scholz stellen, keine Erfahrung in der Leitung von Behörden.
Auch für die meisten Staatssekretäre ist es ein Neustart
Wie sehr das Kabinett von Scholz von bekannten Mustern abweicht, zeigt auch ein Vergleich zu den ersten Kabinetten der beiden vorherigen Bundeskanzler. Auch Gerhard Schröder und Angela Merkel wollten, als sie angefangen haben, frischen Wind mit neuen Leuten bringen. Doch sie setzten stärker auf Personen, die etwas vom Regierungshandeln verstanden, bevor sie Teil der Bundesregierung wurden.
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Als Gerhard Schröder 1998 sein erstes Kabinett im Bund vorstellte, hatten 60 Prozent der neuen Ministerinnen und Minister bereits Regierungserfahrung im Bund oder in den Ländern gesammelt. Noch eindeutiger war dies im ersten Kabinett Merkel. Hier hatten bei Union und SPD zusammen 87 Prozent der Kabinettskollegen bereits Regierungserfahrung, bevor sie 2005 in die Bundesregierung eintraten. Im aktuellen Kabinett Scholz sind es dagegen nur 48 Prozent und damit knapp weniger als die Hälfte der Kabinettsmitglieder.
So haben jetzt die parlamentarischen Staatssekretäre eine besondere Rolle. Sie werden vom jeweiligen Kabinettsmitglied ernannt und helfen dabei, das Ministerium zu leiten. Aber auch von den 33 Frauen und Männern, die dieses Amt bekleiden, haben gerade einmal fünf Personen schon Erfahrung in Bund und Ländern auf einer solchen Position gewinnen können. Umso mehr werden die beamteten Staatssekretäre, die als oberste Beamte das jeweilige Haus leiten, hier ihren Ministern entsprechende Rückendeckung geben müssen.
- Eigene Recherche