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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Merkels Kanzleramtschef Herr Braun, ist Deutschland zu schnell in den Lockdown gegangen?
Mithilfe der Corona-App will die Bundesregierung die Corona-Epidemie besiegen. Aber was taugt sie wirklich, und ist sie sicher? Kanzleramtschef Helge Braun steht t-online.de Rede und Antwort.
Die Corona-App war erst für April angekündigt, dann sollte sie im Mai kommen. Nun ist die Warn-App in den App-Stores von Google und Apple verfügbar, heute wird sie offiziell vorgestellt. Sie soll helfen, Infektionsketten nachzuvollziehen und Menschen zu warnen, wenn diese Kontakt zu Infizierten hatten. Koordiniert hat die Entwicklung der App Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU).
Seit drei Jahren leitet Braun das Kanzleramt, der studierte Mediziner ist der Krisenkoordinator der Kanzlerin: Zu Beginn der Corona-Pandemie telefonierte er täglich mit den Staatskanzleichefs der Bundesländer. Er schrieb die Beschlussvorlagen des Bundes, über die dann mit den Ministerpräsidenten verhandelt wurde. Braun ist ein gefragter Mann: Das Interview mit t-online.de dauert eine Stunde, in dieser Zeit verpasst er insgesamt 17 Anrufe auf seinem Smartphone. Ein Gespräch über Datenschutz, das Risiko eines zweiten Lockdowns und die Frage, für wen die Corona-App von besonderem Interesse ist.
t-online.de: Herr Braun, nach der wochenlangen Kontaktsperre werden die Ausgangsbeschränkungen in Deutschland zunehmend gelockert, trotzdem bleiben die Infektionszahlen nahezu stabil. Nun kommt Kritik am Kurs der Bundesregierung auf. Der Virologe Hendrik Streeck sagt, Deutschland sei "zu schnell in den Lockdown gegangen" und habe dadurch Schaden angerichtet. Hat er recht?
Helge Braun: Ich finde, wir haben die Maßnahmen wie die Kontaktbeschränkungen zum richtigen Zeitpunkt eingeführt. Die Zahlen sind jetzt so niedrig, weil wir am Anfang schnell gegengesteuert haben. Im März breitete sich die Pandemie in unglaublichem Tempo aus, die Verdopplungszahl der Infizierten lag bei drei Tagen, als Bundesregierung mussten wir schnell handeln.
Das öffentliche Leben stand dann wochenlang still, die Schäden für viele Unternehmen, Arbeitnehmer und Selbständige sind riesig.
Trotzdem ist unsere Strategie richtig. Wir haben uns im internationalen Vergleich für einen Mittelweg entschieden: Wir haben Maßnahmen ergriffen, die schärfer waren als beispielsweise in Schweden oder Großbritannien, aber nicht so rigoros wie in Spanien oder Frankreich. Unsere Krankenhäuser wurden nicht überlastet, die Wirtschaft wurde nicht vollständig heruntergefahren. Damit sind wir erfolgreich. Wir Deutschen können stolz darauf sein, wie wir gemeinsam durch diese Krise steuern.
Zu Beginn der Pandemie lag der Fokus vor allem darauf, das Virus einzudämmen. Die negativen Folgen der Kontaktsperre wurden dagegen wenig beachtet: die Vereinsamung vieler Menschen, häusliche Gewalt, die Leiden von Menschen mit lebensbedrohlichen Krankheiten, die aus Angst nicht zum Arzt gingen, die wirtschaftlichen Schäden. War das ein Fehler?
Wenn die Bevölkerung, so wie zu Beginn der Corona-Krise, zutiefst verunsichert ist, weil die Todeszahlen weltweit stark ansteigen, dann ist es das Ziel zunächst, die Pandemie einzudämmen. Das haben wir gemacht. Gleichzeitig haben wir frühzeitig Maßnahmen verabschiedet, um den von Ihnen angesprochenen Probleme ebenfalls zu begegnen. Dass das in der Pandemie-Bekämpfung nicht alles perfekt ist, mag sein. Den Vorwurf, wir würden angeblich sorglos mit der Wirtschaft umgehen, weise ich aber zurück: Ich halte es für einen großen Irrglauben, dass man einige Tote mehr in Kauf nehmen kann, um die wirtschaftlichen Folgen dadurch abzumildern. Das wäre zynisch und ist auch falsch. Nur wenn die Bürger nicht durch einen fortdauernden Gesundheitsnotstand verunsichert sind, kann sich auch die Wirtschaft schnell erholen.
Können Sie ausschließen, dass es ein zweites Mal zu strikten bundesweiten Ausgangsbeschränkungen kommt?
In einer Pandemie lässt sich nichts ausschließen. Doch die Summe der Maßnahmen stimmt mich optimistisch, dass wir das vermeiden können. Es setzt aber die Bereitschaft der Bevölkerung voraus, weiterhin vorsichtig zu sein. Ein zentrales Instrument, um einen zweiten Lockdown zu verhindern und die Pandemie weiter einzudämmen, ist die Corona-App, die wir heute vorstellen.
Angekündigt war die App für Mitte April. Dann sagte Gesundheitsminister Spahn am 17. April, sie würde in zwei, eher vier Wochen fertig. Nun ist es sogar Mitte Juni geworden. Warum hat die Entwicklung so lang gedauert?
So eine App entwickelt man nicht innerhalb von wenigen Tagen. Die Apps in anderen Staaten, die bereits verfügbar sind, entladen beispielsweise den Akku der Smartphones sehr schnell. Das wollten wir verhindern, und das hat Zeit gekostet. Zudem mussten wir umsteuern: Wir hatten zunächst eine zentrale Sammlung der Daten geplant, doch nun werden die Daten dezentral, also nur auf jedem einzelnen Smartphone gespeichert. Bei diesem dezentralen Ansatz tauschen die Smartphones lediglich einen digitalen Schlüssel-Code aus. Sie können sich das wie ein digitales Nummernschild vorstellen.
Ihr Kurswechsel erfolgte auf Druck der Öffentlichkeit und der Konzerne Apple und Google, die eine zentrale Datenspeicherung ablehnten. Dieser hohe Datenschutz bringt auch Nachteile mit sich: Im Fall einer Infektion können die Daten nicht auf einem Server verarbeitet werden, um das Infektionsrisiko zu berechnen. Das macht es für die Behörden deutlich schwieriger, die Ausbreitungswege des Virus nachzuverfolgen.
Die größte Maxime bei der App war, dass am Ende möglichst viele Menschen der App vertrauen und sie sich aufs Smartphone laden und nutzen. Das höchste Sicherheits- und Datenschutzniveau bietet nur der dezentrale Ansatz, davon haben wir uns als Bundesregierung überzeugen lassen. Und ja, Sie haben recht: Jetzt kann der Algorithmus nicht in Echtzeit lernen, weil die dafür vorhergesehen Daten fehlen, und wir können keine epidemiologischen Untersuchungen mit dem Modell anstellen. Doch auch dafür haben wir perspektivisch eine Lösung im Blick.
Welche?
Wir wollen im zweiten Schritt eine anonyme Datenspende in der App einführen, sodass Nutzer – vollkommen freiwillig! – ihre Daten dem Robert Koch-Institut übermitteln können. Wenn man dabei nicht mitmachen möchte, kann man die App dennoch vollumfänglich nutzen. Diese App ist so sicher, wie sie nur sein kann.
Verstehen Sie dennoch jene Menschen, die das Gefühl haben, der Staat wolle sie jetzt auf ihrem Smartphone überwachen?
Nein, ehrlich gesagt nicht. Denn die Daten liegen ja nur auf dem eigenen Handy und sind anonymisiert, außerdem haben wir sogar den Quellcode offengelegt! Den kann sich jeder im Internet anschauen – viele Anregungen haben wir eingebaut und jetzt gibt es praktisch keine Kritik mehr daran. Mit Verlaub: Ein höheres Maß an Transparenz kann man kaum leisten, insofern hoffe ich, dass auch die Zweifler die App irgendwann nutzen werden.
Forscher der Universität Oxford haben berechnet, dass etwa 60 Prozent der jugendlichen und erwachsenen Menschen eines Landes eine Corona-App installieren müssen, damit die Pandemie gestoppt werden kann. Laut ARD-Deutschlandtrend sind aber nur 42 Prozent der Deutschen bereit dazu. Lohnt sich die App dann überhaupt?
Jeder, der die App nutzt, trägt zu ihrem Erfolg bei. Das ergibt sich auch aus der Oxford-Studie. Bei uns steht die App aber nicht für sich alleine, sondern sie ergänzt die Hygiene- und Kontaktregeln sowie die Maskenpflicht, die unbedingt weiter eingehalten werden müssen. Die Frage ist weniger, wie viele Menschen die App nutzen, sondern ob es vor allen Dingen die richtigen tun.
Wer sind denn die richtigen?
Menschen, die ständig viel unterwegs sind. Beispielsweise jene, die sich häufig in Straßenbahnen, Bussen oder Zügen aufhalten, dort, wo man schnell mit vielen verschiedenen Menschen in Kontakt kommt. Und wo man sonst nicht benachrichtigt wird, wenn ein anderer, mit dem man Kontakt hatte, sich infiziert hat. Einfach weil man sich gegenseitig nicht kennt. Damit diese Leute die App nutzen, werden wir versuchen, so viele wie möglich von einem Download zu überzeugen.
- Verbraucherschutz-Chef im Interview: "Ich warne davor, dass Geschäfte die Freiwilligkeit der App faktisch aushöhlen"
Dafür startet die Bundesregierung eine deutschlandweite Werbekampagne.
Ja, denn es wäre inkonsequent, die App zu ihrem Start kommentarlos im App-Store auftauchen zu lassen. Wir müssen die Menschen informieren, wie die App funktioniert, wir müssen erklären, dass ihre Daten sicher sind und die Nutzer anonym bleiben. Das geht nur mit einer großen Informationskampagne.
Dadurch entsteht aber auch ein großer sozialer Druck, die App zu installieren.
Das mag man so wahrnehmen, doch klar ist: Es gibt keinen Zwang, die App zu installieren. Ein Gesetz, das die Deutschen zum Download der Corona-App zwingt, schließe ich ausdrücklich aus. Wir werden beim freiwilligen Modell bleiben.
Die formale Freiwilligkeit könnte jedoch durch indirekten Zwang ausgehebelt werden: In anderen Ländern darf man beispielsweise Geschäfte und Restaurants nur dann betreten, wenn man am Eingang die Corona-App vorzeigt. Kann das so auch in Deutschland kommen?
Das ergibt in meinen Augen keinen Sinn. Sehen Sie: Allein die Installation der App ist doch überhaupt nicht aussagekräftig, denn nur Sie selbst wissen, ob Sie Ihr Handy immer mit sich führen oder nicht. Entscheidend ist, ob die Kontaktverfolgung aktiviert ist und ob Sie Ihr Smartphone immer dabeihaben, wenn Sie das Haus verlassen. Die App ist nur ein wirksames Instrument, wenn man sie selbst konsequent nutzt, und sie informiert dann auch nur mich, ob ich in einer Risikosituation war. Daher eignet sie sich nicht zur Kontrolle durch Dritte, und wir haben auch deutlich gesagt, dass die App komplett freiwillig sein soll und die Installation der App von niemandem zur Bedingung für Einlass oder Nutzung gemacht werden darf. Für den Nutzer soll die App nur Vorteile bringen, insbesondere die Möglichkeit, wenn die App ihm ein hohes Risiko bescheinigt, schnell auf Corona getestet zu werden und das Ergebnis schnell zu erfahren.
Allerdings könnte die App dazu führen, dass Menschen sich in falscher Sicherheit wiegen und sorgloser mit den Kontaktbeschränkungen umgehen.
Auch das kann ich nicht ausschließen. Doch ich zähle auf die Mündigkeit unserer Mitbürger: Jeder weiß, was die App kann und was nicht. Sie informiert mich über mein Risiko, aber sie kann es nicht reduzieren. Das kann ich nur mit Abstand und Hygiene. Bei der eingeführten Maskenpflicht gab es auch die Sorge, dass der Großteil der Menschen aus falschem Sicherheitsgefühl auf alle Abstandsregeln verzichtet. Das war aber nicht der Fall.
Wenn jemand von der App eine Warnung erhält, soll er sich sofort auf Covid-19 testen lassen. Zu Beginn der Pandemie standen aber zu wenig Corona-Tests zu Verfügung. Gegenwärtig gibt es genügend Tests, aber bleibt das auch so, falls es viele weitere Ausbrüche wie zum Beispiel in Göttingen gibt?
Ja, denn große Testkapazitäten sind sichergestellt, mittlerweile können wir deutlich mehr potenziell Infizierte testen.
Herr Braun, als Chef des Bundeskanzleramts und einer der engsten Vertrauten von Bundeskanzlerin Angela Merkel arbeiten Sie nun seit mehr als drei Monaten an der Corona-Front und koordinieren rund um die Uhr die Regierungspolitik in der Krise. Wie geht es Ihnen dabei?
Ganz ehrlich: Der Berg an Arbeit war und ist sehr groß. Erst kamen die Ausgangsbeschränkungen, dann mussten wir medizinische Schutzausrüstung besorgen, Wirtschaftshilfen und das Konjunkturpaket verhandeln und organisieren, zugleich die Arbeit an der Corona-App. Und die normalen Aufgaben der Bundesregierung ruhen auch nicht! Aber wenn wir in Deutschland besser durch die Pandemie kommen als in anderen Ländern und wenn ich meinen beruflichen Hintergrund als Arzt mit dem Amt, das ich bekleiden darf, so sinnstiftend miteinander verbinden kann, das motiviert mich sehr.
Herr Braun, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Helge Braun in einer Video-Konferenz