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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verunsicherte FDP Jetzt werden sie nervös
Die FDP hadert an Tag drei nach der Abstimmung über den Unionsantrag zur Migrationsbegrenzung mit dem Bild, das sie abgegeben hat. Plötzlich scheinen selbst lange vergessene Flügelkämpfe wieder möglich.
Wolfgang Kubicki schäumte vor Wut. Jedenfalls lässt sich das, was er am Freitagabend laut "Stern" in einem internen Chat der FDP-Bundestagsabgeordneten schrieb, kaum anders interpretieren: "Wir verlieren gerade den gewaltigen Move von heute Nachmittag. Sehr schade." Und weiter: "Ich räume schon mal mein Büro auf." Womit er wohl so viel meinte wie: Das war's, jetzt ist der Wahlkampf gelaufen, die Operation Wiedereinzug in den Bundestag gescheitert.
Drei Wochen vor der Bundestagswahl werden sie bei der FDP merklich nervös. Und einige justieren schon mal die Zielfernrohre für das, was am Tag nach der Wahl droht: der Macht- und Richtungskampf zwischen jenen, die eine klar wirtschaftsliberale FDP mit eher konservativem Anstrich wollen, und denen, die für einen "ganzheitlichen" Liberalismus stehen, der neben der Wirtschaftspolitik auch gesellschaftspolitische und soziale Themen nach vorn stellen will.
Lange wirkte es, als seien diese beiden Ansätze in der FDP gar kein echter Widerspruch mehr. Die einstige Flügellogik, bei der sich die Anhänger der sozialliberalen Freiburger Schule und die des einflussreichen ordoliberalen Schaumburger Kreises gegenüberstanden, spielte keine allzu große Rolle mehr.
Abstimmung mit der AfD führt zum Knall
Ein Grund dafür: Besonders die Jungen in Partei und Fraktion, so sagen es viele, verstünden sich längst nicht mehr als "Bindestrich-Liberale", die entweder wirtschafts- oder sozialliberal seien, sondern stattdessen beides sein wollen. Hinzu kam zuletzt: In Zeiten einer schwachen Wirtschaft trommelten in der Partei alle für die ordoliberalen Lehrbuchgrundsätze "weniger Staat" und "Steuern runter", auch die mit einem eher "ganzheitlichen" Profil. Es herrschte Geschlossenheit, Ruhe – und Parteichef Christian Lindner, der innerhalb der FDP weitgehend noch immer Messias-Status besitzt, ließ man machen. Wird schon noch, ausgezählt wird am 23. Februar.
Jetzt jedoch, angesichts des Dauertiefs in den Umfragen – die FDP steht seit Wochen bei nur vier Prozent, wäre damit im nächsten Bundestag nicht mehr vertreten – scheint die Zeit des Burgfriedens vorbei. Auslöser für den jüngsten Knall, zu dem sich Kubicki so erbost äußerte: die Abstimmungen über die Unionsanträge und das "Zustrombegrenzungsgesetz" im Bundestag vergangene Woche, über deren Ausgang sich auch Kubicki so bitterlich beschwerte.
Denn obwohl die FDP angekündigt hatte, bei beiden Vorstößen der Union mitzustimmen und so ebenfalls eine Mehrheit mit der AfD in Kauf zu nehmen, scherten etliche Abgeordnete aus. Sie erschienen entweder nicht zur Abstimmung, enthielten sich oder stimmten gar mit Nein. Am Mittwoch beim Antrag für eine neue Migrationspolitik waren es bereits zehn der 90 Abgeordneten, am Freitag, als es um das Weniger-Migration-Gesetz ging, gab es sogar 23 Abweichler – obwohl es sich in beiden Fällen nicht um eine zur Abstimmung freigegebene ethische Gewissensfrage handelte, sondern um einen Parlamentsvorgang mit klassischem Fraktionszwang.
Viel Prominenz im Lager der Abweichler
Auffällig dabei: Unter den Abweichlern waren mehrere Promis der Fraktion, unter anderem drei Stellvertreter von Fraktionschef Christian Dürr. Neben Carina Konrad, die sich enthielt, blieben sowohl Konstantin Kuhle als auch Lukas Köhler der namentlichen Abstimmung fern, obwohl sie zuvor noch im Reichstag gesichtet worden waren. Und auch Johannes Vogel, einflussreicher Partei-Vizechef und als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer fast ironischerweise zuständig fürs Einpeitschen der eigenen Leute, fürs Organisieren von Anwesenheiten und Mehrheiten, tauchte zur Stimmabgabe nicht auf.
Die drei letztgenannten zählen viele in der Partei zum Lager der jüngeren Generation, die die FDP nicht auf Wirtschaftspolitik allein verengen wollen, sondern auch andere Themen stärker mitdenken und bespielen. Manche in der Partei sagen darum fast verächtlich über sie: Sowohl Vogel als auch Kuhle, die immer wieder als potenzielle Parteichefs gehandelt werden für eine Zeit nach Christian Lindner, stehen für einen eher "linken" Kurs.
War ihr Abstimmungsverhalten also eine Art Aufstand gegen den Parteiboss und gegen den Fraktionschef? Von außen betrachtet ließe sich das so sehen. Und auch Kubickis frustrierte Chatnachrichten legen eine solche Interpretation nahe.
Er schrieb außerdem an die übrigen Abgeordneten: "Ich schlage vor, dass jetzt Marie-Agnes, Franziska Brandmann, Johannes Vogel und Konstantin Kuhle die Wahlkampfführung übernehmen." Brandmann ist die Chefin der Jungen Liberalen, Marie-Agnes Strack-Zimmermann sitzt inzwischen im Europaparlament, hatte sich bei einer gemeinsamen Sitzung von Bundesvorstand und Fraktion ebenfalls zu Wort gemeldet und eine Abstimmung Seit' an Seit' mit der AfD kritisiert.
Bricht der alte Flügelstreit auf?
Es wäre die Rückkehr der einstigen Dolchstoßpartei, die nach bald zwölf Jahren unter Parteichef Lindner schon fast in Vergessenheit geraten ist. Demnach könnte es in der FDP in den nächsten Wochen, spätestens aber im Worst-Case-Szenario, wenn die Partei tatsächlich an der Fünfprozenthürde scheitert, hoch hergehen – der alte Flügelstreit wieder aufbrechen.
Doch es muss nicht zwangsläufig so weit kommen. Denn zugleich weisen andere in Partei und Fraktion darauf hin, dass ungeachtet der Fraktionsprominenz unter den Abweichlern eben auch eine ganze Reihe von Abwesenden waren, die unverdächtig sind, eine Palastrevolution anzuzetteln.
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Generalsekretär Marco Buschmann etwa. Er ist einer der engsten und loyalsten Mitstreiter von Lindner, noch am Mittwoch hatte er beim Unionsantrag mit Ja gestimmt, Freitag konnte er krankheitsbedingt nicht vor Ort sein. Oder auch Abgeordnete wie der Haushaltspolitiker Karsten Klein, der nach t-online-Informationen im Wahlkreis gebunden war. Wären sie und andere da gewesen, hätte die Fraktion auch trotz einiger Abweichler ein ganz anderes Bild abgegeben.
Dürr plante eleganten Schachzug
Bitter ist all das für Fraktionschef Christian Dürr. Über ihn verliert zwar keiner ein böses Wort, im Gegenteil: Sein Vorschlag, das umstrittene Gesetz nicht abzustimmen, sondern in den Ausschuss zurückzuschicken, halten weiterhin viele Liberale auch jetzt noch für einen eleganten Zug.
Dürr war es somit, der den Liberalen am Freitag für einen halben Tag so etwas wie ein Vorderhand-Momentum verlieh. Er – und mit ihm die Fraktion insgesamt – hätte als großer Gewinner vom Platz gehen können. Als derjenige, der die Parteien der demokratischen Mitte zueinanderbringt, indem er die Zustimmung zum Unionsgesetz durch SPD und Grüne durch FDP-Stimmen fürs Gesetz zur Europäischen Asylpolitik GEAS ausgehandelt hätte. Ein Kompromiss, verdienst- und effektvoll zugleich. Jetzt jedoch, nachdem der Streit im eigenen Laden ausgebrochen ist, wirkt auch Dürr angeschlagen.
Und Christian Lindner? Der versucht ungeachtet der Götterdämmerung, die sich möglicherweise schon jetzt abzeichnet, die Aufregung zu dämpfen. Laut "Stern" schlug er ebenfalls per Chatnachricht hinein in die Partei einen moderierenden Ton an, zeigte Verständnis sowohl für die Enttäuschten als auch für die Abweichler, die "frei in ihren Entscheidungen seien". Sein Appell: "Jetzt sollten wir uns in die Deutungsschlacht einschalten. Ich gebe jedenfalls nicht auf. Jeden Tag gibt es eine neue Chance."
- Eigene Recherche