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Wahl-Pleite in Sachsen-Anhalt: Eine bittere Erkenntnis für die Grünen


Die Grünen nach Sachsen-Anhalt
Eine unbequeme Wahrheit

  • Johannes Bebermeier
  • Annika Leister
Von Johannes Bebermeier, Annika Leister

08.06.2021Lesedauer: 7 Min.
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Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock: Nicht alle finden Klimaschutz so wichtig wie die Grünen – das ist spätestens seit Sachsen-Anhalt klar.Vergrößern des Bildes
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock: Nicht alle finden Klimaschutz so wichtig wie die Grünen – das ist spätestens seit Sachsen-Anhalt klar. (Quelle: Martin Müller/imago-images-bilder)

Die Wahl in Sachsen-Anhalt brachte für die Grünen eine bittere Erkenntnis: Klimaschutz allein bringt sie wohl nicht ins Kanzleramt. Doch auch ein Kurswechsel birgt viele Gefahren.

Wolfgang Aldag hat eine unruhige Nacht hinter sich. Noch vor ein paar Tagen war er der Hoffnungsträger der Grünen in Sachsen-Anhalt. In seinem Wahlkreis in Halle standen die Chancen gut, dass er das erste Direktmandat für seine Partei überhaupt in dem Land holt. In den Prognosen vor der Wahl leuchtete Aldags Bezirk als einziger grün auf, in einem Meer von CDU- und AfD-Gebieten.

Doch dann begann die Stimmenauszählung – und Aldags Hoffnungen zerschlugen sich. Aus dem Direkteinzug wird nichts, die CDU-Kandidatin überholte ihn in Halle doch. Erst am Montagmorgen stand fest: Über die Zweitstimmen schafft Aldag es noch knapp in den Landtag.

Die Wahl insgesamt ist aber eine große Enttäuschung für die Grünen. Nur 5,9 Prozent holt die Partei, die im Bund das Kanzleramt erobern will. Dabei sahen sie die Umfragen für Sachsen-Anhalt wenigstens bei acht oder neun Prozent, manch einer kalkulierte sogar mit der Zweistelligkeit.

"Wir hatten auf mehr gehofft, das muss man ganz ehrlich sagen", sagt Aldag. Ob die Grünen es so in die Landesregierung schaffen, ist offen. Plötzlich gibt es viele andere Koalitionsmöglichkeiten für die CDU. "Wir müssen jetzt schauen, wie Reiner Haseloff agiert." Nach dem neuen grünen Selbstbewusstsein, das zuletzt überall zu spüren war, klingt das nicht. Zumindest Kenia schließen die Grünen am Montagabend aus.

Warum sind wir so schwach?

Diese Frage stellen sich jetzt nicht nur Aldag und seine Parteifreunde in Sachsen-Anhalt, sondern auch die Grünen im Bund. Der erhoffte Schub durch die Landtagswahl bleibt für Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock aus, dabei hätte sie ihn nach einer Pannenserie um Lebensläufe und Nebeneinkünfte dringend gebraucht.

Doch Sachsen-Anhalt hat noch etwas viel Gefährlicheres für die Partei gezeigt: Längst nicht alle finden Klimaschutz so wichtig wie die Grünen. Einigen ist er vor allem: zu viel. Ihr Kernthema – es stellt die Grünen plötzlich vor große Probleme.

Anti-Auto-Image schadet auf dem Land

Landespolitiker Wolfgang Aldag hat das auf der Straße direkt zu spüren bekommen. Er hat sich selbst viel Zeit für den Straßenwahlkampf genommen, hat lange Gespräche geführt. "Wir haben irre viel Arbeit in den ländlichen Raum gesteckt", sagt er. Aber: "Das scheint nicht so angekommen zu sein."

Für ihn ist klar: Nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Inhalte der Grünen müssen auf den Prüfstand.

Das größte Problem der Grünen in Sachsen-Anhalt aus seiner Sicht: das Anti-Auto-Image der Partei. "Verzichtet doch aufs Auto, fahrt lieber Bahn – mit dieser Botschaft kommt man im ländlichen Raum nicht an", sagt Aldag.

Der öffentliche Nahverkehr in Sachsen-Anhalt sei schlecht ausgebaut, große, zeitnahe Verbesserungen nur schwer zu erreichen. "Es gibt hier dicke Bretter zu bohren, das wissen auch die Wähler." Man sei in Sachsen-Anhalt mit dem Thema schon vorsichtig aufgetreten – trotzdem werde man den Auto-weg-Stempel nicht los.

Baerbocks Benzinpreis-Debatte? "Hätte man vermeiden müssen"

Öl ins Erregungsfeuer goss wenige Tage vor der Wahl Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, als sie vorrechnete, was die Klimaschutz-Forderungen der Grünen für den Benzinpreis bedeuten würden. Hängen blieb: Der Sprit wird teurer, um 16 Cent – die Wähler in Sachsen-Anhalt tobten.

"Bei den Wahlkämpfern in den Außenbereichen war das in den letzten Tagen das Thema schlechthin", erzählt Aldag. Tenor: "Was haben die Grünen da jetzt wieder für einen Scheiß verzapft?" Aldag findet das Thema wichtig, die Diskussion an sich angebracht, er kritisiert aber Timing und ungeschickte, auf den Preis fokussierte Kommunikation. "Zwei Tage vor einer schwierigen Wahl", sagt er, "das war unnötig, das hätte man vermeiden müssen."

Cornelia Lüddemann, die grüne Spitzenkandidatin in Sachsen-Anhalt, formuliert vorsichtiger als Aldag, aber ihre ersten Schlussfolgerungen sind ähnlich: "Unsere Ergebnisse auf dem Land und in der Stadt sind schon sehr unterschiedlich", sagt sie. "Wir müssen analysieren, ob das auch an der Ansprache beim Klimaschutz lag." Man habe zwar auch die Daseinsvorsorge mit Nahverkehr und Gesundheitsversorgung nach vorn gestellt. "Nur sind wir damit offenbar nicht ausreichend durchgedrungen."

Lebensnaher, glaubt Wolfgang Aldag, müssen die Grünen fürs Land werden – und neben Klima und Umwelt auch wirtschaftliche Chancen stärker betonen. Auch in den Außenbereichen von Halle legten Leute noch täglich zwei bis fünf Kilometer mit dem Auto zurück, zeigten Studien. "Das kriegt man nicht raus."

Statt der Abschaffung des Autos will Aldag in Sachsen-Anhalt deswegen in Zukunft stärker Alternativen kommunizieren: Carsharing für Dorfgemeinden zum Beispiel – das sei schneller umzusetzen als neue öffentliche Fahrzeugflotten, oft ohnehin wirtschaftlicher in spärlich besiedelten Gebieten und ein mögliches Geschäftsmodell für klamme Dorfgemeinden.

Habeck: "Unzulänglichkeiten und Fehler"

Wolfgang Aldags Kritik – sie ist auch in Berlin angekommen. Der Bundesvorstand hat die Wahl am Montag mit dem Spitzenpersonal aus Sachsen-Anhalt analysiert, auch Spitzenkandidatin Lüddemann war zugeschaltet, so ist das üblich. Statt erhoffter Jubelstimmung fällt das Fazit sehr selbstkritisch aus.

"Die letzten drei Wochen waren sicherlich kein Rückenwind für die wahlkämpfenden Kollegen in Sachsen-Anhalt", sagte Parteichef Robert Habeck am Montag auf einer Pressekonferenz. Die Diskussionen auf der Bundesebene hätten bestimmt nicht geholfen. "Unzulänglichkeiten und Fehler" habe es da gegeben.

Auch Habeck meint damit vor allem die Benzinpreisdebatte. Seine Selbstkritik zielt jedoch vor allem auf die Kommunikation der Vorschläge, nicht auf die Vorschläge selbst. Es sei den Grünen nicht gelungen klarzumachen, dass die anderen Parteien dieselben Fragen beantworten müssten. In der Tat will die große Koalition den CO2-Preis bis 2025 auf 55 Euro erhöhen, die Grünen fordern 60 Euro bis 2023.

"Das ist die gleiche Benzinpreiserhöhung, die wir auch beschlossen haben – minus ein Cent wahrscheinlich", sagt Habeck. "Uns ist es nicht gelungen zu sagen: Wir haben ein Konzept, wir wollen den Bürgern das Geld komplett zurückgeben. Fragt doch mal Peter Altmaier, was sein Konzept ist. Da wäre er nämlich ziemlich blank gewesen."

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Nun allerdings, sagt Habeck, "mussten die Kollegen am Wahlkampfstand die Fragen von Peter Altmaier beantworten". Ziemlich schlecht für Wolfgang Aldag und seine Parteifreunde in Sachsen-Anhalt.

Heikle Kurskorrektur

Nur auf die Fehler der letzten Wochen zu schauen, da ist sich Habeck sicher, sei aber nicht genug. Und die Gründe für den Misserfolg liegen wohl tatsächlich tiefer. Das macht sie allerdings nur umso unangenehmer für die Grünen. So unangenehm, dass Habeck sogar eine Kurskorrektur ankündigt.

Die Bereitschaft für Veränderungen, wie sie der Klimaschutz nötig mache, sei in Deutschland sehr unterschiedlich ausgeprägt, analysiert der Parteichef. Wer schon negative Erfahrungen mit Umbrüchen gemacht habe, bei dem sei die Ablehnung zum Teil extrem. Das gelte für die fünf ostdeutschen Bundesländer – aber eben auch für Industrieregionen in Westdeutschland.

Überraschend viele Menschen, so sagt es Habeck, hätten in Sachsen-Anhalt erklärt, man solle es mit dem Klimaschutz mal nicht so übertreiben. Eine Mehrheit für die enorme politische Kraftanstrengung, die der Klimaschutz sei, habe es dort schlicht nicht gegeben.

Die Schlussfolgerung der Grünen ist weitreichend. "Für uns als Partei heißt das, dass wir uns intensiv mit den Punkten jenseits des Klimaschutzes beschäftigen müssen und werden", kündigt Habeck an. Mehr reden über die Daseinsvorsorge, heißt das ihm zufolge, also über Schulen, Nahverkehr und Spielplätze. Mehr reden über einen funktionierenden Staat, über leistungsfähige Behörden. Und mehr reden über Sozialpolitik.

Was im Umkehrschluss eben auch heißt: Weniger übers Klima sprechen.

Für die Grünen, denen die Menschen noch immer mit großem Abstand die höchste Kompetenz beim Klimaschutz zusprechen, ist das ein durchaus heikler Kurs: weniger Kernkompetenz, mehr vom Sonstigen. Die Wette der Grünen geht vermutlich so: Wer Klimaschutz will, wählt uns sowieso. Für den Rest braucht es andere Themen, mehr noch als bisher gedacht.

Die offene Frage ist nur, ob die Menschen dann wirklich auch die Grünen wegen dieser Themen wählen. Oder ob sie nicht vielleicht sogar mehr Wähler verlieren, als sie gewinnen können, wenn sie den Klimaschutz nicht mehr so betonen wie bisher.

Es wird in jedem Fall: ein Balanceakt.

Radikale Grüne in der Hauptstadt: "Berlin tickt anders"

Die nächsten, die diesen Balanceakt hinbekommen müssen, sind ebenfalls Grüne in Berlin. Allerdings nicht die von der Bundes-, sondern der Landesebene. In der Hauptstadt wird Ende September zeitgleich mit dem Bundestag das Abgeordnetenhaus gewählt. Die Berliner Grünen gelten als besonders weit links – und besonders "Anti-Auto".

Bis 2030 wollen sie große Teile der Stadt zu einer "Null-Emissions-Zone" machen, bis 2035 sollen Verbrenner im Innenstadtbereich ganz von den Straßen verschwinden. Und diese Pläne sind konkret: Die Grünen regieren mit SPD und Linken, gerade streiten sie über die Umsetzung der Mobilitätswende. Und sie liegen in Umfragen derzeit auf Platz eins. Ob das so bleibt?

"Berlin tickt anders", sagt Bettina Jarasch, die erste grüne Bürgermeisterin in Berlin werden will. Der ÖPNV sei besser ausgebaut und der Wunsch, auch ohne eigenes Auto unterwegs sein zu können, in der Hauptstadt sehr viel größer. Doch auch Berlin besteht nicht nur aus einer gut versorgten Innenstadt. Besonders in den Außenbezirken attackieren die anderen Parteien die Grünen scharf.

Vorsicht ist deswegen inzwischen auch bei Jarasch zu spüren, wenn sie betont: "Wichtig ist, dass unser Ziel nicht heißt: Alle Autos weg. Unser Ziel ist: So wenige Autos wie möglich." Man wisse, dass nicht ganz Berlin am Ende per Rad oder Bus unterwegs sein könne, sondern einige ein Auto bräuchten. Deswegen komme es jetzt auf Alternativen an. Verbrennerfrei sollten am Ende jene unterwegs sein, die noch Auto fahren.

Die Vorsicht zeigt: Auch Jarasch weiß, dass tolle Umfragen noch keine guten Wahlergebnisse sind. Das hat die Wahl in Sachsen-Anhalt den Grünen einmal mehr deutlich gezeigt. Sich nicht auf netten Ergebnissen der Demoskopen auszuruhen, ist auch eine der größten Lehren für Wolfgang Aldag, dem Grünen aus Halle: "Wenn wir in Umfragen gut stehen, ist das kein Selbstläufer", warnt er. "Wir müssen vorsichtig sein, dürfen nicht zu selbstsicher sein. Wir müssen schon auch ackern."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen und Beobachtungen
  • Gespräche mit Wolfgang Aldag, Bettina Jarasch und Cornelia Lüddemann
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