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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Außenexperte Roth "Wir haben es mit einer existenziellen Ausnahmesituation zu tun"
Der SPD-Politiker Michael Roth fordert, dass die Ukraine so schnell wie möglich den Status als EU-Beitrittskandidatin erhält. Für das Land sei dieser Schritt ein ermutigendes Zeichen.
t-online: Bis Ende des Monats entscheidet die Europäische Union über den Antrag der Ukraine, Mitglied der EU zu werden. Wie sollte die Entscheidung ausfallen?
Michael Roth: Wir sollten dankbar dafür sein, dass Menschen in der Ukraine sich nach unseren Werten sehnen. Dass sie leidenschaftlich für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eintreten. Deshalb wäre es ein sehr ermutigendes Zeichen an die Ukraine, so schnell wie möglich diesem vom Krieg gepeinigten Land den Kandidatenstatus zu verleihen.
Das müssten die EU-Mitglieder einstimmig beschließen. Doch da gibt es bei einigen große Bedenken. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist der Ansicht, dass man mit einem Land, das sich im Kriegszustand befindet, keine Beitrittsverhandlungen führen kann.
Wir haben es derzeit mit einer existenziellen Ausnahmesituation zu tun, die Mut und Kreativität erfordert. Für manche von uns war der Osten Europas zu lange der Vorhof der Macht von Putin, wir engagierten uns dort nur zögerlich. Damit muss jetzt endgültig Schluss sein. Nach der Politik der kalten Schulter müssen wir jetzt unsere Herzen öffnen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sorgt sich, die Beitrittskriterien könnten durch einen zu schnellen Beitritt der Ukraine "verwässert" werden.
Die Kopenhagener Kriterien gelten selbstverständlich auch für die Ukraine. Deshalb ist der Beitritt für die Länder des Westbalkans auch so mühsam. Weil wir bei den Beitrittsverhandlungen nicht beim Binnenmarkt beginnen, sondern bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Korruptionsbekämpfung. Diese Bedingungen müssen natürlich auch von der Ukraine vollständig umgesetzt werden. Da darf es keinen Rabatt geben.
Aber gerade die Länder des Westbalkans, die sich schon lange um eine Mitgliedschaft bemühen, müssen sich doch jetzt veralbert fühlen, wenn die Ukraine nun an ihnen vorbeizieht.
Deshalb soll es kein Schnellverfahren geben. Der Beitrittskandidatenstatus ist nur der erste wichtige Schritt auf dem Weg in die EU. Es wäre aber unfair gegenüber der Ukraine, sie jetzt für die Versäumnisse büßen zu lassen, die wir im Westbalkan zu verantworten haben. Deshalb muss es auf dem EU-Gipfel auch ein klares Signal in Richtung Westbalkan geben. Konkret: Mit Nordmazedonien und Albanien müssen endlich Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, für den Kosovo muss die Visavergabe liberalisiert werden. Außerdem müssen wir den separatistischen Bestrebungen in Bosnien-Herzegowina entschieden entgegentreten und der serbischen Führung klarmachen, dass ihre Doppelstrategie, in Richtung EU zu blinken, aber zugleich in Richtung Kreml abzubiegen, nicht funktionieren wird.
Ein weiterer Einwand lautet: Wir haben schon genug Probleme innerhalb der EU. Da sollten wir nicht auch noch ein kriegszerstörtes, politisch instabiles Land aufnehmen.
Ich habe nun wirklich nicht den Eindruck, dass die Ukraine der EU nur beitreten möchte, um an Geld zu kommen. Sie braucht das Signal, jetzt nicht im Stich gelassen zu werden. Und sie macht sich keine Illusionen, dass das ein beschwerlicher Weg bis zum Beitritt ist. Aber es gibt vor allem bei jungen Ukrainerinnen und Ukrainern den tief sitzenden Wunsch, zur EU zu gehören. Das dürfte für alle Politiker und Politikerinnen dort eine Verpflichtung sein, alles dafür zu tun, aus der Ukraine eine stabile freiheitliche Demokratie zu machen. Das ist auch in unserem ureigenen Interesse.
Wie wird es mit der EU und Russland langfristig weitergehen?
Wir haben lange versucht, eine Friedensordnung für Europa mit Russland auf den Weg zu bringen. Das ist angesichts der zynischen und brutalen Aggressionspolitik von Russland nicht mehr möglich. Deshalb werden wir jetzt eine Friedensordnung gegen Russland aufbauen müssen, die alle osteuropäischen Staaten miteinbezieht. Vorausgesetzt, sie wollen das: Wir üben auf niemanden Druck aus.
Olaf Scholz wird gerade scharf kritisiert, weil er nicht von einem "Sieg" der Ukraine als Ziel spricht, sondern nur davon, dass sie nicht verlieren darf. Was sagen Sie?
Mit dieser Formulierung steht der Bundeskanzler nicht alleine da. Das, was er sagt, ist ja auch nicht falsch. Da scheint es eine Absprache mit anderen Partnern zu geben, zum Beispiel auch Frankreich und den USA. Ich habe kein Problem zu sagen: Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen und sie kann es auch. Allerdings muss man dann erläutern, was man damit genau meint. Für mich bedeutet ein Sieg der Ukraine, dass sie ein freies, souveränes Land mit territorialer Integrität bleibt. Wie diese Integrität am Ende aussieht, darüber entscheiden allein die Verantwortlichen der Ukraine in Verhandlungen mit Russland. Ein Sieg bedeutet nicht, dass die Ukraine mit Waffen russisches Territorium angreift – wie manche jetzt böswillig unterstellen. Das steht doch für die Ukraine überhaupt nicht zur Debatte.
Sie selbst waren vor dem Krieg gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Heute vertreten Sie eine komplett andere Position. Wie kam es dazu?
Ich gehörte zu den vielen, die lange vergeblich gehofft haben, dass dieser Krieg durch intensive Gespräche abzuwenden sei. Das werfe ich mir heute vor. Auch ich hätte mir früher klarmachen müssen, dass zur Gesprächsbereitschaft immer Wehrhaftigkeit und Stärke gehören. Der definitive Wendepunkt war für mich Putins brutale Rede kurz vor Kriegsbeginn. In diesem Moment wurde mir klar, ein Krieg ist unausweichlich. Putin will ihn um jeden Preis. Seither engagiere ich mich mit all meiner Kraft, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen, selbstverständlich auch und vor allem militärisch.
- Interview mit Michael Roth