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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Polizei vollstreckt Haftbefehle nicht So viele Extremisten laufen in Deutschland frei herum
Eine Zahl macht Schlagzeilen: 467 per Haftbefehl gesuchte Rechtsextreme sind untergetaucht. t-online.de hat die Zahlen auch für andere Extremisten recherchiert.
In Deutschland ist die Zahl gesuchter Rechtsextremer und Islamisten leicht gesunken und die Zahl gesuchter Linksextremer leicht gestiegen. Das geht aus neuen Zahlen hervor, die das Bundesinnenministerium auf Anfrage von t-online.de vorgelegt hat. Extremisten machen aber nur einen Bruchteil der Menschen aus, die in Deutschland zur Festnahme ausgeschrieben sind.
Mehr als 180.000 Haftbefehle offen
Insgesamt gibt es in Deutschland mehr als 180.000 Menschen, gegen die mindestens ein Haftbefehl besteht. Das geht aus einer Auswertung des BKA zum 28. September hervor, wie das Bundesinnenministerium t-online.de mitteilte. Diese Zahl ist seit dem März um rund 5.000 und gegenüber März 2017 um fast 20.000 gestiegen. Darunter sind Mörder und Vergewaltiger, aber nach Einschätzung von Fachleuten größtenteils Menschen, die Geldstrafen nicht bezahlt haben.
Am Dienstag hatte die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke öffentlich gemacht, dass 467 Neonazis auf freiem Fuß sind, obwohl ein Haftbefehl gegen sie besteht. Die Sicherheitsbehörden müssten sich "endlich einmal etwas einfallen lassen, um der flüchtigen Nazis schneller habhaft zu werden", kritisierte sie. Bei den mit Haftbefehl gesuchten Rechtsextremen geht es zum Teil aber auch um Erzwingungshaft nach Ordnungswidrigkeiten.
Wie viele offene Haftbefehle gibt es insgesamt?
180.000 Männer und Frauen sind auf freiem Fuß, die von deutschen Behörden zur Festnahme ausgeschrieben sind: Das bedeutet einen weiteren Anstieg. Im März 2018 waren es noch 175.000, im März 2017 etwas mehr als 161.000, im März 2015 dann 142.000. Vor zehn Jahren lag die Zahl mit 186.000 noch höher als aktuell.
Diese Personen sollten entweder ihre Gefängnisstrafe (wieder) antreten, in Untersuchungshaft untergebracht oder nach Straftaten ausgewiesen werden. Ein Großteil der Haftbefehle entfällt auf Ersatzfreiheitsstrafen: Straftäter haben Geldstrafen für kleinere Vergehen nicht bezahlt und sollen ersatzweise ins Gefängnis, erscheinen aber nicht zum Haftantritt. Die Polizei investiert oft auch wenig Aufwand, solche Personen zu suchen.
Die Sicherheitsexpertin der Grünen Irene Mihalic fürchtet jedoch, dass "eine hohe Zahl von Haftbefehlen wegen schwerer Delikte lange Zeit nicht vollstreckt werden kann". Das sei dann "erst mal kein gutes Zeugnis für die Arbeit der Innenminister. Ich frage ich mich schon, ob im Bund überhaupt der Versuch gemacht wurde, da gegenzusteuern, da der Zustand anzuhalten scheint." Eine Auswertung der "Zeit" ergab, dass Berlin und Bayern gemessen an ihrer Einwohnerzahl die schlechtesten Quoten offener Haftbefehle haben.
Worum geht es bei den Rechtsextremen?
605 offene Haftbefehle gab es Ende September gegen 467 mutmaßliche Rechtsextreme. Darunter waren Personen, die wegen Mordes gesucht werden, in einem Fall auch wegen eines politisch motivierten Mordes. 108 Personen wird ein politisch motiviertes Delikt vorgeworfen, 110 gelten als gewalttätig und 99 Personen wurden wegen eines Gewaltdelikts gesucht.
Nach Zahlen aus dem März galten 15 verschwundene Rechtsextreme als "relevante Personen". Das heißt, sie werden als Führungsköpfe der Szene oder Unterstützer eingeschätzt, denen schwere Straftaten zuzutrauen sind. Als Terrorist mit höchster Priorität wurde nach keinem untergetauchten Rechtsextremisten gesucht.
Leben die gesuchten Rechtsextremen im Untergrund?
Bei dem Großteil ist davon nicht auszugehen. Nach Zahlen aus dem März gibt es zwar mehr als 100 Rechtsextreme, die mindestens seit 2016 gesucht werden. Linken-Abgeordnete Jepke nennt es deshalb auch "beunruhigend, dass es einer dreistelligen Zahl von Neonazis gelingt", sich so lange der Festnahme zu entziehen." Bei 32 gesuchten Rechtsextremisten gibt es aber laut Bundesregierung Erkenntnisse, dass sie im Ausland leben.
Und 333 Haftbefehle von 594, die noch im März offen waren, bestehen nicht mehr. Zum Teil haben die Gesuchten offene Geldstrafen bezahlt, zum Teil wurden sie gefasst, zum Teil erschienen sie bei der Polizei. Extreme aus dem rechten Spektrum leben im Schnitt am kürzesten unbehelligt mit einem Haftbefehl: 156 Tage waren es im März, wie die "Zeit" vorrechnete.
Wie viele Linksextreme werden gesucht?
Ende September waren 153 Haftbefehle gegen 116 Personen offen. Das bedeutet einen leichten Anstieg gegenüber März (144). Darunter ist auch ein mutmaßlicher Mörder, dessen Haftbefehl sich seit 1984 in den Informationssystemen der Polizei findet.
Drei mit Haftbefehl gesuchte Linksextreme galten im März als "relevante Personen" – ihnen sind schwere Straftaten zuzutrauen. Nach 30 Prozent der Gesuchten wird wegen politisch motivierter Kriminalität gesucht, ähnlich hoch ist der Anteil derer, die gewalttätig waren.
Wie viele Islamisten werden gesucht?
Auf sie fällt die größte Zahl offener Haftbefehle. Die Zahl sagt aber zugleich am wenigsten aus: Zum 28. September gab es 3992 offene Haftbefehle für Personen, bei denen eine extreme religiöse Ideologie vermutet wird. Der allergrößte Teil betrifft jedoch internationale Haftbefehle anderer Staaten für jihadistische Kämpfer.
Hier gibt es in der Regel keine konkreten Hinweise, dass sie sich in Deutschland aufhalten. Konkret werden von deutschen Behörden 356 radikale Islamisten mit Haftbefehlen gesucht. Das sind zwölf Gesuchte weniger als im März. Damals galten 151 als Gefährder. Bei Islamisten ist der Anteil derer, die tatsächlich auch wegen politisch motivierter Kriminalität gesucht wird, mit fast 60 Prozent am höchsten. Gewaltdelikte machten 29 Prozent der Fahndungen aus.
Wie ist die Situation bei ausländischen Extremisten und Spionen?
191 nicht vollstreckte Haftbefehle gab es Stand Ende März wegen extremistischer ausländischer Ideologie. Die Zahl ist gestiegen auf 203, dabei geht es um 146 Personen. Meist dreht es sich um mutmaßliche PKK-Unterstützer. Ein Drittel wird wegen Gewaltdelikten gesucht, ein Viertel, weil es um politisch motivierte Kriminalität geht. Bei Spionage und Geheimnisverrat gibt es 18 offene Haftbefehle, mit denen nach zwölf Personen gesucht wird. Hier bestehen die offenen Haftbefehle durchschnittlich schon mehrere Jahre.
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Gibt es gesonderte Suchen nach gesuchten Extremisten?
Ja. Wenn einer gesuchte extremistischen Person länger als ein halbes Jahr verschwunden ist, kann das BKA den Fall auch im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ-R) vorlegen. Seit Ende März sprachen die Experten der verschiedenen Sicherheitsdienste dort über 78 mit offenem Haftbefehl gesuchte Personen. Aus Sicht der Bundesregierung hat sich das bewährt, weil "fahndungsrelevante Informationen ausgetauscht werden konnten, die eine positive Auswirkung auf die Fahndungsmaßnahmen hatten". Aber auch bei besonders gefährlich eingeschätzten Kriminellen aus anderen Bereichen reagiert die Polizei anders: Da werden Zielfahnder eingesetzt.
Gehen Rückgänge auf Fahndungserfolge zurück?
Das lässt sich so nicht sagen: Manche stellen sich, manche zahlen doch noch Geldstrafen. Das wird in der Statistik nicht gesondert erfasst. Zum Teil fallen Personen auch aus der Statistik gesuchter Extremisten heraus, weil sie von Experten nicht mehr als politisch motivierte Straftäter eingestuft werden. Seit März war das bei 27 Personen der Fall, die zuvor als Rechtsextreme galten. Außerdem darf Personen nicht zeitlich unbegrenzt ein solches Etikett angehängt werden, es gibt Speicherfristen.
Was verrät die Zahl offener Strafbefehle nicht?
Es gibt bei der Zahl der bundesweiten Haftbefehle keine Auswertung, weshalb sie Haftbefehle bestehen. 80 Prozent könnten wegen nicht bezahlter Geldstrafen offen sein, schätzte die "Zeit". Das erklärt aber nicht die Anstiege bei der Bundespolizei, wo Grenzschleuser zu einem Anstieg geführt haben dürften. Die Statistik gibt auch nicht her, wie unterschiedlich stark einzelne Gruppen sich der Haft entziehen.
Die Grünen fragten etwa schon mehrfach, wie viele gesuchte Mitglieder der italienischen Mafia frei herumlaufen. Es gibt keine Statistik dazu, erklärte die Bundesregierung. Auch zu arabischen Clanmitgliedern gibt es eine solche Zahl nicht. Reichsbürger wurden bisher auch nicht gesondert aufgeführt. In den polizeilichen Gremien ist aber laut Bundesinnenministerium beschlossen worden, sie künftig zu kennzeichnen.
Gibt es noch weitere Fahndungen?
Deutsche Behörden suchen auch nach Personen, die nach dem Asyl- oder Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben. Die "Welt am Sonntag" berichtete, dass es am Jahresende 2017 insgesamt 126.327 solcher Fahndungsausschreibungen gab, weil Ausländer abgeschoben, ausgewiesen oder zurückgeschoben werden sollen.
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Es wird davon ausgegangen, dass davon ein erheblicher Teil nicht mehr in Deutschland lebt. In den Informationssystemen der Sicherheitsdienste sind zudem knapp 40.000 Festnahme-Ersuchen aus dem Schengener Informationssystem, das der EU-weiten Fahndung über Ländergrenzen hinweg dient. 5.670 davon sind von deutschen Stellen.