t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikDeutschlandParteien

Kühnert-Debatte: Was meint die SPD mit Sozialismus, Wolfgang Thierse?


Wolfgang Thierse über Kühnert
"Die SPD steht nicht für flotte Verstaatlichung"

InterviewVon Jonas Schaible

04.05.2019Lesedauer: 4 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Wolfgang Thierse, im Jahr 2005: Er verteidigt das Grundsatzprogramm der SPD, aber kritisiert Kevin Kühnert.Vergrößern des Bildes
Wolfgang Thierse, im Jahr 2005: Er verteidigt das Grundsatzprogramm der SPD, aber kritisiert Kevin Kühnert. (Quelle: Juergen Blume/epd-bild)

Die SPD bekennt sich in ihrem Grundsatzprogramm zum demokratischen Sozialismus. Wolfgang Thierse findet das immer noch richtig. Kühnert kritisiert er trotzdem.

Juso-Chef Kevin Kühnert hat mit seinem Bekenntnis zum "demokratischen Sozialismus" viele Diskussionen ausgelöst. Die Parteichefin Andrea Nahles, der Vizekanzler Olaf Scholz oder die Justizministerin Katarina Barley distanzierten sich von Kühnerts Vision einer Überwindung des Kapitalismus. Dabei bekennt sich die SPD in ihrem immer noch aktuellen Grundsatzprogramm explizit zum "demokratischen Sozialismus".

Wolfgang Thierse, 75, der frühere Bundestagspräsident und langjährige Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, hat das so genannte Hamburger Programm von 2007 maßgeblich erarbeitet. Im Interview beschreibt er die Diskussion über den Sozialismusbegriff und warum er ihn immer noch richtig findet.

Herr Thierse, Sie haben das Grundsatzprogramm der SPD von 2007 maßgeblich verfasst. Darin bekennt sich die SPD zum „demokratischen Sozialismus“. Was macht diesen Sozialismus aus?

Wolfgang Thierse: Wir beschreiben den demokratischen Sozialismus als Vision einer freien, solidarischen und gerechten Gesellschaft. Es geht um Politik, die auf gerechtere Verhältnisse zielt. Auf Bekämpfung von Ausbeutung, auf eine solidarische Gesellschaft, auf einen funktionierenden Sozialstaat, auf die Freiheit und die Rechte der Individuen. Im Programm steht aber auch der wichtige Satz: „Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie“. Wir beschreiben Sozialismus nicht als Endzustand, sondern als Prozess zu mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität und mehr Selbstbestimmung.

Das sagt Kühnert allerdings auch. Er verstehe Sozialismus als das „Ergebnis von demokratischen Prozessen“.

Ja, aber er redet auf höchst diffuse Weise von Vergesellschaftung, von Kollektivierung. Im Grundsatzprogramm der SPD kommen die Begriffe Vergesellschaftung, Kollektivierung, Verstaatlichung nicht vor. Kevin Kühnert reduziert den demokratischen Sozialismus darauf oder lässt sich zumindest in die Ecke treiben. Er ist jung, für Kühnert gilt die Gnade der späten Geburt, er erinnert sich nicht, was vergesellschaftetes, kollektives, verstaatlichtes Eigentum im kommunistischen Teil der Welt bewirkt hat. Nämlich das, was der DDR-Dissident Rudolf Bahro das System der organisierten Verantwortungslosigkeit genannt hat.

Kommen Vergesellschaftung und Kollektivierung in Ihrem Verständnis des demokratischen Sozialismus gar nicht vor?

Es gibt welthistorisch kein Beispiel dafür, dass Vergesellschaftung, Kollektivierung oder Verstaatlichung von Eigentum zu einer erfolgreichen Wirtschaft und zur Wohlstandsmehrung geführt haben. Das muss man ganz nüchtern sehen und das sollte auch Kevin Kühnert zur Kenntnis nehmen. Deswegen ist im Grundsatzprogramm von der Verantwortung der SPD für öffentliche Güter die Rede, aber das heißt nicht automatisch: verstaatlichte Güter. Es geht um politische Verantwortung für gleichberechtigten Zugang zu Arbeit, Bildung, Wohlstand, sozialer Sicherheit, Kultur.

Diese Güter können in Ihrem Verständnis von demokratischem Sozialismus in privater Hand sein?

Sie können in privater Hand bleiben, weil Marktwirtschaft ganz wesentlich mit Privateigentum verbunden ist. Die politische Aufgabe bleibt es, Marktmechanismen so zu beeinflussen, dass sie nicht zu immer mehr Ungerechtigkeit und Ausbeutung von Mensch und Natur führen. Einhegung des Marktes, Regulierung der Marktverhältnisse, das ist sozialdemokratische Politik nach dem Verständnis des Hamburger Programms. Die SPD steht nicht für flotte Verstaatlichung.

Wie steht dieser demokratische Sozialismus, den Sie meinen, zum Kapitalismus?

Kapitalismuskritik halte ich für notwendig und angemessen. Aber die Alternativen zum Kapitalismus sollte man nicht als Utopie sehen. Ziel muss es sein, Schritt für Schritt für mehr Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich, einen funktionierenden Sozialstaat und angemessene Verteilung der Reichtümer zu sorgen.

Kühnert spricht explizit von einer „Überwindung des Kapitalismus“. Das halten Sie nicht für ein Ziel des demokratischen Sozialismus im Sinne des Hamburger Programms?

Es gibt nicht den Kapitalismus, es gibt viele Kapitalismen. Der chinesische oder der US-amerikanische Kapitalismus unterscheiden sich stark von der sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft würde ich verteidigen, indem man sie zukunftsträchtig macht. Kühnert sagt leider nicht, was er will. Ob er die Marktwirtschaft abschaffen will, auch die soziale Marktwirtschaft. Ob er die Eigentumsverhältnisse meint.

Wenn Sie sich an den Programmprozess damals erinnern: Wie verliefen die Diskussionen innerhalb der Partei?

Der Sozialismusbegriff ist mit Blut befleckt, er ist besudelt, er ist durch die kommunistische Praxis verdorben. Deshalb gab es viele, die gesagt haben, wir sollten ihn nicht verwenden, er ist irreführend, wir meinen doch sowieso „soziale Demokratie“.

Und die andere Seite, die sich durchgesetzt hat und der auch Sie angehörten?

Andere fanden, dass wir unsere Geschichte nicht verleugnen sollen. Dass wir zu unseren Traditionen stehen müssen. Wir haben als Sozialdemokraten keinen Grund, wegen der Verbrechensgeschichte des Kommunismus unsere Ideale und Grundwerte zu revidieren. Wir haben dann ausdrücklich an diesem Begriff festgehalten, weil wir betonen wollten, dass unsere Vorstellung vom Sozialismus etwas ganz anderes ist als der Realsozialismus oder der Kommunismus. Das war ein trotziges Festhalten ausdrücklich gegen den kommunistischen Missbrauch des Sozialismusbegriffs. Wir haben den demokratischen Sozialismus aber klar von der kommunistischen Praxis abgegrenzt.

Es gab auch damals 2007 ähnliche Kritik wie heute...

… ja, wenn jemand Sozialismus sagt, kommt der politische Gegner wie in einem Pawlowschen Reflex sofort mit der Keule und stellt ihn unter Kommunismusverdacht.

… finden Sie es trotzdem richtig, dass die SPD an dem Begriff „demokratischer Sozialismus“ festgehalten hat?

Ja, aber genau so, wie er formuliert ist. So ist er richtig. So hat ihn Kevin Kühnert nicht gebraucht. Er hat ihn verengt auf Vergesellschaftung und Kollektivierung. Und das ist unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit nicht angemessen.


Wäre es vielleicht ehrlicher, vom Begriff des „demokratischen Sozialismus“ ganz abzurücken und sich auf die „soziale Demokratie“ als Ziel zu einigen?

Aber genau so steht es doch im Hamburger Programm! Und im Übrigen verlange ich auch nicht von der CDU, dass sie auf den Begriff des Christentums verzichtet. Dabei hat die auch dramatische Schwierigkeit, zu definieren, was sie damit meint.

Verwendete Quellen
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



TelekomCo2 Neutrale Website